Spannende Debatte in der Nordstadt: „Sinti und Roma – Die unerwünschte Minderheit. Über das Vorurteil Antiziganismus“

Auf Einladung der AWO referierte Prof. Dr. Wolfgang Benz in der Nordstadt. Foto: Alex Völkel
Auf Einladung der AWO referierte Prof. Dr. Wolfgang Benz in der Nordstadt. Fotos: Alex Völkel

„Wir sprechen nicht über Roma!“ Gesprochen wird „nur“ über die Zuwanderung aus Südosteuropa – aus Bulgarien und Rumänien heißt es vielerorts in Dortmund. Eine Maxime, die auf die negative Berichterstattung und massiven Ressentiments in weiten Teilen der Bevölkerung zurückgeht.

Nur die Polizei sollte nicht über Roma sprechen

Diese Einstellung hält der bekannte Berliner Vorurteilsforscher Prof. Dr. Wolfgang Benz für grundfalsch: „Das sollte nur für die Polizei gelten“, macht der bundesweit geachtete Autor deutlich. „Nur für die Polizei sollte die Ethnie keine Rolle spielen.“

Aber auch den Medien rät er zur Zurückhaltung. „Sonst halten die Menschen schnell alle Neuzuwanderer für Zigeuner.“ Den Begriff „Zigeuner“ verwendet Benz dabei absichtlich: Sofort entstehen Bilder im Kopf. Über Jahrhunderte aufgebaute und konstruierte Vorurteile.

„Zigeuner“-Begriff ist beleidigend – Sinti und Roma nennen sich selbst nicht so

Auf Einladung der AWO referierte Prof. Dr. Wolfgang Benz in der Nordstadt. Foto: Alex Völkel

Auf Einladung der AWO sprach Benz jetzt im Interkulturellen Zentrum (IKUZ) vor großem Publikum und stellte sein neues Buch „Sinti und Roma: Die unerwünschte Minderheit. Über das Vorurteil Antiziganismus“ vor.

Die Veranstaltung wurde von Dr. Karola Fings, der stellvertretenden Direktorin des NS-Dokumentationszentrums in Köln, moderiert.

Wobei: Der Begriff Antiziganismus schmeckt ihm – wie auch der Begriff Antisemitismus – nicht. „Ich mag ihn nicht und halte ihn für grundfalsch.“ Vor allem, weil „zigan“ ja auf die Begrifflichkeit Zigeuner hinweise.

Und dieser Begriff basiert auf einer Fremdzuschreibung durch die Mehrheitsgesellschaft und wird im allgemeinen Sprachgebrauch in der Regel beleidigend verwendet. Sinti und Roma nennen sich selbst nicht so, räumte Benz auch mit den Anmerkungen aus dem Publikum auf, die den Begriff als legitim bezeichneten.

Politische Instrumentalisierung: Roma müssen als Sündenböcke herhalten

Auf Einladung der AWO referierte Prof. Dr. Wolfgang Benz in der Nordstadt. Foto: Alex Völkel

Doch warum müssen wir in Dortmund und besonders in der Nordstadt überhaupt über Roma sprechen?

„Wir müssen über sie reden, weil die Minderheit da und sichtbar ist und sie für undemokratische Zwecke instrumentalisiert wird“, machte Benz deutlich. „Es geht um klassische Schuldzuweisung und Sündenbockfunktion für alle Probleme, die auftauchen.“

Daran knüpfte auch die AWO-Vorsitzende Gerda Kieninger bei ihrer Begrüßung an: Sie kritisierte die massive Diskriminierung, die Roma europaweit erführen. „Als AWO wollen wir daher Partei für die Zuwanderinnen und Zuwanderer ergreifen“

Auch Deutsche waren einst unbeliebte Einwanderer und „Lumpenproletariat“

Auf Einladung der AWO referierte Prof. Dr. Wolfgang Benz in der Nordstadt. Foto: Alex Völkel

Zum Einstieg überraschte Benz seine zahlreichen Zuhörerinnen und Zuhörer mit Schilderungen von Armutszuwanderern aus Paris zwischen 1830 und 1870.

Ausführlich schilderte er die elenden Lebensbedingungen, die Anfeindungen, denen das „Lumpenproletariat“ ausgesetzt war, und die Ausgrenzung, die sie erlebten.

Allerdings waren – anders als erwartet – die Armutszuwanderer keine Sinti und Roma, sondern Deutsche aus Hessen und der Pfalz. Die Armen der Armen, die sich keine Überfahrt nach Amerika leisten konnten.

Ein gutes Beispiel, mit dem Benz verdeutlichte, dass nicht die Ethnie, sondern die Armut der entscheidende Faktor für Ausgrenzung und viele Probleme sei.

