UPDATE: Leider ist das öffentliche Gedenken in Dorstfeld aufgrund des Infektionsgeschehens abgesagt worden. Näheres hierzu erfahren Sie im Kommentarbereich am Ende des Artikels.
Aus zeitgenössischer Sicht wirkt Geschichte oft surreal. Selbst wenn es ihnen ein aufrichtiges Anliegen ist, können die Nachkriegsgenerationen, die in zunehmendem Wohlstand aufgewachsen sind, das Leid, den Schmerz, den Kummer und die Entbehrungen der Menschen während der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland und Europa und des von ihnen ausgelösten Zweiten Weltkriegs nur abstrakt nachempfinden. 65 Millionen getötete Menschen, davon weit mehr Zivilist*innen als Soldaten, der teilweise industriell abgewickelte Massenmord an rund sechs Millionen Jüdinnen und Juden, die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki – alles Daten und Fakten, die uns bewusst sind, die jedoch unser Vorstellungsvermögen schlichtweg überfordern. Daher ist es umso wichtiger, immer wieder mahnend an das Geschehene zu erinnern – auch in Pandemiezeiten.
Beunruhigende Entwicklungen machen das Erinnern so wichtig
Der 9. November bietet jährlich einen dieser Anlässe, an das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte zu erinnern. Vor 82 Jahren, im November 1938, zeigten die Nationalsozialisten der deutschen Öffentlichkeit erstmals völlig ungeniert ihr wahres menschenverachtendes Gesicht. ___STEADY_PAYWALL___
In der sogenannten Reichspogromnacht machten sie gegen die jüdische Bevölkerung in Deutschland mobil, zerstörten deren Geschäfte und Wohnungen, zündeten Synagogen an, misshandelten und ermordeten Menschen auf offener Straße. Ein tödliches Attentat auf einen deutschen Diplomaten in Paris diente ihnen als Anlass, den „Volkszorn“ heraufzubeschwören, um die „jüdische Weltverschwörung“, die sie international für alles verantwortlich erklärten, was nicht in ihr ideologisches Weltbild passte, im Keim zu ersticken.
Dass diese – einer anderen Zeit entsprungene, anachronistische und jeder wissenschaftlichen Erkenntnis beraubte – Geisteshaltung in Deutschland dennoch in erschreckendem Ausmaß die Jahrzehnte überdauert hat, beweisen die Geschehnisse der vergangenen Jahre.
Zeitgeist erfordert Wachsamkeit – Rassismus als gesamtgesellschaftliches Problem
Der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, der Anschlag auf eine jüdische Synagoge in Halle, die rassistisch motivierten Morde in Hanau und jüngst die Verbindungen deutscher Sicherheitsbehörden zu rechtsextremen Netzwerken beweisen, dass das Gift nationalsozialistischen und rassistischen Denkens immer noch in den Venen und Arterien der Gesellschaft pulsiert.
Umso wichtiger ist die aufklärerische, erinnernde und mahnende Arbeit der Antifaschist*innen und Demokrat*innen in Deutschland und weltweit geworden. Auch wenn uns die Coronapandemie in diesem Jahr fest im Griff hat und das gesellschaftliche Leben diktiert, dürfen solch wichtige Ereignisse und Entwicklungen nicht in Vergessenheit geraten.
Auch wenn das Virus in der Lage ist, die Gesellschaft wirtschaftlich lahm zu legen, geht der ideologische Kampf gegen Rassismus, Nationalismus und alles, was die demokratische Grundordnung zu zerstören droht, weiter. Auch in Dortmund rufen daher die unterschiedlichsten Akteure, Vereine und Initiativen zum diesjährigen Pogromgedenken auf. Aufgrund des Infektionsgeschehens natürlich in schutzverordnungskompatibler Variante.
