Von Horst Delkus
Das Jahr 1973 war in vielerlei Hinsicht ein bewegtes. Eingeleitet, zumindest in Dortmund, vor allem durch die Hüttenarbeiter von Hoesch. Die legten vom 8. bis 10. Februar `73 für 14 Pfennig mehr spontan die Arbeit nieder. Ein „wilder“, von den der Gewerkschaft nicht organisierter Streik. Lohnpolitik auf eigene Faust wie 1969. In der Bonner Republik legten 1973 bis in den Oktober in 335 Unternehmen mehr als 275.000 Arbeiternehmer, darunter viele ausländische, sogenannte „Gastarbeiter“, spontan die Arbeit nieder. Der Geist der Rebellion der außerparlamentarischen Opposition der späten sechziger Jahre fand seinen Widerhall. „Aufmüpfig“ wurde 1973 zum Wort des Jahres erklärt.
Aktionskreis für ein freies Jugendzentrum wirft der SPD Arroganz vor
Aufmüpfig waren damals auch viele junge Leute. Schüler, Studenten, Lehrlinge und Jungarbeiter. In Berlin, Hamburg, Frankfurt sowie in zahlreichen anderen Städten tobte der „Häuserkampf“ gegen Spekulantentum und für ein selbstbestimmtes Leben. In Dortmund insbesondere in der Nordstadt.
Hier hatte sich im Herbst 1972 ein „Aktionskreis für ein freies Jugendzentrum“ gegründet. Er umfasste zwischen 15 und 30 Jugendliche, sammelte rund 2.000 Unterschriften, überreichte sie der Stadt – und erhielt keine Reaktion.
Arroganz der Macht der damals in Dortmund allein „regierenden“ und die Verwaltung der Stadt dominierenden SPD. Als rund 70 Jugendliche im Mai `73 versuchten, den damaligen Bürgermeister Günther Samtlebe zu besuchen, wurden sie von zwei Hundertschaften der Polizei empfangen. Das Rathaus war abgeriegelt. Mehrere im Sommer geplante Aktionen wurden verboten.
Dann, am 2. November `73, nach einem Fest in der „Jakobsschänke“ in der Weißenburger Straße, auf dem Pit Budde mit seiner damaligen Band spielte, formierte sich ein Demonstrationszug aus etwa 300 Leuten. ___STEADY_PAYWALL___
Sie zogen zur Oesterholzstraße 91 und besetzten hier das seit fünf Jahren leer stehende Haus. Es gehörte einem katholischen Trägerverein, der es für den Erweiterungsbau seines Erziehungsheims für Mädchen, dem Vincenzheim, nutzen wollte.
Erich Dobhardt wurde aus ungeklärten Gründen von der Polizei erschossen
Die Vollversammlung der Besetzer benannte das Haus nach einem 17-jährigen Jugendlichen. Erich Dobhardt war in der Lanstroper Obdachlosensiedlung „Sing Sing“ aufgewachsen, aus der Fürsorgeerziehung geflohen, von der Polizei unter nie geklärten Umständen bei seiner Flucht aus dem Polizeigewahrsam von hinten erschossen.
Das besetzte Haus war in einem ziemlich verwahrlosten Zustand. Ohne fließend Wasser und Heizung. Die Treppe in das erste Geschoss war zerstört. Die Besetzer begannen, unterstützt von Anwohnern und Sympathisanten, mit der Renovierung, bildeten verschiedene Arbeitsgruppen, unter anderem für eine Teestube, Malen, Musik und eine Zeitung. Beschlussfassendes Gremium war die Vollversammlung, das Plenum. Eine Leitung gab es nicht.
Solidaritätsadressen von den „Falken“ und der Gewerkschaftsjugend
Mit den Besetzern solidarisierten sich unter anderem die Dortmunder Falken. In einem Brief heißt es: „Die Besetzung des Hauses in der Oesterholzstraße ist als ein Akt der ‚Befreiung‘ von Jugendlichen hier in Dortmund zu werten. Es wurde dadurch die Notwendigkeit und das Bedürfnis für ein Jugendzentrum, das den Bedürfnissen der Jugendlichen entspricht, untermauert und deutlich gemacht.Wir halten die Forderung nach einem freien Jugendzentrum für wichtig und unterstützenswert.Wir fordern in diesem Rahmen zugleich die Verantwortlichen der Stadt Dortmund auf, grundsätzlich die Möglichkeit für solch ein positiv zu wertendes Projekt zu geben. Euch rufen wir zu: Kämpft weiter für ein freies Jugendzentrum!“
Unterschrieben war diese Solidaritätsadresse unter anderem von: Uli Bösebeck, 1973 stellvertretender Vorsitzender des Unterbezirks Dortmund der Sozialistischen Jugend Deutschlands „Die Falken“ (und später Leiter des Jugendamtes der Stadt Dortmund); Dieter Grützner, Vorsitzender des SJ-Ringes der Dortmunder „Falken“ (später Mitbegründer der Bunten Liste Dortmund, Inhaber eines Ladens in Hombruch und Geschäftsführer des Humanistischen Verbandes); Detlev Himmel, Mitglied des Bundesvorstandes der „Falken“ (und heute Personal- und Organisationsentwickler) sowie Ulla Burchardt, Vorsitzende des F-Ringes der „Falken“ (und spätere Dortmunder SPD-Bundestagsabgeordnete).
