Wir müssen lernen, Technologie besser zu kritisieren und einzuordnen, meint der renommierte Soziologe Armin Nassehi. Letzten Freitag war er ob seines neuen Buches „Muster: Theorie der digitalen Gesellschaft“ zu Gast beim „Talk im DKH“. Im Buch geht es Armin Nassehi darum, zu erklären, warum die digitale Technologie in der Gesellschaft so erfolgreich ist. Seine These: Technologie kann sich nur durchsetzen, wenn sie den Nerv der Gesellschaft trifft. Beispiel: Ein Smartphone wird schlicht und einfach gekauft, weil es funktioniert. In seinen Augen sei die Gesellschaft schon im 19. Jahrhundert eine moderne digitale gewesen. Diese habe sich durch eine steigende Komplexität und Urbanisierung entwickelt, was dazu führte, dass man sich auf vorherige, analoge Wahrnehmungsformen nicht mehr verlassen konnte. Der Titel dieses „Talk im DKH“ lautete: „Wie verändert die Digitalisierung die Gesellschaft?“
„Talk im DKH“ fand wieder im Freien statt – Begrüßung der Gäste durch Stadtdirektor Jörg Stüdemann
Die erste Veranstaltung dieser Art nach der Sommerpause moderierten wieder Aladin El-Mafaalani und Özge Cakirbey. Bei wunderbarem Wetter fand der Talk ein weiteres Mal auf dem DKH-Gelände im Freien statt. Stadtdirektor und Kulturdezernent Jörg Stüdemann begrüßte an Stelle von Levent Arslan, Dietrich-Keuning-Haus-Direktor, die Gäste. Levent Arslan weilte im Park des Schlosses Bellevue in Berlin beim Bürgerfest des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier.
Stüdemann sprach, passend zum Talk-Thema, über den Start der Akademie für Digitalität und Theater (angeregt vom nach dieser Spielzeit scheidenden Schauspieldirektor Kay Voges) und lobte die Unterstützung der Akademie mit fast vier Millionen Euro. Die ersten Studierenden – in diesem Falle Regisseurinnen und Regisseure – hätten ihre Stipendien aufgenommen. Die Akademie sei nun das Gegenstück zum Dortmunder U, wo der Medienkunstverein seinen Sitz habe.
Dies sei der einzige Kunstverein in Deutschland, „der sich systematisch seit 1996 mit den Fragen Digitaler Kunst, ihrer kuratorischen Betreuung und mit Fragen zum digitalen Zeitalter und zur Umsetzung für die Künste“ beschäftige. Die künftige Dortmunder Schauspieldirektorin Julia Wissert weilte am Freitagabend im Publikum.
Auf Schalke aufgewachsen und nach Gelsenkirchener Abi Inhaber eines der größten Lehrstühle für Soziologie
Jörg Stüdemann hatte dann für das Publikum noch folgenden (Warn-)Hinweis zum Gast: Über Prof. Nassehi gebe es auch etwas „Schlechtes“ zu sagen: Er sei auf Schalke, in Gelsenkirchen groß geworden. Gelächter, leise Buhrufe, aber auch Beifall für den Gast aus dem Publikum.
___STEADY_PAYWALL___
Moderator Aladin El-Mafaalani setzte noch eins drauf, als er süffisant anmerkte, dass Armin Nassehi auch sein Abitur in Gelsenkirchen gemacht habe: „Jetzt müsste man meinen, dass man mit einem so wertlosen Zettel nichts wird.
Aber nein, er ist an der Ludwig-Maximilians-Universität in München Professor für Soziologie und hat dort einen der größten Lehrstühle für Soziologie Deutschlands inne. Und das mit einem Gelsenkirchener Abitur. Dass man überhaupt bayerischer Beamter mit einem nordrhein-westfälischen Abitur werden kann!“
Schüler-Talk am Mittag im Helmholtz-Gymnasium: Jugendliche beeindrucken Armin Nassehi mit klugen Fragen
Am Mittag hatte es schon einen Schülertalk im Dortmunder Helmholtz-Gymnasium mit Jugendlichen gegeben. Armin Nassehi äußerte sich mit Anerkennung über die SchülerInnen.
