Friedhofsgeflüster mit der Schwarzen Witwe

Zwielicht auf dem Nordfriedhof in Dortmund

Bei einer Tour über den Nordfriedhof Dortmund verschaffte die freiberufliche Kunsthistorikerin Dr. Anja Kretschmer aus Rostock den Teilnehmenden einen Einblick in die Bestattungskultur des 16. bis 19. Jahrhunderts. Foto: Jürgen Wolf

Von Aimie Rudat

Längst vergessene Geschichten, die sich rund um die Themen Sterben, Tod und Trauer ranken, standen am 25. Februar 2022 im Zentrum der Friedhofstour auf dem Nordfriedhof in Dortmund. Begleitet wird der mystische Rundgang von der Schwarzen Witwe, eine Dame, die aus dem Jahr 1898 stammt und es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Menschen den Umgang mit der eigenen Sterblichkeit anhand alter Totenrituale und Bestattungsbräuche näher zu bringen. Die freiberufliche Kunsthistorikerin aus Rostock – Dr. Anja Kretschmer – erklärt unter anderem, wie man mit dem ungewollten Besuch Verstorbener umgehen sollte oder weshalb die Kopfkissenfüllung den Vorgang des Sterbens maßgeblich beeinflusst, während das Zwielicht der Dämmerung für die passende Atmosphäre sorgt.

Totenbringer in Tierform und Hindernisse vor dem Tod

Untermauert von eigenen Schicksalsschlägen in ihren mittlerweile 124 Lebensjahren, spannt die Schwarze Witwe als Spezialistin auf dem Gebiet der Trauernden einen Bogen von der Trauer- sowie Gedenkkultur des 19. Jahrhunderts bis hin zum damalig vorherrschenden Aberglauben. Als Zünglein an der Waage fungieren hier Vorboten des Todes, die sich oftmals in Tierform ankündigen. Zum einen die Krähe als altbekannter Todesbote. Aber die Krähe bleibt nicht der einzige Vogel mit Aussagemacht über die Lebenserwartung.

Altbekannter Vorbote des Todes: die Krähe. Foto: Depositphotos.com

Auch die Taube spielt als Repräsentation der Seele eine wichtige Rolle in der Trauerkultur, denn damals wurde angenommen, dass die Seele einem Vogel gleicht, der nach dem Tod den Körper verlässt. Ganz besonders vorsichtig sollte man sich jedoch durch das Leben bewegen, wenn Maulwurfshügel vor der Haustür auftauchen, denn hier gilt: Je näher der Hügel desto weniger lang lässt der Tod auf sich warten. ___STEADY_PAYWALL___

Sobald der Tod sich dann im Haus angemeldet hat, besteht die allerhöchste Priorität darin, dem Sterbenden den Übertritt ins Totenreich so angenehm wie möglich zu bewerkstelligen, erklärt die Schwarze Witwe. Dabei stehen der Name des Sterbenden und – aufgepasst – Hühnerfedern im Mittelpunkt. Beides wichtige Faktoren, die den Sterbenden hindern können, sich vom Leben zu lösen.

So ist beispielsweise die Nennung des Namens ein fataler Fehler, der den Sterbenden im Leben verharren lässt. Auch Hühnerfedern im Kopfkissen tragen dazu bei, dass das friedliche Einschlafen unmöglich gemacht wird, denn Hühner gelten als unruhige Tiere, die dem Tod Widerstand leisten. Glücklicherweise lässt sich das Kissenproblem lösen, indem es dem Sterbenden unter dem Kopf gezogen und auf den Boden gelegt wird. Und, falls eine störrische Seele sich trotz allem weigern sollte, das Leben hinter sich zu lassen, genügt es, die Möbel im Zimmer zu verschieben, um den Knoten zu lösen, witzelt Dr. Kretschmer.

Dreitägige Trauerphase und der Tod als Beruf

Nach dem Hinscheiden bleibt für die Hinterbliebenen die Zeit still – wortwörtlich – denn die Uhren wurden für die dreitägige Trauerzeit angehalten und alle Arbeiten niedergelegt. Die intensive Auseinandersetzung mit dem Verstorbenen und der Abschiednahme hatte nun den höchsten Stellenrang. Benötigt für eine erfolgreiche Verabschiedung wurde ein Sarg sowie ein Leichenhemd, die einfachheitshalber nach der Hochzeit direkt in das Haus der frisch gebackenen Eheleute zogen und bis zum Gebrauch oftmals als Lagerort für die gesammelte Ernte dienten. Denn das Leben war kurz zu dieser Zeit und der Tod allgegenwärtig.