Auf Grund der aktuellen Situation werden das Gedenken am 9. November zum 82. Jahrestag der Pogromnacht sowie die zentrale Gedenkstunde der Stadt Dortmund zum Volkstrauertag am 15. November nicht öffentlich, ohne Gäste und ohne Medien als „stille“ Formate mit Kranzniederlegungen stattfinden. Aber es gibt auch Präsenzveranstaltungen.
Quartiersdemokraten laden zum Gedenken zur Pogromnacht in Dorstfeld am 9. November
Am 9. November findet um 15 Uhr eine Veranstaltung in Gedenken und Erinnerung an die Opfer der Pogromnacht am jüdischen Mahnmal in Dorstfeld statt. Mit Rede- und Kulturbeiträgen soll dort den Opfern der nationalsozialistischen Verbrechen gedacht werden und ein Zeichen gegen den aktuellen Antisemitismus gesetzt werden.
In diesem Jahr jähren sich die nationalsozialistischen ‚Novemberpogrome‘ zum 82. Mal. Am 9. November 1938 kam es im ganzen Land zu organisierten antisemitischen Angriffen: Synagogen wurden in Brand gesetzt, jüdische Einrichtungen, Wohnungen und Geschäfte wurden zerstört und geplündert. Auch in Dortmund brannten Synagogen. Die Pogrome markierten einen gewalttätigen Übergang zu der systematischen Verfolgung von jüdischen Menschen in Deutschland, die in der Shoah, der grausamen Vernichtung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden, mündete.
Wie in jedem Jahr wird daher in Dorstfeld eine Gedenkveranstaltung am jüdischen Mahnmal stattfinden. Unter anderem werden Baruch Babaev, Rabbiner der jüdischen Gemeinde Dortmund, Oberbürgermeister Thomas Westphal sowie Ralf Stoltze, Bezirksbürgermeister Innenstadt-West, Worte an die Teilnehmenden richten.
„Es ist unsere Pflicht, gemeinsam zu zeigen, dass Antisemitismus in Dortmund keinen Platz haben darf.“
Schülerinnen und Schüler der Martin-Luther-King-Gesamtschule sowie Mitglieder der antirassistischen Gruppe „TARA – Teens against racism and antisemitism“ werden sich mit eigenen Texten zu den Themen Gedenken und Antisemitismus beteiligen. Musikalisch begleitet wird das Gedenken von Wolfgang Brust und Sevgi Kahraman-Brust.
Organisiert wird die Gedenkveranstaltung durch das Projekt Quartiersdemokraten. Veranstalter ist der Verein zur Förderung von Respekt, Toleranz und Verständigung in Dortmund-Dorstfeld e.V. Karl-Walter Hollmann, Ehrenvorsitzender des Vereins:
„Trotz der COVID-19-Pandemie möchten wir als Verein ein würdevolles Gedenken ermöglichen und als Zivilgesellschaft in Dorstfeld an die Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen erinnern. Auch in Zeiten des verstärkten Aufkommens von antisemitischen Verschwörungen ist es unsere Pflicht gemeinsam zu zeigen, dass Antisemitismus in Dortmund keinen Platz haben darf.“
Die Veranstaltung soll neben der Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen auch ein Zeichen gegen den aktuellen Antisemitismus setzten: Vivianne Dörne, Mitarbeiterin im Projekt Quartiersdemokraten erklärt hierzu:
„Mit dem alljährlichen Gedenken an die schrecklichen Ereignisse im Nationalsozialismus möchten wir aber auch ein deutliches Zeichen gegen den aktuellen Antisemitismus setzen, denn dieser ist auch 81 Jahre nach der Pogromnacht weiterhin präsent und bedroht jüdisches Leben in der Bundesrepublik. In Krisenzeiten, wie wir sie aktuell erleben, können wir beobachten wie anschlussfähig antisemitische Verschwörungsmythen sind – Antisemitismus ist eben nicht nur zentral für den Rechtsextremismus, sondern auch ein gesamtgesellschaftliches Problem. Darauf müssen wir aufmerksam machen.“
Gedenken in Zeiten der COVID-19-Pandemie
In diesem Jahr wird auf das Begleitprogramm zur inhaltlichen Auseinandersetzung zu den Themen Antisemitismus und Nationalsozialismus aufgrund der COVID-19-Pandemie verzichtet. Das alljährliche Gedenken findet unter entsprechenden Hygienemaßnahmen um 15 Uhr am jüdischen Mahnmal statt.