Für ihn habe es den Anschein gehabt, dass diese Jugendlichen „schon einmal von Rednern irgendwie beglückt worden sind. Dass heißt, die waren in der Lage, dazusitzen und Benutzeroberflächen zu haben, die so aussahen, als würden sie mir zuhören“. Von ihnen seien sehr kluge und intelligente Fragen gestellt worden.
Wie sich die Digitalisierung auswirken werde, so Nassehi, wisse man nicht. Auch wenn man sich die besten Studien darüber anschaue. Die einen konstatierten, dass achtzig Prozent aller Arbeitsplätze verschwinden könnten. In die andere Richtung schlüge das Pendel bis hin zu einem möglichen Jobwunder von dreihundert Prozent mehr an Arbeitsplätzen aus. Beides sei denkbar. Die Extreme dürften wohl nicht eintreten. Es werde sich dazwischen bewegen.
Er interessiere sich vor allem „zunächst einmal brav wissenschaftlich für eine methodisch kontrollierte Frage“. Die Frage sei für ihn nicht, welche Problem die Digitalisierung mache oder wie man diese Probleme lösen könne bzw. wie wir das überwinden könnten.
Eine methodisch kontrollierte Frage: „Für welches Problem ist die Digitalisierung eine Lösung?“
Nassehi pflegt vielmehr eine methodisch kontrollierte Frage zu stellen: „Für welches Problem ist die Digitalisierung eine Lösung?“ In der Wissenschaftstheorie nenne man das eine funktionalistische Frage. „Man fragt also. Man sieht etwas, das funktioniert. Und fragt sich, welches Problem mit dieser Funktion eigentlich gelöst wird.“
Nassehi bekannte, auf die These – die nicht so leicht unters Volk zu bringen sei – gekommen zu sein, dass die Gesellschaft schon hundert Jahre bevor der Computer erfunden wurde, eine moderne digitale war. Am Beispiel von Paris erklärte er das. Da habe man damit angefangen.
In einer so großen Stadt hätten sich zwar Gebäude und Menschen, aber keine Weizenfelder befunden. Aber Weizen wurde ja zur Herstellung von Baguettes benötigt. Man habe ungefähr berechnen müssen, wie viele Lieferanten von Weizen man für eine Stadt wie Paris bräuchte.
Datenmengen durch Digitaliserung: für unterschiedliche Institutionen von unterschiedlichem Interesse
Straßen mussten breit genug sein, um den Weizen in die Stadt hinein zu bringen. So sei das statistische Denken entstanden. „Es entstand ’ne kulturelle Form, digital zu denken“, sagte Armin Nassehi. Die Digitalisierung mache heute sichtbar, was man vorher nicht habe sehen können.
Prof. Nassehi streifte auch das Thema der heute anfallenden Unmengen von Daten. Bis hin zu den auftretenden Datenmengen diverser sozialer Medien. Die Daten seien für unterschiedliche Institutionen von unterschiedlichem Interesse. Er sprach diesbezüglich von Markt- und Sozialforschung und von Strafverfolgungsbehörden, oder von Verwaltungsproblemen bzw. von Medizinern, die das Verhalten von Menschen hinsichtlich von Gesundheitsfragen untersuchen.
Man müsse einfache Fragen stellen, um schwierige Antworten geben zu können, findet der Soziologe Armin Nassehi. Die einfache Frage sei, referierte er: „Welches Problem löst Technik? Die Technik löst vor allem das Problem des Konsenszwangs.“ Digitalisierung mache vieles möglich. Und die Menschen nutzten es, weil es funktioniert. Da könne man selbst Menschen von der Benutzung des Flugzeugs wegbringen: Wenn es eine funktionierende Alternative gebe, würden sie die nutzen.
Digitalisierung ermöglicht vieles und wird benutzt, weil „es“ funktioniert – birgt aber auch Gefahren
Das Funktionieren korrumpiere uns aber auch. Die menschliche Intelligenz sei jedoch in einem endlichen Körper situiert – sie ist gewissermaßen leiblich und dadurch „unvollständig“. Eine vollständige Form digitaler Intelligenz sei deshalb schon aus formallogischen Gründen nicht denkbar. Man müsse darüber nachdenken, was man mit dieser Technik eigentlich macht.
