Hans Herzberg: Ein jüdischer Zeitzeuge berichtet über Nazigewalt im November 1938 in der Nordstadt

Das Bündnis gegen rechts hatte eine Tour zu den Stolpersteinen und dem Gedenkstein für Mehmet Kubasik gemacht.
Das Bündnis gegen Rechts hatte eine Tour zu den Stolpersteinen und dem Gedenkstein für Mehmet Kubasik gemacht.

Die Stadtgesellschaft hat an verschiedenen Orten dem 76. Jahrestag der Pogramnacht gedacht. Das Bündnis Dortmund gegen Rechts hat zudem einen Gedenkrundgang zu dem Stolpersteinen der ermordeten Juden und zur Gedenktafel für das NSU-Opfer Mehmet Kubasik gemacht. Sie erinnerten an die früheren und heutigen Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns.

Auszug aus dem Gedenkbuch für die Dortmunder Juden

Anlässlich des Gedenktages veröffentlicht Nordstadtblogger.de den Zeitzeugen-Bericht von  Hans Herzberg über die Ereignisse der Reichspogromnacht in der Münsterstraße und seine Inhaftierung in der Steinwache. Der Text stammt aus dem Gedenkbuch für die Dortmunder Juden, welches das Stadtarchiv im kommenden Jahr vorstellen wird. Für die Bereitstellung des Textes bedanken wir uns.

 

Hans Herzberg berichtet über seine Erlebnisse 1938: 
In der zentralen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem sind die Deportationsgemeinden notiert.
In der zentralen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem sind die Deportationsgemeinden notiert.

Es war die Nacht des 9. November. Ich hatte meine Kleidung in den letzten Nächten nicht abgelegt. Nicht weil ich Angst hatte, sondern, um auf alles vorbereitet zu sein. In den letzten Tagen waren einige prominente Dortmunder Juden verhaftet worden, und, was das schlimmste war, der Gesandte von Rath starb an den Folgen des Attentats. Gegen Mitternacht versammelten sich SA-Leute und Mob in Straßen und Restaurants. Die SA-Leute waren dorthin beordert worden.

Eine große Menge versammelte sich, anti-jüdische Parolen rufend, vor dem Haus Münsterstraße 40, wo ich wohnte. Minuten später klingelte es an der Tür und ungefähr 50 Nazis, die meisten betrunken, einige in SA-Uniform, einige in der Uniform der Hitler-Jugend, standen vor der Tür, mit großen Eisenstangen und anderen Waffen in der Hand.

„Wer bist du“, fragte mich einer der Braunhemden. „Noch so ein jüdischer Bastard? Wir werden es dir schon zeigen.“ Lärmend zwangen sie mich, mich mit den Händen im Nacken an die Wand zu stellen, und einige fanden Spaß daran, mir einige kräftige Schläge ins Gesicht zu versetzen. 

„Ich wurde in der Steinwache wie der schlimmste Kriminelle behandelt“

Die Steinwache in der Nordstadt.
Die Steinwache in der Nordstadt war ein Ort des Schreckens und des Unrechts.

Jedes Mal, wenn ich mich auch nur ein wenig bewegte, trat mir eines dieser Tiere in die Leistengegend oder in die Beine. Ich weiß nicht, ob es vor Aufregung oder vor Angst war, aber ich fühlte die Schläge und Tritte erst einige Stunden später, als mein ganzes Gesicht und der Kopf angeschwollen waren und die Beine bluteten.

Wenige Minuten später trat ein SA-Mann in die Küche und forderte mich auf, alle Bücher im Hauses auszusortieren, die etwas mit Religion oder Politik zu tun haben oder von Juden geschrieben worden waren. Die sogenannten ‚Hüter der Zivilisation“ wollten alle diese Bücher verbrennen, das Feuer hierzu brannte bereits in der Münsterstraße. 

Am nächsten Morgen ging ich mit einem Kameraden durch die Münsterstraße. Ohne dass wir sie bemerkt hätten, traten zwei Männer zu uns hin, einer von links, der andere von rechts. Sie zeigten uns ihren Gestapo-Ausweis und führten uns in eine Seitenstraße. „Ihr seid Juden, nicht wahr? Name? Wo wohnt ihr? Wohnen noch andere Juden unter dieser Adresse?“ Auf mich zeigend, sagten sie: „Du kommst mit.“

Ich war völlig unwissend, was es bedeutet in der Hand der Gestapo zu sein. Unterwegs schnappten meine beiden so genannten Freunde noch einen anderen zerschlagen aussehenden Juden, der mit seiner Tochter vorbei kam. Dem Mädchen wurde gesagt, es solle nach Haue gehen.

