Von Alexander Völkel
65.000 Häftlinge saßen von 1933 bis 1945 in der Steinwache. Eine Zahl, die lange bekannt ist. Relativ neu ist allerdings die Zahl der schwulen Männer, die dort inhaftiert waren. Jeder Hundertste war ein „175er“ – ein Mann, der wegen des von den Nazis verschärften „Schwulen-Paragrafen“ 175 im Reichsstrafgesetzbuch dort inhaftiert wurde.
Der Historiker Dr. Frank Ahland hat die Haftbücher der Steinwache durchgesehen
Zu verdanken sind diese Erkenntnisse Dr. Frank Ahland. Der Historiker hat sich die Haftbücher der Steinwache nochmals genau angesehen und angefangen, die Biographien der schwulen Häftlinge zu ermitteln.
Eine große Aufgabe – schließlich geht es um rund 650 Schwule, die hier inhaftiert wurden. Er prangert das Wegschauen der Forscher an, denn die Haftbücher stehen sehr mehreren Jahrzehnten der Forschung offen. „Viele Forscher haben es übersehen wollen oder bewusst weggesehen“, kritisiert der Historiker.
Auch der Raum für die verfolgten Schwulen wurde erst nachträglich in der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache eingerichtet – und noch fehlt ihm der konkrete Bezug auf die Verfolgung von Lesben und Schwulen in der Stadt.
Den Anstoß gab der Runde Tisch zur Förderung der Emanzipation und Akzeptanz von Lesben, Schwulen und Transidenten in Dortmund im Jahr 2002. Daraufhin bildete sich der Arbeitskreis schwule Geschichte, in dem sich auch Ahland engagiert.
Vermutlich rund 100 der 650 in der Steinwache inhaftierten Schwulen wurden ermordet
Dortmunder Männer wurden denunziert, verfolgt, inhaftiert und ermordet. Vermutlich rund 100 der 650 in der Steinwache inhaftierten Schwulen wurden ermordet. Einige Dutzend sahen im Selbstmord den letzten Ausweg.
Doch die Forschung steht mehr als 70 Jahre nach Kriegsende noch am Anfang. „Auch nach dem Krieg haben wir keinen – im wahren Sinne des Wortes – anständigen Umgang mit ihnen gefunden“, kritisierte Pater Siegfried Modenbach vom Katholischen Forum bei einer Gedenkveranstaltung im vergangenen Jahr.
Dabei schloss er seine Kirche gewusst in die Kritik mit ein. Denn bis 1969 wurden Schwule in der Bundesrepublik weiter kriminalisiert – auch untermauert von der katholischen Morallehre.
In der Steinwache wurde verhört, wer sich eines „Vergehens“ nach § 175 „schuldig“ gemacht hatte oder auch nur verdächtigt wurde. Da reichte es aus, wenn ein alleinstehender Mann häufig Herrenbesuch hatte, um in Haft zu landen.
Dabei machte das Regime keinen Unterschied bei Alter oder Beruf: Der Jüngste war 15, der Älteste 78. Insgesamt waren es 31 Männer, die 60 Jahre und älter waren. Aber auch 28 Jungen unter 18 Jahren und weitere 48 junge Männer unter 21 Jahren waren in der Steinwache inhaftiert.
Selbst 15- und 16-jährige Schüler landeten in der Steinwache
Selbst ein junges Paar – der 15-jährige Schüler Gustav Adolf H. und der 16-jährige Lehrling Fritz G. aus Derne – landete in der Steinwache. Es waren zwei Nachbarjungen. Sie wurden in den frühen Abendstunden von der Gestapo verhaftet.
„Allerdings wurden auch einige Männer auf Anweisung des Dortmunder Polizeipräsidenten im Rahmen einer reichsweiten Verhaftungsaktion gegen schwule Männer 1937 nach Buchenwald verschleppt und dort ermordet, ohne zuvor in der Steinwache gewesen zu sein. „Die reale Zahl der verhafteten schwulen Männer ist also in jedem Fall höher als die rund 650, die über die Steinwache liefen“, zieht Ahland eine vorläufige Bilanz.
Weitere Recherchen wären nötig. Doch dafür fehlt es bisher vor allem an den finanziellen Ressourcen. Einblicke in die Notwendigkeit der Forschung gibt. Erstmals trafen sich daher zwölf WissenschaftlerInnen und dem Thema verbundene Personen auf Einladung des Arbeitskreises Schwule Geschichte Dortmunds im SLADO und des Forums Geschichtskultur an Ruhr und Emscher im November 2015 in der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache in Dortmund.