Während der gesamten Versammlung ist das Tragen einer Mund- und Nasenbedeckung Pflicht. Es gilt ein Abstandsgebot von 1,5 Metern, welches mit Hilfe von Markierungen eingehalten wird. Bei Erkältungs- oder Corona spezifischer Symptomatik sowie bei Personen, die positiv auf SARS-CoV-2 getestet wurden, ist eine Teilnahme ausgeschlossen.
Die Veranstalter weisen zudem darauf hin, dass aufgrund der Versammlung die Bus- und Bahnhaltestellen ‚Wittener Straße‘ ab ca. 14.50 nicht mehr angefahren werden.
Künstlerisches Gedenken vor der Reinoldikirche bereits am 7. November
Bereits am Samstag, den 7. November 2020, erinnert das Bündnis „Dortmund gegen Rechts“ in Kooperation mit der Koordinierungsstelle für Vielfalt, Toleranz und Demokratie und der Dortmunder Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN/BdA) mit der Aktion „Scherbenspur“ an die Ereignisse der Reichspogromnacht. Die künstlerische Ton-, Text- und Bildcollage wird ab 16:30 Uhr auf dem Westenhellweg vor der Reinoldikirche in der Innenstadt zu sehen sein. Der Titel „Scherbenspur“ rührt daher, dass in der Pogromnacht jüdische Mitbürger*innen gezwungen wurden, barfuß über die mit Glasscherben bedeckten Straßen zu laufen.
In ihrem gemeinsamen Gedenkaufruf heißt es: „Die Scherbenspur führt in die dunkelste Zeit unserer Geschichte. Der Hitlerfaschismus errichtete sein „Drittes Reich“ auf Völkermord und Verbrechen ohne Ende. Alle, die dem völkischen Wahn der „arischen Herrenmenschen“ nicht entsprachen, mussten vernichtet werden.
Die jüdische Bevölkerung litt nach der Machtübergabe an die Faschist*innen unter immer brutalerer Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung. Der von langer Hand und zentral vorbereitete Pogrom traf sie dennoch unvorbereitet. Er war das Fanal zur sogenannten „Endlösung“, zum Mord an Millionen jüdischer Menschen.
In der Nacht vom 9. auf den 10. November brannten in ganz Deutschland die Synagogen, wurden Juden und Jüdinnen ermordet, gejagt und geschlagen, verhaftet und in die Polizeistationen und Konzentrationlager verschleppt. Ihre Wohnungen und Geschäfte wurden zerstört und geplündert.
Historischer „Appell an alle anständigen Deutschen“ mit beängstigender Aktualität
In Dortmund wurden 75 Prozent der erwachsenen Jüdinnen und Juden von der Gestapo in die Steinwache verschleppt. SS und SA wüteteten in der Innenstadt und den Stadtteilen.Die Hörder Synagoge ging in Flammen auf, die große Synagoge in der Innenstadt war bereits zerstört worden. Nach dieser Nacht gelang es nur wenigen, ins Ausland zu fliehen und den Konzentrationslagern zu entkommen.
Von 1942 bis 1945 wurden von Dortmund aus 5000 jüdische Familien nach Riga, Lublin, Theresienstadt und Auschwitz transportiert. Die wenigsten haben überlebt. Unser Gedenken heißt, heute aktiv werden gegen Antisemitismus, Rassismus und Antikommunismus. Nie wieder Faschismus! Nein zum Krieg!“
Neben der künstlerischen Installation werden am Samstag unter anderem Augenzeugenberichte aus Dortmund zu hören sein. Schauspieler Andreas Weißert wird einen damals unter Lebensgefahr verbreiteten „Appell an alle anständigen Deutschen“ vortragen. Dass dieser historische Appell alles andere als veraltet ist, beweist beispielhaft der Anschlag auf die Synagoge von Halle. Auch an ihn wird in einem Beitrag erinnert. Peter Sturm wird die Veranstaltung mit jiddischen Liedern begleiten.
