Von Ole Steen
Das Engagement gegen Antisemitismus ist eine große gesellschaftliche Herausforderung. Ein wichtiges Element dabei war und ist die Arbeit mit ZeitzeugInnen. Doch 72 Jahre nach Ende des Holocausts wird es immer schwieriger, noch Zeitzeugen zu finden, die aus dem eigenen Erleben berichten können. Wie gehen Gruppen und Institutionen mit diesem Thema um? Welche weiteren Herausforderungen gibt es? Wir haben uns bei Aktiven der Erinnerungsarbeit in Dortmund umgehört.
Das Problem der immer älter werdenden Zeitzeugen gibt es auch für Dortmunder Organisationen
Die Arbeitsstelle „Zukunft braucht Erinnerung“ des Jugendrings Dortmund begleitet junge Menschen bei der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, weshalb die Arbeit mit Zeitzeugen einen wichtigen Teil der Arbeit darstellt. Dafür lädt die Arbeitsstelle Jugendliche zu Gedenkstättenfahrten oder ähnlichen Veranstaltungen ein, wo viele Jugendliche noch mit Zeitzeugen in Kontakt kommen, sagt der Leiter der Arbeitsstelle Andreas Roshol.
Zudem werden Jugendliche als „Botschafter der Erinnerung“ ausgezeichnet und geben dann ihre Erfahrungen an Gleichaltrige weiter. Außerdem arbeitet der Jugendring mit Schulen zusammen und begleitet Projektgruppen dieser bei Gedenkstättenfahrten. Sogar Grundschulkinder werden auf diese Weise an Zeitzeugen herangeführt.
Eine weitere Arbeitsweise des Jugendrings ist es, die biografischen Hintergründe von Holocaust-Opfern herauszuarbeiten. Beispielsweise begleitete der Jugendring eine Projektgruppe des Goethe-Gymnasiums dabei, die Vergangenheit ihrer Schule aufzuarbeiten.
Denn das Goethe-Gymnasium war früher eine Mädchenschule mit vielen jüdischen Schülerinnen, deren Daten jedoch aus den Archiven gelöscht wurden. So sollten die Schülerinnen aus der Vergessenheit geholt werden und dieser Teil der Geschichte auch ohne Zeitzeugen aufgearbeitet werden.
Geschichte soll durch die Berichte der ZeitzeugInnen erlebbar gemacht werden
Auch das Internationale Bildungs- und Begegnungswerk (IBB) in Dortmund veranstaltet Gedenkstättenfahrten. Es wird zwar zunehmend schwieriger ZeitzeugInnen zu finden, jedoch könnten noch immer etwa 95 Prozent der Fahrten von ihnen begleitet werden, erklärt Agate Gzenia, die für die Fahrten nach Auschwitz zuständig ist.
Zudem könnten ZeitzeugInnen aus der sogenannten zweiten Generation von den Erfahrungen ihrer Eltern berichten. Das IBB bemühe sich um solche Zeugen der zweiten Generation, da der Begegnungscharakter beibehalten werden soll.
Videos von Zeitzeugen könnten dies nicht vergleichbar ersetzen. Man wolle Menschen, egal welchen Alters, an Orte führen, wo Geschichte erlebbar wird, da ganz andere Eindrücke vermittelt werden könnten als nur durch Geschichtsbücher.
David Lüllemann und seine Mitstreiter haben dieses Dilemma aufgegriffen und die Organisation „Zeugen der Zeitzeugen“ gegründet. Sie wollen die Erfahrungen von Zeitzeugen an die jüngeren Generationen weitergeben und veranstalten dafür Austauschreisen zwischen Deutschland und Israel sowie Gedenkstättenreisen.
Leslie Schwartz und Pnina Kaufmann stellten sich den Fragen der Seminars-Teilnehmer
Lüllemann stellte „Zeugen der Zeitzeugen“ beim Antisemitismus-Seminar an der TU Dortmund (Montag, 17. Juli 2017) vor.
Beim Antisemitismus-Seminar waren auch die beiden Zeitzeugen Leslie Schwartz (Jg. 1930) und Pnina Kaufmann (Jg. 1946) auf der Bühne: Zuerst im Einzelgespräch mit der Moderatorin Hannah Schmidt und danach zusammen mit David Lüllemann in einer offenen Diskussion mit dem Publikum.
Schwartz wurde 1944 mit seiner Familie nach Auschwitz deportiert und floh nach nur zehn Tagen ins Arbeitslager Dachau. Nach dem Krieg zog er zu seinem Onkel in die USA und lebt heutzutage in New York.
Kaufmann dagegen stammt aus der sogenannten zweiten Generation, da ihre Eltern beide das KZ Auschwitz überlebten. Sie beschrieb ihre Kindheit als „ein KZ ohne Stacheldraht“, denn ihre Eltern hätten die Erfahrungen des Holocaust nicht hinter sich lassen können.