Die Deportation von Juden
Die Deportation von Juden

Von da an wurde ich wie der schlimmste Kriminelle behandelt. Zum ersten Mal sah ich ein Gefängnis von innen. Es folgte eine kurze Befragung, Name, Adresse, Beruf, legen Sie Ihr Geld auf den Tisch, außer Kleingeld, legen Sie Gürtel, Hosenträger, Schnürriemen, Krawatte, Uhr, Fotos ab und dann ab in die Zelle. Da war ich hinter Gittern, in Dortmund, in einer Zelle zu klein zum Atmen, mit 15 anderen Männern von 15 bis 70 Jahren.

Was würde mit uns passieren? Würden wir zum Arbeiten irgendwohin geschickt oder in den Sumpf nach Polen? Zum ersten Mal blitzte das Wort Konzentrationslager und die Möglichkeit dorthin gebracht zu werden in uns auf. Ich war nervös und erschreckt.

Um 7 Uhr morgens wurden Hunderte jüdische Männer im Hof der Polizeistation in alphabetischer Ordnung aufgestellt. Wir waren 600, der Jüngste 13, der Älteste 92. Viele waren ärmlich bekleidet, mitten in der Nacht aus den Wohnungen geholt, so wie sie angetroffen wurden, bloß in Hausschuhen, Hemd und Hose. Und es waren sehr kalte Novembernächte. In vierreihigen Kolonnen mussten wir durch die mächtigen Gefängnistore zum Bahnhof marschieren. Unterwegs wurden wir Zeugen herzzerbrechender Szenen, als jüdische Frauen weinten und in Ohnmacht fielen als wir vorbeimarschierten.

Haft im KZ: „Wir werden euch zerstören. Wir werden euch verbrennen. Wir werden euch quälen.“

Das KZ Sachsenhausen in Oranienburg.
Das KZ Sachsenhausen in Oranienburg.

Einige Frauen wurden zu Boden geschlagen, als sie versuchten, an und heranzukommen. Alte Männer und Frauen wurden mit Gewehrkolben geschlagen. Gefangene, die versuchten aus den Reihen auszubrechen, um ihren Familien ein letztes Lebewohl zu sagen, wurden zu Boden geschlagen. Für viele von ihnen sollte es ihr letztes Auf Wiedersehen sein.

Beide Seiten des Gleises waren schwer bewacht, der Zug kam an, alle mussten einsteigen und wir glaubten, es würde doch nicht allzu schlecht ausgehen. Weil es kein Güterzug war, sondern ein normaler Personenzug. Und jeder bekam einen Sitzplatz.

Der Polizei-Offizier erteile Befehle, ordnete an, dass die Fenster geschlossen zu bleiben hatten. Die Vorhänge zugezogen. Jeder musste auf seinem Platz, ausgenommen Gänge zur Toilette, in diesem Fall musste ein begleitender Offizier benachrichtigt werden und die Tür zur Toilette hatte geöffnet zu bleiben. Der Zug fuhr los.

Was würde unser Ziel sein? Einige Männer in unserem Waggon begannen zu singen und andere stimmten ein. Es wurden sogar einige Witze erzählt. Wie schnell sich die Dinge ändern, wie auch immer.

Das KZ Sachsenhausen in Oranienburg.
Hans Herzberg kam für fünf Wochen in das KZ bei Berlin. Fotos (5)/Repro (1): Alex Völkel

Wie sprachlos wir waren, als wir aus den Waggons gejagt wurden, einige Stunden später, als wir hielten. SS-Totenkopf, die sadistischsten Mörder, die Hüter des Dritten Reichs, kamen brüllend in unsere Waggons. „Raus, ihr Schweine! Schneller! Drecksäcke! Dreckige Juden.“ Sie beschimpften uns mit allen möglichen Wörtern, doch Drecksäcke war ihr Lieblingsbezeichnung. 

„Wir werden euch zerstören. Wir werden euch verbrennen. Wir werden euch quälen. Wir werden euch zeigen und überzeugen, wer die Welt regiert. Wir werden euch tausend Mal zurückzahlen lassen, was ihr uns schuldet.“

Das waren die Worte die wir vom Lagerkommandanten hörten. Wir stolperten übereinander. Leute fielen und sie trieben uns über sie weg. Die ganze Nacht lang hörten wir Schreie und Stöhnen, aber das war nicht wichtig jetzt, konnte nicht dasselbe jedem von uns passieren, jeden Augenblick?So endeten die drei Tage vom 9. bis zum 11. September 1938. Und so begannen meine fünf Wochen im Konzentrationslager Sachenhausen in Oranienburg.

 

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