Das Gespenst das Antisemitismus: Mitglieder der jüdischen Gemeinde Dortmund „üben“ in Holland das Untertauchen

Igor zeigt in Aalten seine Tätowierungen. Nur wenige Juden zeigen offen ihre Religion.
Igor zeigt in Aalten seine Tätowierungen. Nur wenige Juden zeigen offen ihre Religion. Fotos: Alex Völkel

Interessiert gehen die Dortmunder Studierenden durch das Museum. Sie sehen, wie Juden und andere Verfolgte vor den Nazis versteckt wurden. Gehen sie durch ein Haus, in dem auch ihre Vorfahren waren? Kauern sie in dem Keller oder der Nische, wo auch ihre Familie untertauchen musste? Die Studierenden aus Dortmund sind jüdischen Glaubens und zu Gast im holländischen Aalten. Die kleine Stadt an der deutsch-niederländischen Grenze war für viele Juden ein wichtiger Unterschlupf – auch der langjährige Geschäftsführer und heutige Vorstand der Jüdischen Kultusgemeinde Dortmund, Wolfgang Polak, war dort mit seiner Familie untergekommen. Das ist Geschichte – der Krieg und die Judenverfolgung sind mehr als 70 Jahre vorbei. Doch die Sorge ist präsent und die Ängste kommen bei vielen Menschen jüdischen Glaubens wieder. Braucht es heute wieder Verstecke und Exit-Strategien für Juden in Deutschland und Europa? Alexander Völkel geht diesen Fragen nach.

Äußerungen von Trump befeuern alte antisemitische Ressentiments

Sallo van Gelder ist das letzte Mitglied der jüdischen Gemeinde in Aalten.
Sallo van Gelder ist das letzte Mitglied der jüdischen Gemeinde in Aalten.

Das Gespenst des Antisemitismus geht – nach den Äußerungen von Trump zum Thema Jerusalem erneut befeuert – wieder um in Deutschland. Das schwingt mit bei dem von Hugo Kuiper organisierten Besuch in Holland, der ja im Zeichen der Spurensuche, Flucht und Vertreibung steht. Aber auch im Zeichen der Hoffnung. Denn die Gruppe unter Leitung von Rabbiner Baruch Babaev möchte wieder Leben in die kleine Synagoge von Aalten bringen. Gemeinsam mit holländischen Gastgebern und Gästen wird ein Nachmittagsgebet abgehalten.

Sehr zur Freude von Sallo van Gelder. Er ist das letzte Mitglied der ehemaligen jüdischen Gemeinde in Aalten. Dank des Engagements der Aaltener Mitbürger überlebten zwar viele der 78 Aaltener Juden den Krieg. Doch fast alle wanderten aus oder zogen in größere Städte. Das jüdische Leben kam zum Erliegen. Denn für den Minjan, einen jüdischen Gottesdienst, werden zehn Männer jüdischen Glaubens benötigt.

Mittlerweile ist Sallo van Gelder der einzige und letzte Jude in Aalten. Auch er war als Kind in Aalten und zeitweise auch in Rotterdam untergetaucht. Ihm gehört ein Haus neben der im 19. Jahrhundert errichteten Synagoge. Um die Erhaltung des Gotteshauses kümmert sich mittlerweile eine Bürgerstiftung. Sie hat 1984 die Synagoge übernommen, um das Andenken an das jüdische Leben in Aalten zu bewahren.

12.500 EinwohnerInnen versteckten 2500 Juden und Widerständler

Im Untertauchermuseum kann man in Ansätzen erahnen, wie beengt die Verstecke waren.
Im Untertauchermuseum in Aalten kann man in Ansätzen erahnen, wie beengt die Verstecke waren.

Über den Besuch aus Dortmund freuen sich die Ehrenamtlichen daher sehr. Sie haben eine Tour zu Stolpersteinen vorbereitet, zeigen die Synagoge und natürlich das „Nationale Untertauchermuseum“. Das einzigartige Museum widmet sich der Geschichte der Stadt, die so vielen Menschen geholfen und das Leben gerettet hat wie wahrscheinlich keine andere – zumindest wenn man auf die Relationen blickt. 12.500 EinwohnerInnen zählt die Stadt Aalten bei Kriegsbeginn.