Anders als den Deutschen damals werde den Zuwanderern aus den südosteuropäischen EU-Ländern heute die Legitimität der Zuwanderung und das Recht auf ein Streben nach Glück abgesprochen.

Konservative, Rechtspopulisten und Neonazis machen Stimmung gegen Roma

Auf Einladung der AWO referierte Prof. Dr. Wolfgang Benz in der Nordstadt. Foto: Alex Völkel

Diese Stimmungsmache gegen Zuwanderer werde von vielen Rechtspopulisten und Rechtsextremen, aber auch von konservativen Politikern wie Horst Seehofer befeuert.

Dieser hatte auf einer Veranstaltung gesagt, dass er gegen die „räuberischen Migranten“, die in die deutschen Sozialsysteme einfielen, „bis zur letzten Patrone“ kämpfen werde.

Auch proNRW schlage entsprechende Töne an: Von „Heuschreckenplage“ ist im Zusammenhang mit den Romazuwanderern zu lesen oder „Heimatliebe statt Roma-Diebe“ zu hören.

Benz fordert Umdenken: „Schamlose Ausbeuter und Profiteure“ ins Visier nehmen

Benz forderte daher ein Umdenken: Nicht die Zuwanderer seien das Problem, sondern die Menschen, die sich schamlos auf Kosten der Zuwanderer bereicherten.

Also die Arbeitgeber, die die Menschen zu Hungerlöhnen ausbeuteten (Stichwort: Schwarzarbeiterstrich), ihnen Bruchbuden zu horrenden Preisen vermieteten oder an der Vermittlung verdienten.

„Die Häuser waren vorher schon Ruinen, die nicht mehr hätten vermietet werden dürfen“, räumte er mit den Vorurteilen von durch Zuwanderer verursachten Problemhäusern auf. Auch die Inanspruchnahme von Kindergeld sei kein Raubzug, sondern ganz legal.

Viele Parallelen zwischen Juden- und Zigeuner-Verfolgung in NS-Zeit

Auf Einladung der AWO referierte Prof. Dr. Wolfgang Benz in der Nordstadt. Foto: Alex Völkel

Benz zeigte die großen Parallelen zwischen Sinti und Roma auf der einen und Juden auf der anderen Seite auf.

„Beide Gruppen haben durch Nationalsozialisten großes Unrecht erleiden müssen, sie wurden verfolgt und ermordet. Allerdings ist die Diskriminierung von Sinti und Roma – anders als von Juden – heute regelrecht gesellschaftsfähig.“

Vor allem deshalb, weil die Gründe für die Verfolgung jahrzehntelang anders gedeutet worden seien. Wäre es bei den Juden um verurteilswürdigen Rassenhass gegangen, sei der Hintergrund bei der Verfolgung der „Zigeuner“ ja die Kriminalitätsprävention gewesen. „Dabei war der Genozid bei ihnen so systematisch wie bei den Juden“, verdeutlichte Benz bei seinem Vortrag.

Aus dem Vorurteil, die „kriminellen Zigeuner“ hätten weggesperrt werden müssen, wurde ihnen bis in die 1970er Jahre auch eine Entschädigung verweigert. Teilweise wurden die Begründungen für die Ablehnung von den Tätern selbst formuliert.

Stereotype und Vorurteile entstehen durch die Mehrheitsgesellschaft

Auf Einladung der AWO referierte Prof. Dr. Wolfgang Benz in der Nordstadt. Foto: Alex Völkel

„Geschäftstüchtige Juden“, „diebische Zigeuner“, „eroberungssüchtige Muslime“ – Bausteine des Vorurteils sind Stereotype.

Das pauschale Vorurteil wird absolut genommen und erklärt scheinbar die Merkmale der Gruppenzugehörigkeit. Diese sind zählebig und auch gegen logische Argumente resistent.

Genährt werden sie durch Existenzängste, die viele Menschen plagen. „Sie projizieren in ihrer Abwehrstrategie ihre Emotionen auf eine Minderheit, in der sie alles, was ihnen Sorge macht, verkörpert sehen.

Vorurteile verdichten sich zu Feindbildern, die als Bestandteile politischer Ideologien instrumentalisiert werden.

Das negative Fremdbild steht am Anfang der agierenden Feindseligkeit“, erklärt Prof. Dr. Wolfgang Benz die Mechanismen in seinem sehr informativen Buch, welches erst vor drei Wochen erschienen ist.

Vorurteile sind nicht angeboren, sondern werden erlernt

Doch Vorurteile seien nicht angeboren, sie werden erlernt und eingeübt. Sie werden von Generation zu Generation weitergegeben. Besonders gravierend ist die Botschaft im Elternhaus.