Sogenannte Totenfrauen oder auch Leichenbitterinnen – ältere, verwitwete oder kinderlose Frauen – kümmern sich während dieser Zeit um den Leichnam, indem sie ihn waschen, die Beerdigung planen oder auch die Nachricht des Todes an Familie und Freunde weiterleiteten. Todesanzeigen waren im 19. Jahrhundert zwar üblich, aber für die allgemeine Bevölkerung nicht bezahlbar.

Gründung eines Förderkreises zur Erhaltung historischer Grabmale auf dem Nordfriedhof durch Gerda Horitzky
Denkmalgeschütztes historisches Grab auf dem Nordfriedhof Dortmund. Archivfoto: Klaus Hartmann für Nordstadtblogger.de

Die Schwarze Witwe erklärt, dass bei der Überbringung der Nachricht einige Regeln zu beachten seien, denn der Tod wurde von den Menschen zu dieser Zeit als ansteckende Krankheit betrachtet. Unter anderem durften die Leichenbitterinnen weder grüßen noch sich verabschieden und auf gar keinen Fall den Namen des Adressaten nennen, dieser würde dadurch nur einen Platz auf der Liste des Todes finden, so glaubten die Menschen damals.

Auch am Tag der Beerdigung gab es einen strickten Leitfaden, der einzuhalten war, wenn man keinen Poltergeist in seinem Haus herumspuken lassen wollte. So durfte der Sarg etwa nur mit dem Fußende voran aus dem Haus getragen werden, damit die Richtung gen Friedhof vorgegeben wurde.

Glücklicherweise waren Häuser im 19. Jahrhundert durch abnehmbare Türschwellen praktisch gebaut, denn bei dem Heraustragen des Sarges wurden diese einfach abgenommen, damit die Seele des Verstorbenen keine Chance hatte, in das Haus zurückzukehren. Bei dem anschließenden Leichenschmaus ging es oft heiter her, wahrscheinlich weil auch zuletzt der Alkohol nicht fehlen durfte, wurde nur Gutes über den Toten erzählt und auf dessen Seelenheil angestoßen und so der Weg in den Himmel erleichtert.

Trauerzeit für Frau und Mann

Die Beendigung der dreitägigen Trauerphase läutete die Trauerzeit ein. Eine Zeit, die für Männer und Frauen nicht nur unterschiedlich lang war, sondern auch unter anderen Anforderungen durchlebt wurde. So mussten Frauen einerseits ein ganzes Jahr schwarz tragen, durften sich auf sozialen Zusammenkünften für mindestens acht Wochen nicht blicken lassen und höchstens erst nach einem Jahr wieder neu heiraten, vorausgesetzt sie war unter 50 Jahre alt.

Andererseits wurde von Männern nicht einmal eine komplett schwarze Garderobe erwartet – eine einfache Armbinde reichte aus. Auch der soziale Druck sich fern von jeglichen Festen zu halten, traf auf Männer nicht zu.

Ganz im Gegenteil, von ihnen wurde erwartet, schnellstmöglich eine neue Frau zu finden, denn ganz ohne waren sie einfach nicht überlebensfähig. Wichtig war es – trotz Trauerzeit – keine Trauer mehr zu zeigen, denn nach der dreitägigen Trauerphase wurden die Uhren wieder aufgezogen, das Leben begann und auch die Arbeit wurde wieder aufgenommen.

Der Tot kennt kein Alter

Ein ganz besonderer Bestattungsbrauch war die Totenkrone für verstorbene Kinder. Aus den verschiedensten Materialien wurde hierfür ein Kranz gebastelt und später in einem Glaskasten in der Kirche ausgestellt, um das kurze Leben des Kindes in Erinnerung zu behalten.