Insgesamt 2500 Menschen wurden hier versteckt. „Ein Verhältnis von 5:1 finden Sie nirgends. 40:1 war der Schnitt im Landesvergleich“, berichtet Tijme Bouwers, Vorstand der Synagogen-Stiftung. Dabei waren es nicht nur deutsche Juden, die hier versteckt wurden. Auch holländische Juden und Niederländer, die sich gegen die deutschen Besatzer gestellt hatten oder vor drohender Zwangsarbeit geflohen waren, tauchten in Aalten unter, berichtet Gerda Brethouwer, Direktorin des Museums.

Mehr als 50 Prozent der in Aalten versteckten Menschen haben den Krieg überlebt – auch diese Quote ist einmalig, obwohl die örtliche Kommandantur Aalten am 10. April 1943 als „judenfrei“ erklärt hatte. „Die Wirklichkeit sah zum Glück anders aus“, sagt Brethouwer nicht ohne Genugtuung.

Aktive der Erinnerungsarbeit aus Dortmund pflegen gute Kontakte nach Aalten

Bilder von SchülerInnen der Weingartenschule aus Hörde sind im Stadtmuseum in Aalten zu sehen.
Bilder von SchülerInnen der Weingartenschule aus Hörde sind im Stadtmuseum in Aalten zu sehen.

Wegen dieses Einsatzes und des guten Netzwerks der Flüchtlingshilfe ist Aalten international als „Untertaucherstadt“ bekannt geworden. An diese Geschichte erinnert auch das Heimatmuseum mit einem eigenen Gebäude. Das „Nationale Untertauchermuseum“ haben sich auch die Dortmunder Gäste angesehen.

Die jüdische Gruppe waren nicht die einzigen Gäste aus Dortmund. Insgesamt sieben Gruppen waren allein 2017 in Aalten – darunter der Jugendring mit den BotschafterInnen der Erinnerung und auch die Fan- und Förderabteilung des BVB.

Im Stadtmuseum stehen Arbeiten von SchülerInnen der Weingartenschule aus Hörde, die ebenfalls zur Geschichte eines jüdischen Mädchens recherchiert hatten, die in Aalten unterkam.

Jüdische Gemeinde macht sich über die Sicherheitslage viele Gedanken

 

Am Phoenixsee hat die jüdische Gemeinde mit Mitgliedern und Gästen Chanukka gefeiert.
Öffentliche Feiern der jüdischen Gemeinde wie zu Chanukka am Phoenixsee sind die Ausnahme.

Auf der Fahrt nach Holland diskutieren die Gemeindemitglieder die aktuelle Lage: „Dass wir die Chanukka-Feier am Phoenixsee nicht absagen, war für uns klar wie Kloßbrühe“, betont Rabbiner Baruch Babaev. „Wir erreichen damit ein breites Publikum und sehen das als Beitrag zum Dialog.“

Denn auch Muslime sind gerne gesehen bei dem Fest des Lichts auf der Kulturinsel in Hörde. Doch bei anderen öffentlichen Ereignissen tut sich die Gemeinde – nicht zuletzt wegen der Zunahme an antisemitischen Anfeindungen – deutlich schwerer.

So hat sich die Gemeinde im vergangenen Jahr gegen ein Familien- und Straßenfest vor der Synagoge entschieden. Dafür hätte man an einem Sonntag ein Teilstück der Prinz-Friedrich-Karl-Straße absperren und auch den kleinen Vorplatz nutzen wollen. Aber die Gemeinde wollte nicht auf die Sicherheitsschleuse verzichten. „Das wäre sonst zu offen gewesen – man hätte zu schnell die Übersicht verlieren können.“

Sorge vor einer öffentlichen Feier zum Israel-Tag auf dem Friedensplatz

Der Dortmunder Rabbiner Baruch Babaev in der Aaltener Synagoge. Fotos: Alex Völkel
Der Dortmunder Rabbiner Baruch Babaev in der Aaltener Synagoge hielt ein öffentliches Gebet ab.