Beide bezogen auch zum Thema Antisemitismus Stellung: Kaufmann lebte als Kind in Polen und habe in dem katholischen Land vor allem einen religiösen Antisemitismus erlebt. Sowohl Schwartz als auch Kaufmann waren der Meinung, dass Antisemitismus durch Neid auf die Juden entstehe. Zudem seien diese als Jahrhundertelang bedeutendste Minderheit in Europa oft ein Sündenbock gewesen.
Steinwache setzt auf Originalaussagen statt auf Schilderungen aus zweiter Hand
Auch für die Ausstellung in der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache ist Erinnerungsarbeit ein wichtiger Aspekt. Dabei sei jedoch die Begegnung mit Zeitzeugen kaum noch ein Thema, da die meisten Zeitzeugen des Holocaust entweder bereits Tod seien, oder zu der Zeit nur Kinder waren, erklärt Markus Günnewig, Leiter der Steinwache.
In dem alten Dortmunder Polizeigefängnis wurden während des Nationalsozialismus mehr als 66.000 Menschen festgehalten und vielfach vor allem durch die Gestapo misshandelt. Seit 1992 ist dort die ständige Ausstellung „Widerstand und Verfolgung in Dortmund 1933-1945“ zu sehen. Sie wird aktuell neu konzeptioniert.
Man arbeite vor allem mit älteren Video-Interviews von Zeitzeugen, weniger aber mit Mitgliedern der zweiten Generation. Diese seien aufgrund der „Multiplizierung der Subjektiv-Erinnerung“ nicht zuverlässig genug. Trotzdem sei die Arbeit mit Zeitzeugen, sofern sie noch möglich ist, ein wichtiger Teil der Bildungsarbeit, so Günnewig.
Bildung und Erinnerungsarbeit sind die beste Prävention
Schwartz und Kaufmann waren sich daher einig, dass der Holocaust sich nicht wiederholen könnte. Die heutige Jugend sei deutlich gebildeter als zur Zeit des Nationalsozialismus und wisse, dass man mit Verstand mehr erreicht als mit Gewalt.
Jedoch findet in der Gesellschaft noch zu wenig Aufarbeitung des Holocaust statt, sagt Lüllemann. Kaufmann betonte zudem, die Familien und die Schule würden eine besondere Bedeutung in der Aufarbeitungsarbeit inne haben, jedoch seien auch Gedenkstättenfahrten wichtig.
Auch der alltägliche Sprachgebrauch kann großen Einfluss auf Antisemitismus haben
Wie beeinflusst alltägliche Sprache den Antisemitismus? Diesem Thema ging Hannah Schmidt in einem der Vorträge während des Seminars nach.
Dafür widmete sie sich der Abhandlung LTI – Notizbuch eines Philologen (Lingua Tertii Imperii: Sprache des Dritten Reiches) des deutschen Romanisten und Politikers Victor Klemperer (*1881 †1960) sowie der Theorie des „Politischen Framings“ der Sprach- und Kognitionswissenschaftlerin Elisabeth Wehling.
Klemperer untersuchte die Sprache zur Zeit des Nationalsozialismus. Er kam zu dem Schluss, dass die andauernde Wiederholung behafteter Begriffe viel mehr Einfluss auf die Menschen hatte als einzelne Reden oder Flugblätter.
Wenn Begriffe wie „Mischling“, „Rasse“, „parasitär“ oder „nichtarisch“ im allgemeinen Sprachgebrauch häufig vorkämen, würden sich diese und die dahinter liegenden Gedanken in den Köpfen der Menschen festsetzen. Unteranderem dadurch habe sich der Antisemitismus so schnell weit verbreitet.
Elisabeth Wehlings Buch „Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik„ aus dem Jahr 2016 thematisiert dagegen nicht die Sprache aus der Zeit des Nationalsozialismus sondern aus der aktuellen Flüchtlingsthematik. Dabei kommt sie zu einem ähnlichen Schluss wie Klemperer. Sie ordnete verschieden Begriffe in eigene Kategorien, sogenannte „Frames“, ein. Je öfter jemand Begriffe aus diesen Frames wahrnehme, desto selbstverständlicher würden die Frames werden, und sich die Ideen dieser in den Gehirnen festsetzen.
Zwischen den Ergebnissen beider Werke gibt es einige auffällige Überschneidungen. Wehling klassifiziere unteranderem die Frames „Krankheit“ („Schmarotzer“, „Parasit“), „Tiere“ („vermehren sich“, Islamophobie) oder „Anders sein“ („Wir sind nicht Burka“). Auch Klemperer ordnete Begriffe Kategorien zu. Hier gebe es Kategorien wie „Krankheit“ („parasitär“, „Schwarzer Tod“), „Tiere“ („Mischling“, „Rasse“) oder auch zur Abgrenzung der Juden vom Deutschen („nichtarisch“, „mit dem Juden führen wir Krieg“).
Mehr zu dem Thema bei Nordstadtblogger.de:
https://www.nordstadtblogger.de/auschwitz-rohtext/
„Zug der Erinnerung“ erinnert in Dortmund an die ermordeten jüdischen Kinder von Westerbork
Die Mahn- und Gedenkstätte Steinwache soll zu einem modernen Lern- und Erinnerungsort werden