Aufgrund von Platzmangel und einer hohen Kindersterblichkeit verschwand dieser Bestattungsbrauch nach und nach in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert von der Bildfläche

Wie man den ungewollten Besuch Verstorbener vermeiden kann

Man könnte meinen, dass eine Friedhofsführung im Zwielicht der Nährboden für schaurige Vampirgeschichten sei, aber an Vampiren im klassischen Sinne – wie wir sie aus Film und Fernsehen kennen – haben die Menschen im 19. Jahrhundert nicht geglaubt.

Die Gestalten der Nacht – die die Albträume der Menschen heimgesucht haben – hießen anders und waren auch nicht unbedingt böse, erklärt Dr. Kretschmer. Zum einem gab es die meist friedlichen Wiedergänger und zum anderen die hartnäckigen ganze familienauslöschenden Nachzehrer. Wiedergänger sind nicht nur Gruselgestalten, sondern vor allem Manifestationen von Sehnsucht nach Verstorbenen.

So tauchen sie beispielsweise oft auf, wenn eine hinterbliebene Person nicht loslassen kann und auch nach langer Zeit den Verstorbenen noch betrauert, wie beispielsweise im Grimmschen Märchen „Das Totenhemdchen“.

Kunsthistorikerin Dr. Anja Kretschmer
Kunsthistorikerin Dr. Anja Kretschmer Foto: Jürgen Wolf

Hier weint eine Mutter so lange über den Tod ihres kleinen Sohnes, dass er als Wiedergänger nachts in ihrem Zimmer auftaucht und sie darum bittet nicht mehr zu weinen, da sein Totenhemdchen durch ihre Tränen ganz durchtränkt sei und er so nicht friedlich einschlafen könne.

Im starken Kontrast dazu, haben die Nachzehrer das Zeug dazu, dass Monster in einer Horrorgeschichte zu spielen. Schon der Name lässt darauf schließen, dass diese Kreaturen aus einem bestimmten Grund ihr altes Heim weiter aufsuchen: Sie können erst ihren Frieden finden, wenn sie ihre gesamte Familie zu sich gelockt haben.

Die Ausrottung der Familie kann vermieden werden, durch die Beachtung bestimmter Zeichen bei der Geburt des Kindes, verrät die Schwarze Witwe. Neben einem Zahn im Mund des Neugeborenen, ist auch die sogenannte „Mütze“ – bestehend aus Fruchtblasenresten – auf dem Kopf des Kindes ein Indikator für potenzielle Nachzehrer.

Präventiv kann diese Entwicklung aufgehalten werden, wenn entweder der Zahn gezogen wird oder – Achtung jetzt wird es kurios – die „Mütze“ verbrannt, zu Asche vermahlen, mit der Muttermilch gemischt und zu guter Letzt dem Kind eingeflößt wird.

Bei Missachtung der Zeichen bleibt den Angehörigen nur die Anwendung von Gewalt übrig, indem der Sarg wieder ausgebuddelt, der Kopf des Leichnams abgeschlagen und die Leiche vorsichtshalber noch mit Ketten oder Steinen beschwert wird. Ein Handlungsablauf der heute durch archäologische Befunde tatsächlich bewiesen werden konnte, so Dr. Kretschmer.

Salz, Kräuterlikör und weitere Friedhofsgeschichten

Foto: Aimie Rudat für Nordstadtblogger.de

Abgeschlossen wird der Rundgang in bitterkalter Dunkelheit, die nun ein waschechtes Friedhofsflair liefert. Mit Salzfläschchen gegen lästige Friedhofsgeister ausgerüstet – den Aufhockern, die gerne einem Besucher auf die Schulter aufspringen und so aus dem Friedhof gelangen – und einer Flasche Seifenblasen, wird der Rundgang mit einem besonderen Ritual aus dem Barock beendet.

Denn zu dieser Zeit wird das Leben mit einer schillernden und doch so zerbrechlichen Seifenblase gleichgesetzt, und häufig als Gruß an die Verstorbenen in die Luft gepustet.

Bei Interesse an weiteren schaurig schönen Geschichten über Sitten und Bräuche aus einer längst vergangenen Zeit kann das Buch zur Führung für 19,90 Euro bei der Schwarzen Witwe erworben werden, dazu als kleinen Absacker einen selbstgemachten Kräuterlikör.

Weitere Informationen: www.friedhofsgefluester.de

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