Einen Tag darauf solidarisierte sich auch der Arbeitskreis junger Gewerkschafter (AJG) des DGB Dortmund mit folgender Erklärung: „Am Freitag, den 2.11.1973 besetzten mehrere hundert Jugendliche das Haus Oesterholzstraße 91, das seit zwei Jahren leersteht und verfällt. Die Jugendlichen möchten aus diesem Haus, das sie Erich-Dobhardt-Haus nannten, ein freies Jugendzentrum machen.“
Und weiter heißt es: „Wir unterstützen diesen Kampf für ein freies Jugendzentrum in Selbstverwaltung im Norden der Stadt und halten die Forderung danach in Anbetracht des derzeitigen Freizeitangebotes für berechtigt. Ebenfalls berechtigt ist die Forderung der Jugendlichen nach städtischer Unterstützung, nach 100 000 DM für Einrichtung, Wasser Strom und Licht! Deswegen solidarisieren sich die hier versammelten Gewerkschafter mit dieser berechtigten Aktion und den Forderungen! Für ein freies Jugendzentrum! 100.000 DM jährlich für Einrichtung, Wasser, Strom und Licht!“
Schwierige Basisdemokratie: „Das Affentheater mit den K-Gruppen“
Mao-stalinistische Gruppen, allen voran der Jugendverband der sich selbst ernannten „Kommunistischen Partei Deutschlands“ mit ihrer Zentrale in der Zimmerstraße, versuchten zeitweise die Bewegung zu dominieren. Ein parteiloser Aktivist schrieb einige Jahre später: „Uns gingen diese Kaderorganisationen, die Stellvertreterpolitik betrieben und im Gegensatz zu uns nicht von ihren eigenen Bedürfnissen ausgingen, wahnsinnig auf den Keks.“
„Diese gut organisierten Gruppen schafften es, während der ersten Besetzung alles in die Hand zu nehmen und karrten später zu den VVs, auf denen wichtige Entscheidungen zu treffen waren, ihre Leute an. Weil die VV das oberste beschlussfähige Organ war, in dem JEDER (aktiv oder als Stimmvieh heran gekarrt) stimmberechtigt gewesen ist, sind wir von den unliebsamen Organisationen oft überstimmt worden“, heißt es weiter.
„Das war `ne absolute Provokation: Während wir – die Parteilosen – uns in den Arbeitsgruppen stundenlang Gedanken machten, wie die Bekloppten arbeiteten und endlich zu Ergebnissen kamen, die wir auf die VV brachte, wurden wir zupp-zupp von diesen Heinis überstimmt“, so die Kritik.
Die sogenannten „K-Gruppen“ waren allerdings nicht nur Trittbrettfahrer der Bewegung: Zumindest die Tür der zweiten Besetzung wurde von einem ihrer ein Hackebeilchen schwingenden Kader eingehauen.
Ein Haus zu kriegen ist nicht schwer; ein Haus zu halten aber sehr!
Nach zehn Tagen, am 12. November gegen 11 Uhr, wurde das Erich Dobhardt-Haus von der Polizei geräumt, neun Besetzer festgenommen, der Eingang und die Fenster im Erdgeschoss zugemauert. Noch am selben Abend fand eine Protestdemonstration gegen die Räumung mit mehreren hundert Teilnehmern statt.
Von der Reinoldi-Kirche über die Bornstraße zum Borsigplatz Dort, nicht weit vom ehemaligen Erich-Dobhardt-Haus, an der Borsigstraße 67, wurde bei strömenden Regen erneut ein Haus besetzt. Und bereits nach zwei Stunden wieder von der Polizei geräumt. 15 Besetzer wurden festgenommen.
Eine regionale Protestdemonstration mit 500 bis 600 Teilnehmern fand – trotz Verbot – am 17. November statt. In einem Flugblatt des „Aktionskreis für ein freies Jugendzentrum“ hieß es dazu: Es gibt folgende Begründungen, die das Verbot rechtfertigen sollen; es seien zwei Häuser nach nicht angemeldeten Demonstrationen mit Gewalt besetzt worden.
Ist es Gewalt, Türen von seit längerer Zeit leerstehenden Häusern zu öffnen? Kann man aus diesem Grund das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit unterlaufen? … Anstatt mit uns zu über unsere berechtigten Forderungen zu verhandeln, geht die Stadt mit allen Mitteln gegen den Aktionskreis vor. Gerade weil uns unser Recht nicht zugestanden wurde, haben wir die Häuser friedlich besetzt. Nicht von uns, den Dortmunder Jugendlichen, die um ihr Recht kämpfen geht die Gewalt aus, sondern von der Polizei, die uns gewaltmäßig aus den von uns friedlich besetzten Häusern trieb. Die Polizei versucht auch weiterhin, jede Äußerung des Aktionskreises zu unterdrücken.