Zwischen Verfolgung und Selbstbehauptung. Schwul-lesbische Lebenswelten
Sie berichteten über ihre Forschungsprojekte, über Gespräche mit Zeitzeugen und ihr ehrenamtliches Engagement. Mittlerweile hat Ahland einen Tagungsband dazu vorgelegt: „Zwischen Verfolgung und Selbstbehauptung. Schwul-lesbische Lebenswelten an Ruhr und Emscher im 20. Jahrhundert“ heißt das von Frank Ahland zusammengestellte Werk, welches jüngst im Vergangenheitsverlag Berlin erschienen ist.
Der zeitliche Bogen reicht von einem feministischen, lesbian-like lebenden Netzwerk um 1900 bis zu den Diskursen über Körper und Männlichkeit in der Zeitschrift Rosa Zone in den 1990er Jahren.
Thematisch befassen sich die Beiträge neben solchen Formen der Selbstbehauptung nicht zuletzt mit Ausgrenzung und Verfolgung vom Nationalsozialismus bis hinein in die Bundesrepublik und mit dem Gedenken und dem Erinnern daran. Dabei werden die Pläne zur Neugestaltung der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache erörtert, aber auch die auf männliche Opfer orientierte Gedenkpraxis feministisch hinterfragt.
Der Tagungsband bildet die Vielzahl der Beiträge ab und möchte, ebenso wie die Tagung, Impuls und Initiativgeber für eine verstärkte Hinwendung zu einem der weißen Flecken innerhalb der Forschungslandschaft des Ruhrgebiets sein. Auch wenn sich seit der endgültigen Aufhebung des § 175 im Jahr 1994 vieles zum Positiven verändert hat, ist der Forschungsbedarf mit Bezug zur Homo-, Bi-, Trans- und Intersexualität nach wie vor groß.
Lebensgeschichten müssen auch heute noch erzählt werden
„Die Lebensgeschichten dieser Verfolgten machen sprachlos und müssen deshalb auch heute noch erzählt werden. Es sind Geschichten von gleichgeschlechtlich Liebenden, deren Verfolgung auch über das Ende des Krieges hinaus fortgesetzt wurde“, verdeutlichte Pater Siegfried Modenbach.
Sie wurden noch bis 1969 kriminalisiert – eine Wiedergutmachung hat es bis heute nicht gegeben. Seit Sommer 2016 arbeitet das Bundesjustizministerium zumindest an der Rehabilitation der Opfer – von einer Entschädigung ist (noch) nicht die Rede.
Dass das Thema der Verfolgung von Schwulen und Lesben ist auch heute noch aktuell sei, verdeutlichte der Katholik. „Bis heute werden Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert, verfolgt und ermordet.“
Zwei neue Stolpersteine für homosexuelle Opfer in der Nordstadt
Dies wird sicher auch bei der Verlegung der neuen Stolpersteine zur Sprache kommen: Am kommenden Freitag, dem 16. Dezember, wird der Kölner Künstler Gunter Demnig in der Nordstraße zwei weitere Stolpersteine für verfolgte schwule Männer verlegen.
Um 11 Uhr wird er vor dem Haus Kurfürstenstraße 32 einen Stein für Stefan Schminghoff setzen. Manuel Izdebksi von der Aidshilfe Unna wird an ihn erinnern – voraussichtlich werden auch Angehörige teilnehmen. Anschließend wird der Künstler vor dem Haus Nordstraße 57 einen Stein für Werner Großheide verlegen, zu dem Frank Ahland einige Worte sagen wird.
Mehr Informationen:
- Rücksichtslos schlugen Polizei und Gestapo zu: Arbeiter und Bergleute, Auszubildende und Aushilfen, Diakone und Hausdiener, Kaufleute und Händler, Maurer und Schlosser, Konditoren und Metzger, Eisenflechter und Stahlputzer gingen ihnen bei der Schwulen-Hatz ins Netz, ebenso wie ein I. Solotänzer des Dortmunder Balletts. Die Gruppe der Proletarier war – wie auch bei den heterosexuellen politischen Gefangenen – deutlich in der Überzahl.
- Die größte Gruppe unter den 650 schwulen Opfern stellten die Nordstadt-Bewohner: Aus der Nordstadt kamen 150, aus der westlichen Innenstadt 58, aus der östlichen 23, aus dem Zentrum innerhalb des Walls (das damals deutlich dichter besiedelt war) 40, hat Ahland ermittelt.
- Hier gibt es das Inhaltsverzeichnis des Tagungsbandes als PDF zum Download: Inhalt
Mehr zum Thema auf nordstadtblogger.de:
Reader Comments
Michael Jähme
Männer sind unter dem § 175 StGB nicht nur bis 1969, wie im Blog geschrieben, sondern bis 1994 kriminalisiert, verurteilt und inhaftiert worden. Als Kontaktperson für Zeitzeugen bei der ARCUS-Stiftung ist mir ein Fall noch aus dem Jahr 1986 bekannt!