Mit Maschinen zu kommunizieren, sei nicht möglich. Dann könne man vielleicht auch sehen, wie naiv das ist, Angst davor zu haben, dass diese Apparate einmal mächtiger werden als wir selbst.
Dafür wäre dies aber wohl auch eher ein Hinweis darauf, schloss Armin Nassehi seinen interessanten Vortrag, „dass man darüber nachdenken sollte, dass wir mit der Auseinandersetzung dieser Art von Informationsverarbeitung sehr viel darüber lernen kann wie voraussetzungsreich und begrenzt unsere Form ist, mit einer Welt umzugehen, die wir auch selber nur in der Datenförmigkeit unseres eigenen Gehirns kennen“.
Weil Technologie Bedrohung sein kann: sie ist zur besseren Verortung kritisch zu begleiteten
Technologie müsse den Nerv der Gesellschaft treffen, ist eine These, die der Soziologe Armin Nassehi auf dem Podium im Gespräch mit Moderatorin und Moderator vertrat. Aber er gesteht durchaus auch zu, dass Technologie auch eine Bedrohung darstellen könne. Weshalb darauf geachtet werden müsse, sie kritisch zu begleiten, um sie besser einordnen zu können.
Zuschauer stellten gegen Ende der Veranstaltung interessante Fragen. Etwa die, ob die Digitalisierung unsere Gesellschaft positiv beeinflussen könne. Armin Nassehi antwortete, sie bringe natürlich positive und negative Folgen. Aber, gab er auch zu bedenken: „Problemlösungen produzieren immer neue Probleme.“
Als positiv schätzte er selbst ein, dass man teilweise übers Netz durchaus interessante Leute kennenlerne und auch spannende Diskussionen zustande kämen. Aber ebenso treffe ebenfalls das Gegenteil zu. Also: eine ambivalente Geschichte.
Die „Talk im DKH“-Gäste erlebten einen rhetorisch geschliffenen Vortrag, aufgelockert durch Bonmots
Dass Prof. Armin Nassehi ein grandioser Redner ist, war bereits eingangs der Veranstaltung angekündigt worden. Und Nassehi, einer der gefragtesten Intellektuellen Deutschlands, hat das auch mit Bravour und gründlich bis ins letzte Detail unter Beweis gestellt.
Geschliffene Rhetorik, aufgelockert mit diesem oder jenem Bonmot, oder während des Vortragens rasch noch verfertigten und zum Abschuss gebrachten kleinen Spitzen – all dies bewahrte Nassehis Referat davor, dröge zu werden. Es wurde oft kurz aufgelacht im Publikum. Mehr oder weniger laut.
Nur, was nimmt man nun von diesem Abend für sich an Essenz mit? Das wurde in etwa so auch aus dem Publikum gefragt. Eine gute Frage! Erst mal sacken lassen, dürften da viele gedacht werden, die mit von jeder Menge Informationen prall gefüllten Kopf den Heimweg antraten. Womöglich „ploppt“ dann später mancher von Armin Nassehi geäußerter Gedanke auf und lässt der einen oder anderen Person dies oder jenes Licht aufgehen.
Armin Nassehis Buch konnte erworben werden und wurde auf Wunsch auch von ihm signiert
Wie zu solchen Anlässen üblich: Nassehis Buch konnte vor Ort erworben werden und wurde auf Wunsch auch vom Autoren signiert.
Diejenigen, die es bereits gelesen haben – wie Moderatorin Özge Cakirbey und Aladin El-Mafaalani – gaben sich beeindruckt. Özge Cakirbey gestand, dass sei schon eine ganz schöne Portion „Arbeit“ gewesen, das Buch zu lesen. Einige Begriffe daraus habe sie für sich mit Gewinn neu hinzugelernt. Und El-Mafaalani bestätigte, das solche Bücher eben durchaus Anstrengungen nötig machten.
Gast beim nächsten „Talk im DKH“ am 29. November um 19 Uhr wird der Journalist Deniz Yücel sein.
Mehr zum Thema bei nordstadtblogger.de:
Umstrittener „Talk im DKH“ mit dem Islam-Kritiker Hamed Abdel-Samad wird im Reinoldinum nachgeholt