Im Mai 2018 steht dann ein wichtiger Termin an: Zum 70. Jahrestag der Staatsgründung sollte der Israel-Tag wieder größer ausfallen und wie zuletzt beim 65. Jahrestag auf dem Friedensplatz stattfinden. Doch die Gemeinde tut sich schwer, nachdem die Nahost-Politik von US-Präsident Trumo alte antisemitische und antizionistische Vorurteile hat wieder ausbrechen lassen. Daher ist die Gemeinde gespalten – einerseits möchte man groß und öffentlich feiern. Auf der anderen Seite fürchtet man Provokationen und Anfeindungen.

Dabei geht es weniger um die Sorge vor einer echten Bedrohung, schon allein verbale Provokationen sieht man als Problem: „Schon ein Randalierer würde reichen, um die Stimmung kippen zu lassen“, macht Babaev deutlich. Denn auch bei anderen Gelegenheiten schlägt ihnen Hass entgegen, so zum Beispiel beim Gedenken am 9. November in Dorstfeld. „Wenn man dann Sprechchöre wie ,Nie wieder Israel’ hört, ist das sehr verletzend“, berichtet der Rabbiner. Außerdem möchte man kein Fest hinter einer Wand von Polizisten: „Es ist nicht gesund, wenn die die Leute statt zu feiern mit Angst nach Hause gehen.“

Der Antisemitismus nagt am Selbstverständnis und Selbstbewusstsein: Viele Juden auch in Dortmund greifen daher zum Pfefferspray. „Eine Frau hat auch ein Messer in der Tasche, weil sie keinem mehr auf der Straße traut.“ Trump sei dabei nur ein Auslöser für Hass gegen Juden, den es auch vorher schon gab. „Es ist gut, dass es jetzt rauskommt“, sagt der Rabbiner.

Rabbiner: „Heute wird vieles offen gesagt, was früher nur gedacht wurde“

Gedenken an die Pogromnacht in Dorstfeld.
Das Gedenken an die Pogromnacht in Dorstfeld wurde von Neonazis gestört. Archivbild: Klaus Hartmann

Die Stimmung sei vergiftet: „Heute wird vieles offen gesagt, was früher nur gedacht wurde“, so Babaev. Anfeindungen und Beleidigungen hätten zugenommen. Die jüdische Kultusgemeinde hat daher in Abstimmung mit der Polizei die Sicherheitsvorkehrungen nochmals verschärft. Jüdische Einrichtungen stehen in Deutschland ohnehin unter besonderer Beobachtung durch die Polizei.

Daher machen sich viele jüdische Familien Gedanken, ob sie mehr als 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg noch eine Zukunft in Deutschland haben. Jüngst ist eine Familie nach Israel ausgewandert – die wird wohl nicht die Einzige bleiben, die Dortmund den Rücken kehrt.

Einer, der noch relativ neu in Dortmund ist, ist Lev (25). Wegen seiner deutschen Freundin ist er aus Israel nach Dortmund gezogen und studiert nun hier. „Ich fühle mich in Dortmund wohl und wurde von der Gemeinde warm empfangen – so, als wenn man sich schon länger kennt.“ Eigentlich ist er nicht sonderlich religiös, aber er nutzt die Gemeinde und die Studierendengruppe, um neue Leute kennenzulernen.

Menschen jüdischen Glaubens erleben auch in Dortmund Anfeindungen

Rundgang im Untertauchermuseum: Im Erdgeschoss war die NS-Kommandantur, im Obergeschoss wurden Menschen versteckt.
Rundgang im Untertauchermuseum: Im Erdgeschoss war die Aaltener NS-Kommandantur, im Obergeschoss wurden Menschen versteckt.