Borusseum
Tag gegen das Vergessen am 27. Januar 2017
Am 27. Januar 2017 findet bereits zum siebten Mal anlässlich des „Tag gegen das Vergessen“ eine Veranstaltung im BORUSSEUM statt. Beginn ist um 19:09 Uhr, der Einlass ist kostenlos und erfolgt ab 18:30 Uhr.
An diesem Tag wird alljährlich an die Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz durch die Alliierten und an die Millionen Opfer des Naziregimes erinnert. Rund um den Aktionstag im Deutschen Fußball wird sich der Abend des 27. Januar 2017 im BORUSSEUM dem Thema der Schwulenverfolgung in Dortmund im Nationalsozialismus widmen.
Nach der Begrüßung durch BVB-Schatzmeister Dr. Reinhold Lunow wird der Dortmunder Historiker Frank Ahland in einem Vortrag seine Forschungen erörtern. Anhand der Haftbücher des Dortmunder Polizeigefängnisses Steinwache hat er rund 650 aufgrund homosexueller Handlungen eingelieferte Männer ermittelt.
Seine Auswertungen lassen eine intensive nächtliche Verfolgung Homosexueller in öffentlichen Toiletten- und Parkanlagen seitens der Polizei, aber auch einen hohen Anteil denunzierter Männer erkennen. Sie zeigen zudem einen engen, bisher wenig beachteten Zusammenhang des massiven Anstiegs der Verfolgung nach einer Rede Heinrich Himmlers am „Tag der deutschen Polizei” im Januar 1937, in der er in der Homosexualität eine Bedrohung des nationalsozialistischen Männlichkeitskultes erkannt zu haben glaubte.
Eine umgehend gestartete Pressekampagne diente der ideologischen Rechtfertigung einer verstärkten Verfolgung durch Polizei, Gestapo und SS. Ahland verweist damit die Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts, das 1957 darauf verwies, dass die Verschärfung des § 175 im Jahr 1935 rechtsstaatlich zustande gekommen und daher kein NS-Unrecht sei, ins Reich der Legende.
Begleitet wird der Abend musikalisch durch Dr. Maik Hester und Peter Sturm. Sie werden Lieder präsentieren, die in Konzentrationslagern und Ghettos entstanden sind.
Wann? 27. Januar 2017, Beginn 19:09 Uhr
(Einlass ab 18:30 Uhr)
Wo? BORUSSEUM in der Nordost-Ecke des Stadions, Strobelallee 50; Zugang über den Aufzug gegenüber der Spielereinfahrt (südliche Seite des August-Lenz-Hauses)
Der Eintritt ist frei*.
Der Veranstalter behält sich vor, von seinem Hausrecht Gebrauch zu machen und Personen, die nazistischen Parteien oder Organisationen angehören, der nazistischen Szene zuzuordnen sind oder bereits in der Vergangenheit durch rassistische, nationalistische, antisemitische oder sonstige menschenverachtende Äußerungen in Erscheinung getreten sind, den Zutritt zur Veranstaltung zu verwehren oder von dieser auszuschließen.
* Sollte die Besucherkapazität erreicht sein, kann leider kein weiterer Zutritt gewährt werden – in diesem Fall bittet der Veranstalter um Verständnis.
VHS-Vortrag: Die Verfolgung homosexueller Männer in Dortmund: NS-Zeit/BRD (PM)
Anhand der Haftbücher des Dortmunder Polizeigefängnisses Steinwache aus den Jahren 1933 bis 1945 lässt sich die Verfolgung homosexueller Männer im östlichen Ruhrgebiet in Teilen detailliert beschreiben. Zusammen mit den überlieferten Akten der Staatsanwaltschaft geben sie Einblick in die Dynamik der Verfolgung und ihre „kumulative Radikalisierung“ (Hans Mommsen) vor allem in den Jahren 1935 bis 1937, mit der es dem Regime gelang, Polizei und Justiz als effektive Instrumente der Verfolgung nutzbar zu machen.
In diesem Vortrag am Donnerstag, 20. April ab 17.45 Uhr zeigt Frank Ahland, promovierter Historiker und Archivar der Kreisstadt Unna, zudem auf, wie nahtlos die Verfolger ihr Werk nach 1945 fortsetzten, wie effektiv sie die während des NS erworbenen Fähigkeiten der Ermittlung weiterhin nutzten.
In Kooperation mit der Dortmunder LSBTIQ* Koordinierungsstelle. Anmeldungen zum kostenfreien Vortrag unter http://www.vhs.dortmund.de (23-51121).