Die Familie Kubaşık und das Bündnis Tag der Solidarität – kein Schlussstrich empfing am 4. April 2024 viele Gäste aus ganz Deutschland in Dortmund. Gemeinsam gedachten die Hinterbliebenen anlässlich des Mordes an Mehmet Kubaşık vor 18 Jahren allen Opfern rassistischer, rechtsextremer und antisemitischer Morde. Die Sprecher*innen thematisierten auf der Gedenkveranstaltung mit berührenden Worten aktuelle und vergangene Gewalttaten von rechts, den Brandanschlag in Solingen und die Deportationsfantasien der AfD.
Erinnerung nach 18 Jahren: „Niemand ist vergessen”
Gülcan und Frederic vom Bündnis Tag der Solidarität moderierten die Veranstaltung in Erinnerung an den „liebevollen, beliebten und humorvollen Familienvater” Mehmet Kubaşık, der zum achten Opfer des NSU wurde. „Er war Dortmunder und wollte nicht woanders hin”, so die Veranstalter. 2023 sprach erstmals Mehmets Tochter Gamze selbst auf der Veranstaltung. ___STEADY_PAYWALL___
Nach einer Schweigeminute am früheren Kiosk wanderten die 400 bis 500 Demoteilnehmer:innen von der Mallinckrodtstraße zum Nordausgang des Hauptbahnhofs. Dort befindet sich auch das Mahnmal für alle Opfer des NSU.
Aber nicht nur der NSU hat in Deutschland Menschen aus rassistischen, rechtsextremen und menschenfeindlichen Motiven ermordet. Aus ganz Deutschland richteten Angehörige aus einem Netzwerk der Hinterbliebenen persönlich oder mit Audionachrichten ihre Grußworte an Familie Kubaşık und an die Anwesenden.
Gamze Kubaşık bedankte sich bei allen für ihre Teilnahme. Sie erklärte: „Der Schmerz über den Verlust meines Vaters wird auch nach 18 Jahren nicht weniger. Wir können das kaum verarbeiten, aber wir haben einen Umgang damit gefunden. Es ist ungerecht, dass mein Vater nicht sehen kann, wie seine Enkelkinder aufwachsen. Es ist ungerecht, dass mein Vater nicht sehen kann, wie sein BVB spielt. Es ist ungerecht, dass mein Vater nicht sehen kann, dass es Frühling in seinem Garten wird. Es ist ungerecht, weil er immer noch jeden einzelnen Tag fehlt.”
„Es ist ungerecht, dass mein Vater nicht sehen kann, dass es Frühling wird”
„Dass ich heute hier stehe und das mache, was ich mache, habe ich meiner Mutter zu verdanken, meiner Mutter und ihrer starken Bindung zu meinem Vater. Trotz des Verlustes und der vielen Rückschläge war sie immer für mich und für meine Brüder da.” Bei vielen Anlässen sei sie im Laufe des Lebens mit ihren Kindern alleine gewesen und musste die Verantwortung übernehmen.
„Wir sind immer verbunden mit der Geschichte dieses Landes, unseres Landes. Sie haben das Leben meines Vaters ausgelöscht. Aber unsere Stimme, sein Andenken und seine Menschlichkeit lebt in uns und unseren Kämpfen weiter. Wir fordern Veränderungen und werden auch selbst dazu beitragen.”
Sie wies auf das kommende Mehmet-Kubaşık-Kinderfest am 5.Mai hin und auf den Fußballcup der Nordstadtliga, der seinen Namen trägt. „Besonders die Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen gibt mir Kraft. Es macht mich glücklich, Menschen zu sehen, die sich für Veränderungen einsetzen und an meinen Vater erinnern, obwohl sie noch nicht mal geboren waren, als mein Vater aus rassistischen Gründen ermordet wurde. Auch wenn im vergangenen Jahr viel erreicht wurde, ist noch viel zu tun.”
Kritik am Urteil: „Keine Familie wird es vergessen, wie die Nazis applaudiert und gejubelt haben”
Den Aufbau eines bundesweiten Dokumentationszentrums nannte sie wichtig, aber die gesellschaftliche Verantwortung und die Aufarbeitung sei damit noch nicht beendet. „Wir haben erlebt, dass wir vor dem Gericht nicht gleich waren. Keine Familie wird es vergessen, wie die Nazis applaudiert und gejubelt haben, als das Urteil im NSU-Prozess in München gesprochen wurde.”
Auch Anwältin Seda Başay-Yıldız fand dies inakzeptabel: „So ein Urteil bestätigt die Neonaziszene und vor allem die Nachrichtendienste. Besonders kritikwürdig sind für mich und für meine Kollegen, dass sich die Urteilsbegründung auf die Behauptung von Sicherheitsbehörden und der Bundesanwaltschaft stützt, dass der NSU nur aus drei abgeschotteten Personen bestanden hätte. Dazu passt auch, dass in den schriftlichen Urteilsgründen, in diesen 3025 Seiten, die Rolle der Nachrichtendienste und der Polizeibehörden völlig totgeschwiegen wird”.