Doch auf der Straße erleben die jungen Juden deutlich mehr Ablehnung. „Seit der Trump-Rede zu Jerusalem hat sich das krass verstärkt“, berichtet Maxim (25). Der Student arbeitet nebenbei im Sicherheitsdienst der Gemeinde. Persönlich erleben er und seine jüdischen Freunde häufiger Ablehnung und Anfeindungen.

Am häufigsten passiert ihnen das im Fitnessstudio, wenn sie Bekleidung tragen, die auf eine jüdische oder israelische Abstammung schließen lässt. Insbesondere Muslime hätten sie verbal attackiert und auch zum Kampf aufgefordert. „Viele andere Besucher haben weggeschaut und wollten das nicht hören“, bedauert Maxim.

Doch nicht nur durch stark tätowierte Bodybuilder im Fitnessstudio, auch an der Uni hätten sie Ablehnung erlebt, berichten die Mitglieder der Gruppe „Yatid“ („Jüdische Zukunft“). Dort hätten sie auf dem Sommerfest einen Stand neben der palästinensischen Gemeinde haben sollen – doch diese hätte sich geweigert, neben einer jüdischen Gruppe zu stehen.

Daher zeigen viele Menschen jüdischen Glaubens ihre Religionszugehörigkeit nicht offen. „Einem Großteil ist es nicht anzusehen, aber wir verheimlichen es nicht“, betont Maxim, als müsste er sich dafür verteidigen.

Hin- oder wegsehen: „Nicht Jeder ist ein Held. Aber Jeder hat eine Wahl“

Igor schlüpfte in Aalten in Verstecke. Er wollte erleben, wie sich die Verfolgten wohl gefühlt haben.
Igor schlüpfte in Aalten in Verstecke. Er wollte erleben, wie sich die Verfolgten wohl gefühlt haben.

Eine Ausnahme ist da sicher Igor. Der 33-jährige Herrenausstatter trägt seine Religion und seine geistige Heimat Israel sehr offen zur Schau. Auf der Jacke, dem Pullover, der Tasche. Selbst auf der Haut trägt er jüdische Symbole – als Tätowierung. Vor Andersgläubigen schreckt er nicht zurück und will sich auch nicht verstecken: „Das ist mein Körper, meine Sache und meine Religion“, sagt er selbstbewusst.

Doch dieses Selbstbewusstsein ist nicht jedem Menschen gegeben. Und auch Igor ist sich der latenten Gefahr des Antisemitismus bewusst. Nicht zuletzt, weil er sich in Aalten im Untertaucher-Museum in ein Versteck auf dem Dachboden gezwängt hat, um das Schicksal der Verfolgten besser nachvollziehen zu können. „Üben“ für den Ernstfall? Wie die Flucht der Familie von Wolfgang Polak, der als Vierjähriger vor 80 Jahren vor den Nazis nach Aalten fliehen musste? Hoffentlich nicht.

„Freiheit ist wichtig und keine Selbstverständlichkeit. Wir müssen sie leben und dafür einzustehen. Das ist unsere Mission“, sagt Museumsdirektorin Gerda Brethouwer. „Nicht jeder ist ein Held. Aber jeder hat eine Wahl.“

Die Haupt- und Ehrenamtlichen in Aalten wollen MuseumsbesucherInnen und Gäste sensibilisieren und motivieren. Ja – man könne vor Antisemitismus die Augen verschließen. Aber man könne sich auch widersetzen und für andere Menschen einstehen. So wie die Aaltener es vor Jahrzehnten getan haben. Gemeinsam hoffen sie aber, dass Juden nie wieder „untertauchen“ müssen. Doch das mulmige Gefühl bleibt – denn das Gespenst das Antisemitismus geht um in Europa.

In der Synagoge in Aalten hielten die DortmunderInnen eine Andacht mit den holländischen Gastgebern ab.
In der Synagoge in Aalten hielten die DortmunderInnen eine Andacht mit den holländischen Gastgebern ab.
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