Wenn ich mich an meine Oma kurz vor ihrem Tod erinnere, kommen mir zwei Dinge sofort in den Sinn: Ein leerer Blick und die Frage: „Wer bist Du?“ Ein paar Jahre lang saß da eine Frau an der immer selben Stelle auf ihrem Sofa, die wie ein halbwacher Geist im Limbus der Welten zwischen Erinnern und Vergessen auf den Tod wartete.
Von Irrlichtern der Gefühle und gedanklichen Nebelkerzen
Ähnliche Abgründe muss Regine Anacker im Sinn gehabt haben, denn sie schrieb ein Stück über die am wenigsten erstrebenswerten Facetten einer wohl am wenigsten rühmlichen Erkrankung. Mit ihrem ersten eigenen Theaterstück heftet sich die freie Texterin, Lektorin und Autorin damit eng an die schrundigen Fersen des Älterwerdens, Altseins und des Abschieds. In der neuen Eigenproduktion „Halbwache Geister – Ein Abend im Heim“ geht es um Altersdemenz und bei genauerem Hinsehen um noch sehr viel mehr.
„Halbwache Geister – Ein Abend im Heim“, das von Jung-Regisseur Ludwig Robert Juhrich und Sprechchorleiter Ekkehard Freye gemeinsam mit dem Dortmunder Sprechchor auf die Bühne gebracht wurde, handelt von Rast- und noch mehr Ratlosigkeit, von Irrlichtern der Gefühle und gedanklichen Nebelkerzen, von dem „In-Würde-Leben“ und einem Recht auf Vergessen, das Betroffenen in dieser Gesellschaft gerne abgesprochen wird.
Vergangenes und Vergänglichkeit werden in den unterschiedlichen Figurenensembles zu einer avantgardistischen Pastiche verdichtet, in der es keine neuen Ideen und aus der es auch keinen Ausweg gibt. Die Synchronität berühmter, intonierter Zitate ist dadaistische Kakophonie, die die asynchrone Topographie des Heims als Wartezone auf den Tod nur noch absurder erscheinen lässt. Nicht nur das Quietschen der Rollatoren und das beschwichtigende Genörgel des Pflegepersonals machen „Halbwache Geister“ zu einer strapaziösen Testfahrt in den Abgrund.
„Old age ain’t no place for Sissies“ wusste schon Bette Davis
Die „Götter in Weiß“ tragen Krawatten mit Rorschachtest-Muster und wissen auch nicht weiter. Der Sprechchor inszeniert sich als randständiges Rollatorengeschwader.
Der Abend ist in ein gleichmütiges Taubenblaugrau getaucht und fast meint man den Geruch von Desinfektion, Linoleum und süßlich-muffigen Pyjamas einzuatmen.
Nur die alte Katze – eine Figur gespielt von der Dortmunder Künstlerin und Performerin Gudrun Kattke – verstreut buchstäblichen Glitzer, wenn die „Dame Gegenüber“ und „Herr O“ mal einen hellen Moment haben.
Die Uraufführung von „Halbwache Geister – Ein Abend im Heim“ hinterlässt das Publikum mit der Einsicht, die schon Bette Davis hatte: Altwerden ist kein Ort für Feiglinge und Altsein nur ein Teil des Ganzen, an das sich die ‚halbwachen Geister‘ nicht mehr erinnern können!
Das Theater wird als immersiver Raum genutzt
Während das Kino sich in der jüngeren Vergangenheit nur vereinzelt mit dem Thema beschäftigte, gibt es laut der Deutschen Alzheimer Gesellschaft schon einige Theaterstücke über Alzheimer und Demenz.
Eindrucksvolle Theateradaption zum Thema ist zum Beispiel Florian Zellers THE FATHER mit Anthony Hopkins (UK 2020), erzählt aus der stetig wachsenden Irritation des Demenzkranken selbst.
Ebenso stark ist Gaspar Noés Filmhommage VORTEX (F/B 2021) – ein Film wie eine bittere Pille, die tagtäglich das zerstreute Leben eines Paares am Ende ihres Weges (brilliant gespielt von Dario Argento und Françoise Lebrun) mithilfe von Splitscreen-Einstellungen begleitet.
Regine Anacker, die selbst seit 2010 aktives Mitglied des Dortmunder Sprechchors ist, nutzt das Theater für „Halbwache Geister“ als immersiven Raum, in dem das wartende Publikum bereits vor dem Einlass ins Studio mit der Absurdität von Demenz und den Fragen der dementen Patient:innen konfrontiert wird: „Entschuldigen Sie, wissen Sie, wo ich wohne?“
Die Besucher:innen des Stücks werden damit schon zu Beginn in einen Zustand zwischen Mitleid und Hilflosigkeit versetzt. Es scheint als würde die Übergriffig- und Distanzlosigkeit der Krankheit selbst immer stärker, je weiter sich die Erinnerungen von ihren Besitzer:innen entfernen.
Eine Schwermut, die sich taubenblaugrau anfühlt
Nach einer Stunde intensiver Auseinandersetzung mit Anackers Stück muss man seine eigenen Gehirnzellen erst einmal wieder zusammenfegen. Ihre performative Assemblage folgt der forensischen Pathologie von Altersdemenz, die eingebaut ist in die Architektur unterschiedlicher Theatertraditionen.
Antonin Artauds „Theater der Grausamkeit“ und Tristan Tzaras eigensinnig dadaistisches „Simultangedicht“ machen Anackers „Halbwache Geister“ zu einer Erfahrung, die sowohl körperlich und emotional einmalig ist.
So verlässt man das Theater mit einer Schwermut, die sich taubenblaugrau anfühlt und – zumindest zuletzt noch – mit den Worten aus Rammsteins „Seemann“ endet: „Wo willst du hin / So ganz allein treibst du davon / Wer hält deine Hand / Wenn es dich nach unten zieht?“
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Weitere Vorstellungen von „Halbwache Geister – Ein Abend im Heim“ im Studio des Schauspiels sind am 18. Juni um 18.30 Uhr und am 21. Juni um 20 Uhr zu sehen.