Sie kritisierte erneut sehr deutlich die Ermittlungen gegen die Familie, die sogenannte unbescholtene Bürger, nicht kriminell, waren. Unmenschlich, unwürdig seien sie behandelt worden. „Das Urteil darf auf keinen Fall ein Schlussstrich sein”, so Başay-Yıldız. Und Gamze Kubaşik stellte klar: „100 Prozent Aufklärung und nichts anderes.”
Verbunden in Trauer und Wut: Angehörige der Opfer vernetzen sich bundesweit
Wie Gamze Kubaşik feststellte, seien sie mit vielen Menschen verbunden, ihr Schicksal werde mit anderen geteilt. Eine besondere Rolle spielt dabei Semiya Şimşek aus Kassel, ihr Vater Enver wurde zum ersten Opfer des NSU. Die beiden Frauen hatten sich 2006 auf einer Demo in Kassel kennengelernt.
Semiya Şimşek erinnerte sich: „Als ich dich auf der Demo in Kassel kennengelernt haben, sah ich in deinen Augen deine Verzweiflung und deine Angst. Seit Jahren sehe ich nicht mehr das Mädchen, das verzweifelt ist, sondern eine starke aktive Frau, die für ihren Vater für Aufklärung und Gerechtigkeit kämpft. Wir sind gemeinsam stark.”
Die Familien und Freunde der Opfer formulierten früh den Verdacht, dass die Morde von Nazis begangen worden sein konnten. Dass dies bis zur Selbstenttarnung von allen Behörden ignoriert wurde, kritisierte auch die Anwältin deutlich.
„Zufällig flog die ganze Sache auf, nicht durch die großartige Ermittlungsarbeit der Polizei, die nur damit beschäftigt war, die Opfer und ihre Angehörigen zu kriminalisieren. Der Rechtsstaat hat die Opfer des NSU-Terrors im Stich gelassen. 438 Tage, fünf Jahre haben wir in München vor dem Oberlandesgericht verhandelt, bis das Urteil gefallen ist. Und am Ende von 438 Verhandlungstagen wurden die Opfer in den mündlichen Urteilsgründen mit keinem Wort erwähnt”.
In Schriftform umfasste das Urteil 3025 Seiten – „3025 Seiten voller Kälte”, so Başay-Yıldız. Als ob die Opfer keine Menschen seien, sondern Statisten. „Ebenso wenig finden sich die Worte Bundesamt für Verfassungsschutz oder Thüringisches Landesamt für Verfassungsschutz im Urteil. Temme, der Verfassungsschützer aus Kassel, hat nie eine Rolle gespielt, obwohl er tagelang im Prozess vernommen wurde”.
Die Tochter von Theodoros Boulgarides widersprach deutlich: „Wir sind keine Statisten“ und forderte die vollständige Aufklärung und mehr Prävention. „Wir kämpfen täglich für ein besseres Deutschland, für unser Heimatland.“
Zehn Jahre nach dem NSU: wenig Veränderung bei Ermittlungen der Polizei
„Wenn über Rechtsterroristische Anschläge nach dem NSU gesprochen wird, bleibt der Anschlag am Olympia-Einkaufszentrum in München am 22. Juli 2016, bei dem neun Menschen ermordet wurden, oft unerwähnt”, erklärte das Bündnis. Darunter war Selçuk Kiliç, der nur 15 Jahre alt wurde. Seine Mutter war auch nach Dortmund gereist. Die Reaktion auf die Tat und die Ermittlungen dort hatten viel Ähnlichkeit zur Erfahrung der Familie Kubaşik.
„Auch bei uns wurde jahrelang nicht von rechtem Terror gesprochen, obwohl alle Hinweise und Beweise eindeutig auf der Hand lagen. Als Opferfamilien wurdet ihr zum Teil jahrzehntelang zu Tätern gemacht, anstatt Solidarität zu erhalten. Uns wurde die Solidarität genommen, weil der Anschlag am OEZ als Amoklauf entpolitisiert wurde“, berichtet Selçuks Mutter Yasemin Kiliç.
„Die Täterfamilie wurde von den Behörden geschützt und wir wurden als Gefährder behandelt. Auch das ist Täter-Opfer-Umkehr. Wir sehen also: die Behörden haben nach dem NSU keine Konsequenzen gezogen. Dieses Vorgehen hat Struktur und diese Struktur muss endlich durchbrochen werden“, so Kiliç.
Auch Sibel Leyla hat durch die Tat ihren Sohn, Can, verloren. Sie sah auch die Parallelen zwischen dem Attentat in München und den Taten des NSU, aber München werde in den Erzählungen ausgeklammert: Diese Botschaften sind an uns gerichtet. Es sind immer die gleichen Motive, die uns und unsere Familien zum Zielscheiben machen. Diese Morde müssen aufhören.”