Gedenkweg in der Petrikirche vom 9. bis zum 14. November
Und auch die Kirche schließt sich dem Pogromgedenken an. Das geplante konfessionsübergreifende Gedenken in der Petrikirche kann aufgrund des Infektionsgeschehens leider nicht stattfinden. Als Ersatz nimmt sich die Kirche des Themas mittels eines Gedenkweges an, der in der Kirche vom 9. bis zum 14. November zu besuchen sein wird. Auf dem Weg werden die Gäste mit den Namen derer Dortmunder Mitbürger*innen konfrontiert, die am 29. Juli 1942 von Dortmund aus ins Ghetto Theresienstadt deportiert wurden.
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Absage des öffentlichen Gedenkens zur Pogromnacht am 9. November in Dorstfeld (Pressemitteilung der Quartiersdemokraten)
Absage des öffentlichen Gedenkens zur Pogromnacht am 9. November in Dorstfeld
Die Veranstaltung zum Gedenken und in Erinnerung an die Opfer der Pogromnacht am 9. November vor dem jüdischen Mahnmal in Dorstfeld findet nicht öffentlich statt. Die steigenden Infektionszahlen durch die Covid19-Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen betreffen auch die Gedenkveranstaltung in Dorstfeld, die ein verantwortungsbewusstes Handeln erforderlich machen.
„Nach langer und intensiver Diskussion sind wir zu dem finalen Entschluss gekommen, dass wir keine Personen einem erhöhten Risiko angesichts des dynamischen Infektionsgeschehen aussetzen möchten. Deswegen bedauern wir sehr, dass das öffentliche Gedenken kurzfristig abgesagt wird.“, so Ralf Stoltze, Bezirksbürgermeister Innenstadt-West.
Die Gedenkveranstaltung wird jährlich durch das Projekt Quartiersdemokraten organisiert. Veranstalter ist der Verein zur Förderung von Respekt, Toleranz und Verständigung in Dortmund-Dorstfeld e.V.
Karl-Walter Hollmann, Ehrenvorsitzender des Vereins: „Die Entscheidung ist uns nicht leichtgefallen aber nach enger Abstimmung mit der Stadt Dortmund rufen wir alle Bürgerinnen und Bürger zum stillen Gedenken auf.“
Kranzniederlegung am jüdischen Mahnmal im kleinen Kreis
Stattdessen wird es eine Kranzniederlegung am jüdischen Mahnmal mit dem Oberbürgermeister, Thomas Westphal sowie dem Rabbiner Baruch Babaev der jüdischen Kultusgemeinde Dortmund in Dorstfeld geben. Der Bezirksbürgermeister Ralf Stoltze und Mitglieder des Vereins zur Förderung von Respekt, Toleranz und Verständigung in Dortmund-Dorstfeld e.V. werden anwesend sein, um an die Opfer der Pogromnacht von 1938 zu gedenken und ein Zeichen gegen Antisemitismus zu setzen.
Denn auch in Dortmund kam es zu organisierten antisemitischen Angriffen: Synagogen wurden in Brand gesetzt, jüdische Einrichtungen, Wohnungen und Geschäfte wurden zerstört und geplündert. Die Pogrome markierten einen gewalttätigen Übergang zu der systematischen Verfolgung von jüdischen Menschen in Deutschland, die in der Shoah, der grausamen Vernichtung von 6 Millionen Jüdinnen und Juden, mündete.
Die Erinnerung an die grausamen Ereignisse sollen wachgehalten werden. Die Mitarbeitenden des Projekts Quartiersdemokraten werden die kleine Gedenkveranstaltung daher dokumentarisch begleiten.