„Ich begrüße außerordentlich, dass die muslimischen Verbände aus NRW heute im Dialogforum Islam NRW ein klares Bekenntnis gegen jeglichen religiös begründeten Extremismus unter radikalen Muslimen abgegeben haben“, betont der Dortmunder SPD-Politiker Guntram Schneider am Montag.
„Wir brauchen dringend eine differenzierte gesellschaftliche Debatte, denn mit Sorge beobachte ich eine zunehmende Tendenz von Islamfeindlichkeit. Diese gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land“, ergänzt der für Integration zuständige NRW-Minister.
Das „dialog forum islam“ ist die erste institutionalisierte Dialogplattform zwischen der Landesregierung NRW und den islamischen Organisationen in NRW. Mitglieder des Plenums sind die vier im Koordinationsrat der Muslime (KRM) vereinigten islamischen Dachverbände. Den Vorsitz hat Integrationsminister Guntram Schneider.
Differenzierte Betrachtung und Aufklärung als Ziel der Arbeit
Einen solchen Beitrag wollten auch das Interkulturelle Zentrum (IKUZ) der AWO und das Jugendamt leisten, als sie jüngst die Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor eingeladen hatten.
Wegen des großen Andrangs – rund 200 Zuhörerinnen und Zuhörer hatten sich angemeldet – wurde die Veranstaltung vom IKUZ ins Türkische Bildungszentrum verlegt.
Ein Thema, dass uns alle angeht, so wurde schließlich klar: den deutschen Islam in seinen vielen Facetten und die bunte Welt der deutschen Muslime. Aber auch die nichtmuslimische Mehrheitsgesellschaft hat Hausaufgaben zu erledigen.
Persönliche Betroffenheit der Referentin Lamya Kaddor
Lamya Kaddor ist persönlich betroffen: – als Muslimin, weil sich die Dschihadisten auch als Muslime bezeichnen; – als Lehrerin für Islamkunde an einer Sekundarschule in Dinslaken, weil einige ihrer ehemaligen Schüler in den Dschihad gezogen sind; – als Tochter syrischer Migranten, deren Verwandte seit Jahren unter Extremismus, Diktatur und Bürgerkrieg in Syrien leiden; – als Islamwissenschaftlerin, die die religiösen Rechtfertigungsversuche der kämpferischen Extremisten zurückweist; – als Vorsitzende des Liberal-Islamischen Bundes, der für einen aufgeklärten, toleranten und modernen Islam eintritt; – als Deutsche, die gegen eine zunehmende Islamophobie und für eine gleichberechtigte Teilhabe der Muslime in unserem Land auch deshalb kämpft, weil Diskriminierungserfahrungen zu politisch-religiöser Radikalisierung führen können.
Ein Jeder nach seiner Fasson – Die bunte Welt des Islam
Zunächst bot Lamya Kaddor, die aus vielen Auftritten um das weitverbreitete Halbwissen und die daraus resultierende Vorurteile zum Thema weiß, einen Schnelldurchgang durch die Geschichte des Islam und seine verschiedenen Richtungen.
Den Muslimen ist gemein, dass sie Allah als dem einen Gott ergeben sind, und sich dieser dem Propheten Mohammed geoffenbart hat und im Koran die wichtigsten Glaubensgrundsätze niedergelegt sind. Wie diese Grundsätze nun aber im Einzelnen auszulegen sind, darüber hat es in der Geschichte des Islam immer sehr verschiedene Auffassungen gegeben.
Die Islamwissenschaftlerin und liberale Muslimin Lamya Kaddor hat damit kein Problem. Sie meint, dass, anders als einige zentralen Gebote wie das Tötungsverbot, viele Koranabschnitte (Suren) gar nicht eindeutig, sondern mehrdeutig sind. Man solle sich mit seinen begrenzten menschlichen Gaben auch gar nicht anmaßen, immer ganz genau zu wissen, was Allah jeweils gemeint habe, als Beispiel nennt sie die sogenannte „Kopftuch-Sure“.
Auch sei manches nur aus dem historischen Kontext des siebten Jahrhunderts heraus zu verstehen, denn Gott müsse sich den Menschen auch im Horizont in ihrer Zeit offenbaren, weshalb es heute aber nicht mehr so ohne weiteres gültig, ja überholt sei.
Zurück ins siebte Jahrhundert: Salafismus – eine fundamentalistische Variante
Ein Zustand, den die Fundamentalisten nicht aushalten. Sie verlangen nach Eindeutigkeit und verketzern alle von ihrem Verständnis abweichenden Interpretationen. Es gibt sie in jeder Religion, man denke nur an bestimmte evangelische Freikirchler oder orthodoxe Juden.
Salafisten sind nun eine fundamentalistische muslimische Untergruppe, sie halten sich neben dem Koran sehr stark an die überlieferten Berichte über das Leben und die Glaubenspraxis des Propheten (Sunna, Hadithe) und der ersten drei Generationen nach Mohammed, sie seien dem Ideal eines gottgefälligen Lebens sehr nah gekommen.
Dies bedeutet einen sehr starken Geltungs- und Lebensgestaltungsanspruch, der aber zunächst nur für seine Anhänger gilt. Sobald aber versucht wird, die ganze Gesellschaft nach diesem fundamentalistischen Glaubensverständnis auszurichten, spricht man von politischem Islamismus.