Aber die Realität sei: „Mit dem Brandanschlag in Solingen am 25.März, bei dem eine türkisch-bulgarische Familie getötet wurde, scheint sich nun alles zu wiederholen”. Deutschland müsse erkennen, dass es in diesem Land rechten Terror gebe und unschuldige Menschen getötet würden. „Ich glaube, es ist an der Zeit, diese unerträgliche Situation in Deutschland vor das europäische Parlamente und andere internationale Gremien zu bringen und dem Schweigen so schnell wie möglich ein Ende zu setzen”, forderte Sibel Leyla.
„Niemand kann uns vertreiben” – keinen Raum für Hass lassen
Dieses Jahr ist es Solingen, 2020 war es Hanau, 2019 war es Halle: İsmet Tekin zeigte sich in Dortmund empört über die mangelhafte Aufklärung der Taten und die fehlende Reaktion der Politik: „Keiner tut was. Egal, wo wir hingehen wir werden als Menschen zweiter Klasse behandelt. Wir werden ignoriert von deutschen Behörden. Ohne uns gäbe es kein Deutschland. Wir haben zusammen dieses Land gebaut, wir bauen weiter. Wir kämpfen weiter für uns, auch für Deutschland. Aber Deutschland macht nichts für uns.”
Er betonte, dass Taten wie die des NSU in ganz Deutschland, in allen Bundesländern vorkommen würden und dass der Schmerz von Familie Kubasik nach 18 Jahren noch der gleiche sei, wie am ersten Tag. „Wenn man sich schämt, dann lässt man die Menschen nicht unter Schmerzen leiden”, sagte er in Bezug auf Deutschland und deutsche Politik.
Die Angehörigen hätten sich vernetzt, denn „viele Familien sind dadurch kaputt gegangen, ausgelöscht. Sie sind körperlich da, aber geistig nicht. Wir kämpfen dafür, dass nie wieder eine Familie zerstört wird.”
Migrantenvereine richten Forderungen an die Politik
Fatoumata Schulze Zumhülsen, Vorstandsmitglied im Verband der Migrantenvereine (VMDO), stellte den Bezug zur gesellschaftlichen Entwicklung und dem Aufstieg der AfD her: „Während öffentliche rassistische und diskriminierende Äußerungen immer salonfähiger werden und in der Mitte der Gesellschaft verwurzelt sind, steigen die Zahlen rassistisch motivierter Übergriffe stetig an”.
Der Verband forderte alle politischen Parteien auf, sich klar und noch eindeutiger vom Rechtsextremismus zu distanzieren. Weitere Forderungen richtete sie an die Justiz, an die Landtage, den Bundestag und den Bundesrat zur Bekämpfung jeder Form von Abgrenzung und Diskriminierung.
„Wir fordern auf, eine Erinnerungskultur gegen Fremdenfeindlichkeit in die Wege zu leiten und weitere und wirksamere Maßnahmen für eine Willkommenskultur zu fördern. Wir fordern die kommunalen Räte auf, ihre Masterpläne `Teilhabe’ zu aktualisieren, scharfe Maßnahmen gegen die vor Ort agierenden Nazis zu beschließen und diese konsequent umzusetzen”.
„Gegen die Angst für das Leben – Solidarität statt Schlussstrich”, mit diesen Worten endete die Veranstaltung zum Gedenken an Mehmet Kubayik 2024. Solange Fragen über den Mord an ihrem Vater, ihrem Mann oder Großvater Mehmet unbeantwortet bleiben, werden die Hinterbliebenen Aufklärung fordern.
In Erinnerung an: Kuncho, Katja, Galia und Emilia (Solingen), Burak Bektaş (Berlin), Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov (Hanau), Kevin S. und Jana L. (Halle)
Selçuk Kiliç, Sabine S., Can Leyla, Sevda Dağ, Hüseyin Dayıcık, Roberto Rafael, Guiliano Kollmann, Armela Segashi, und Dijamant Zabërgja (München)
Und die Opfer des NSU: Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, Ismail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat, Michèle Kiesewetter
Mehr Informationen:
- Zum Bündnis: https://tagdersolidaritaet.wordpress.com/
- Mit dem Hashtag #saytheirnames machen die Angehörigen die Opfer in Hanau als Menschen sichtbar, statt den Täter in den Vordergrund zu rücken.
- Nach Recherchen der Amadeu Antonio Stiftung: Mindestens 219 Todesopfer rechter Gewalt seit der Wiedervereinigung 1990 sowie 16 weitere Verdachtsfälle. Link zur Amadeo Antonio Stiftung: https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/todesopfer-rechter-gewalt/
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Protokolle des NSU-Prozesses von NSU Watch: https://www.nsu-watch.info/
Die Initiativen:
- https://19feb-hanau.org/
- https://anschlag.halggr.de/
- https://muenchen-erinnern.de/
- https://www.inidu84.de
- https://burak.blackblogs.org/
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