„Früh erlernte Vorurteile bleiben so meist für lange Zeit fixiert und bestimmen oft auch das Weltbild Erwachsener. Es bedarf daher zäher Kleinarbeit, diesen Botschaften entgegenzutreten“, so Benz.

Zuwanderer begehen keinen Sozialmissbrauch: Rechtsanspruch auf Kindergeld

Auf Einladung der AWO referierte Prof. Dr. Wolfgang Benz in der Nordstadt. Foto: Alex Völkel

Zentrale Bedeutung hat das Feindbild „Armutsmigration“, das Überfremdungs- und Existenzängste bedient und nicht nur in der Agitation von Rechtspopulisten und Rechtsextremen eine große Rolle spielt.

Hier braucht es andere Akzente, machte Benz in der Nordstadt deutlich: „Ja, Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien haben Anspruch auf Kindergeld – wie alle anderen EU-Bürger auch! Das ist kein Sozialmissbrauch, sondern europäisches Recht!“

Mindestens die Kinder der Zuwanderer werden wertvolle Dienste leisten. „Wenn wir für eine anständige Ausbildung sorgen, werden sie später auch in die Sozialkassen einzahlen und die Renten in Deutschland mitfinanzieren“, verdeutlicht der Berliner Vorurteilsforscher. „Das ist die einzig vernünftige Betrachtungsweise. Der Abwehrkampf kommt uns viel teurer zu stehen.“

Mehr zum Thema Roma auf nordstadtblogger.de:

AWO-Aktivitäten zum Thema Roma:

 

 

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Reaktionen

  1. Sinti sind Sinti

    Sinti in Deutschland möchten nicht als „Sinti – und – Roma“ genannt / bezeichnet werden.

    Wir wollen nicht als Sinti – und – Roma bezeichnet werden. Sinti sind seit über 600 Jahren in Deutschland zu Hause. Deutschland ist unsere Heimat. Sinti sind deutsche Staatsbürger
    Die Gruppe der Roma sind zugewanderte aus Ost und Südosteuorpa. Sinti kommen weder aus Ost oder Südosteuropa, auch nicht aus Bulgharien, Rumänien auch nicht aus ex-jugoslawien.
    Deutsche Sinti verbitten sich als „Sinti – und – Roma oder gar als Roma“ bezeichnet zu werden.

    Begründung:

    Immer wieder müssen wir mit Bedauern und Verärgerung (Betroffenheit) feststellen, dass Sinti und Roma in einem Atemzug in den Medien von der Presse und Politikern erwähnt werden. Es wird mit einer nicht mehr entschuldbaren Ignoranz über eine Differenzierung zwischen den beiden Völkern hinweggegangen.
    Zum wiederholten Male weisen wir darauf hin, dass in südosteuropäischen Ländern, ebenso in Rumänien und Bulgarien, keine Sinti leben und gelebt haben. Der Lebensraum der Sinti liegt bereits seit mehr als 600 Jahren ausschließlich im deutschsprachigen Teil Westeuropas, namentlich und hauptsächlich in Deutschland. Es ist falsch, wenn die Medien und die Politiker in diesem Zusammenhang Sinti und Roma formulieren.
    Die Sinti sind Deutsche mit den gleichen Rechten und Pflichten wie jeder Deutsche. Ihre Heimat ist Deutschland. Sie können deshalb weder mit Flüchtlingsorganisationen sowie mit Asylanträgen, Duldungen und Zuwanderung aus dem Ausland in Verbindung gebracht werden. Die Sinti müssen demzufolge namentlich aus solchen Berichten herausgehalten werden. Wir fordern die Medien, Presse und Politiker hiermit auf, das zukünftig zu berücksichtigen.
    Wir empfinden es als mediale und politische Fehlleistung, wenn hier keine Unterscheidung gemacht wird. Investigative Medien und verantwortsbewussten Politikern sollten ein ernsthaftes Interesse haben, ihren Lesern bzw. Zuhörern und Wählern wohlrecherchierte und wahrheitsgetreue Informationen zukommen zu lassen. Andernfalls sollte zumindest die Option bestehen, dass Sinti aus Artikeln, Reportagen oder Dokumentationen sowie politischen Diskussionen herausgehalten werden, in denen sie historisch völlig falsch eingeordnet werden. Nicht allein durch die aktuelle Asylgesetz-Debatte werden wir stereotyp in Zusammenhang mit den nicht zu leugnenden Problemen bei der Integration der ins Land kommenden Roma gebracht. Im 4. Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland wird auf Seite 7 auf folgendes hingewiesen: „Sinti – und – Roma verstehen sich nicht als eine, sondern als zwei Ethnien“
    Deutsche Sinti sind Ausnahmslos Katholisch oder Evangelisch!

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