Auch dieser kann friedlich sein. Versucht man aber, dieses Ideal mit Gewalt durchzusetzen, ist man ein Dschihadist. Und dies sind die gewaltbereiten Salafisten, die derzeit die größten Sorgen machen. Während man von 6.000 Salafisten in Deutschland insgesamt ausgeht, sind ca. 900 von ihnen gewaltbereit, mindestens 1000 in paramilitärischer Ausbildung, ca. 450 kämpfen v.a. in Syrien und Irak. Ihre Zahl nimmt derzeit sprunghaft zu. Gefürchtet sind auch die radikalisierten Rückkehrer mit Kampferfahrung.
Erfolgsdynamik der Salafisten – Erklärungsversuche
Im zweiten Teil ihres Vortrags versuchte Kaddor diese Anziehungskraft des Salafismus und Dschihadismus gerade für junge Menschen zu erklären.
Zunächst locken die einfachen und klaren Botschaften des Fundamentalismus. Auf alles gibt es eine Antwort. Man muss nur die Gebote einhalten und schon führt man ein gottgefälliges Leben, ist respektierter Teil einer Gemeinschaft der Erleuchteten, die sich immer gegenseitig bestärken. Man erlangt Macht, steht über den Anderen. Die Welt wird übersichtlich sortiert in schwarz und weiß, Freund und Feind.
Die Werber halten nicht nach Islamkennern Ausschau, sondern nach religiös eher Unbedarften, denn sie können der Indoktrination keine eigenen Glaubensgewissheiten entgegensetzen. Dazu kommt als etwas Hausgemachtes, dass auch in vielen Moscheen ein Geist der kritiklosen Hinnahme gegenüber dem herrsche, was vermeintliche Autoritäten predigen.
Dies ist auch für Nicht-Muslime attraktiv, immerhin 10 Prozent der Salafisten sind nichtmuslimische Deutsche, aber ca. 90 Prozent sind eben doch Muslime.
Salafismus als Jugendprotestbewegung? Aufbegehren gegen Diskriminierung und Islamophobie
Und dies hat Gründe, die auch mit dem Verhalten der Mehrheitsgesellschaft der muslimischen Minderheit gegenüber zu tun haben: Lamya Kaddor brachte viele Beispiele der Diskriminierung und Islamophobie.
Angefangen damit, dass ihre Schüler ungleich schwerer einen Ausbildungsplatz bekommen, der Name reicht oft schon zur Ablehnung. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie arbeitslos werden, ist viel höher als bei ihren biodeutschen Altersgenossen, vor vielen Clubs geht die Schranke runter.
Dazu kommt eine Dämonisierung, wie einst bei Sarrazin oder in den Medien, wie jüngst beim unsäglichen Focus-Titel „Bedrohung Islam“. Auch in gebildeteren Kreisen löste der Satz des ehemaligen Bundespräsidenten Wulf, der Islam gehöre zu Deutschland, heftiges Kopfschütteln aus. Laut Umfragen sind 60 Prozent der West- und 80 Prozent der Ostdeutschen islamfeindlich.
Dagegen begehrten junge Muslime auf, insofern sei der Salafismus auch eine Jugendprotestbewegung, der sie sich auch deshalb anschlössen, weil ihnen andere fundamentalistische Alternativen wie etwa der Neonazismus versperrt seien. Bei den Salafisten machten viele junge Muslime nun endlich einmal die Erfahrung, dass es positiv ist, ein Muslim zu sein. Auch persönliche Rache- und Vergeltungswünsche erhielten nicht nur religiöse Weihen, sondern im Dschihad auch eine Realisierungschance. Je erfolgreicher der Dschihad, desto anziehender.
Gegenstrategien: Präventions- und Deradikalisierungsansätze
Im letzten Teil des Abends wurden diverse Präventions- und Deradikalisierungsansätze diskutiert, ein weites Feld. Viele Praktiker meldeten sich zu Wort. Es beginnt im familiären Bereich: Viele jugendliche Salafisten stammen aus zerrütteten Familien, ohne emotionale Bindung. Viele Eltern hatten bis zuletzt nicht geahnt, dass ihre Kinder in den Extremismus abdrifteten. Eine unterstützende Familien- und Jugendhilfe sei hier angezeigt.
Das persönliche Umfeld müsse dafür sensibilisiert werden, wenn sich ein Jugendlicher plötzlich stark verändere, radikalisiere. Man müsse so früh wie möglich gegensteuern, denn ab einem bestimmten Grad seien die radikalisierten Jugendlichen gefühls- und vernunftmäßig nicht mehr erreichbar. Wichtig seien ferner persönlichkeitsstärkende und passgenau integrierende Angebote in Jugendarbeit und Bildung. Das aber koste auch etwas und stehe noch ziemlich am Anfang. Dies alles aber müsse eingebettet sein in eine aufrichtige Willkommens- und Anerkennenskultur gegenüber dem Islam und den Menschen muslimischen Glaubens.
Man kann aber zuletzt auch froh sein, dass es engagierte Menschen wie Kaddor gibt, die einerseits in der muslimischen Community im Sinne einer liberalen Aufklärung tapfer gegen Tendenzen des autoritären Fundamentalismus, der Intoleranz und Gewaltbereitschaft streiten, also die ideologischen Grundlagen von Salafismus und Dschihadismus bekämpfen.
Andererseits verlangt sie aber von der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft, – genauso selbstbewusst, und aus demselben menschenfreundlichen Geist heraus -, endlich ihre islamophoben Tendenzen und ihre systematischen Ausgrenzungen und Diskriminierungen der Muslime zu bekämpfen. Denn solche menschenfeindlichen Aggressionen treiben diese jungen Leute den gewaltbereiten Fanatikern in die Arme.