Die Polizei acht leerstehende Häuser im Dortmunder Norden zumauern
Bis zu 2.000 Polizisten (nach anderen Angaben sechs Hundertschaften) waren an diesem Tag im Einsatz; es gab mehr als zwei dutzend Festnahmen. Um eine weitere Hausbesetzung zu verhindern, hatte die Polizei acht leerstehende Häuser im Dortmunder Norden rund um den Borsigplatz „mit starkem Aufgebot“ gesichert und zumauern lassen.
Bemerkenswert ist, dass der für die Repression gegen die jungen Leute Verantwortliche – der damalige Polizeipräsident von Dortmund, Fritz Riwotzki – in der Weimarer Republik Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend war und in der NS-Zeit ein Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus. In den 1970er Jahren war er für etliche heftige Polizeieinsätze gegen Hausbesetzer und Demonstranten verantwortlich.
Nach den beiden missglückten Hausbesetzungen gab es noch eine Reihe von öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten, die auf Vollversammlungen im städtischen Fritz-Henssler-Haus besprochen wurden, wie Infostände und Musikauftritte in der Fußgängerzone, auch ein Besuch des Bürgermeisterbüros.
Gegen 47 Jugendliche kam es zu Gerichtsprozessen, weil sie sich den beiden Hausbesetzungen oder an einer verbotenen Demonstration beteiligt hatten. Eine Schallplatte („Wir haben die Schnauze voll…“) mit Liedern – meist von Pit Budde -, die während der Auseinandersetzungen entstanden, erschien um die Prozesskosten und zu erwartenden Strafen zu finanzieren. Anfang 1974 zerbröselte die Bewegung.
Sie fand mehr oder weniger ihre Fortsetzung in der Besetzung der Helmutstraße 28 in Dorstfeld im Sommer 1977 und etlichen weiteren Hausbesetzungen in diesem Sanierungsgebiet, dem besetzten Kulturzentrum von Wischlingen sowie der fast achtmonatigen Besetzung der ehemaligen IG Metall-Bildungsstätte Heidehof in Dortmund-Lücklemberg im Jahr 1982. Auf Dauer erfolgreich wie einzelne Besetzungen in anderen Städten war keine.
Anm.d.Red.: Haben Sie bis zum Ende gelesen? Hat es Spaß gemacht oder war es Arbeit? Oder beides? Nur zur Info: Die Nordstadtblogger arbeiten ehrenamtlich. Wir machen das gern, aber wir freuen uns auch über Unterstützung!
Reader Comments
Norbert
Mal wieder ein interessanter Artikel.
radio nordpol
Eine kleine Geschichte Dortmunder Hausbesetzungen: Ein schummriges Kellerloch sollte einer der Ausgangspunkte einer langen, manchmal auch gebrochenen, oft widersprüchlichen, Tradition der Auseinandersetzungen um Wohn- und Freiraum in Dortmund sein.
Im ersten Teil von „Squatting Dortmund“ geht es um Erich Dobhardt, einen ermordeten Fürsorgezögling, um ein von Nonnen betriebenes Jugendheim, um K-Gruppen und um eine (angebliche) Dortmunder Erfindung. 1973 erreicht die Jugendzentrumsbewegung Dortmund, genauer den Dortmunder Norden. Die erste Besetzung versetzt die Stadtgesellschaft in Aufruhr.
https://radio.nrdpl.org/2020/03/23/squatting-dortmund-erich-dobhardt-haus-1973/
Pit Budde
Liebe Leute, sehr guter Artikel und sehr gut recherchiert! Schwer vorstellbar, dass es 50 Jahre her ist.
Beste Grüße in die alte Heimat, Pit Budde
Jürgen Steinfelder
Vieles an dem jetzigen Beitrag von Horst Delkus ist richtig, aber die Fokussierung auf die Falken von der SPD doch sehr sehr einseitig. Die Falken waren auch nur Trittbettfahrer der Sozen, die Bewegung wurde von Spontis initiiert und getragen.
Klaus Winter
Was so alles fast vergessen schien, obwohl es doch so lange gar nicht her ist! Danke für diesen Beitrag!
Edith Börner
Toller Artikel! Kann mich noch gut an die Veranstaltung im „Jacobi“ erinnern. Danke für die Recherche und Bericht.
Jürgen Bucksch
Liebe Leute, danke für den Artikel, ich würde Pit Budde, Ralph Klagges, Uli Kleinschmidt und die anderen „Unorganisierten“ gern heute noch einmal wieder treffen, um darüber zu reden, welche Effekte die damaligen Aktivitäten hatten. Edith Börner erinnere ich nicht mehr, aber die Veranstaltung in der Jakobschänke schon, besonders auch, weil uns damals dort die Kasse gemopst wurde. In legendär mackerhafter Pose trat dort Daniel Cohn-Bendit auf, um vom Frankfurter Häuserkampf zu berichten… Wir wohnen schon lange im hohen Norden, ich käme aber gern einmal zu einem Treffen nach Dortmund. Übrigens waren die Falken seinerzeit gar nicht in die Aktivitäten involviert. Sie haben sich wie viele andere nur drangehängt…