Der dritte Prozesstag im Fall des 2022 bei einem Polizeieinsatz getöteten Mouhamed Lamine Dramé wurde heute (17. Januar 2024) vor dem Dortmunder Landgericht verhandelt. Erstmals kamen in dem Verfahren zwei Zeugen zu Wort, die Dramé in der Jugendhilfeeinrichtung betreuten. Ein Sozialarbeiter schilderte, dass ein Beamter dem am Boden liegenden Geflüchteten nach der Schussabgabe leicht in den Bauch getreten habe.
Sozialarbeiter sagt unter Tränen aus: „Das ist eines der schlimmsten Ereignisse meines Lebens“
Unter Schmerzen habe sich Mouhamed Lamine Dramé nach den Schüssen aus einer Maschinenpistole am Boden gewunden, berichtete der 30-Jährige Sozialarbeiter, der den tödlichen Polizeieinsatz aus nächster Nähe beobachtet haben soll. Ein Beamter – den er als den Einsatzleiter beschrieb – sei zu dem Jugendlichen gegangen, habe etwas gesagt wie „es wird ja alles gut“ und habe dem am Boden Liegenden leicht in die Bauchregion getreten.
Er schilderte auch, dass sich Dramé „langsamen Schrittes“ auf die Polizeibeamt:innen zubewegt habe und die Arme nach unten gezeigt hätten. Dabei habe Mouhamed Lamine Dramé nicht aufgebracht, sondern viel mehr desorientiert gewirkt. „Das ist eines der schlimmsten Ereignisse meines Lebens“, sagte der sichtlich erschütterte Sozialarbeiter unter Tränen – die Verhandlung wurde daraufhin beendet.
Doch wie war es zu dem tödlichen Polizeieinsatz gekommen und was passierte am 8. August 2022 in der Holsteiner Straße? Der 30-Jährige Zeuge hatte den senegalesischen Geflüchteten nur kurz gekannt.
„Ich habe versucht, ihm einen Schulplatz an einem Berufskolleg zu organisieren“, erzählt der Betreuer. Verständigt habe er sich mit dem 16-Jährigen mit Händen und Füßen und durch seine eigenen Französisch-Kenntnisse aus der Schulzeit. Weiter erzählt er: „Man hat sehr gemerkt, dass Mouhamed leidenschaftlicher Fußballfan war, er war auch schon bei einem Probetraining gewesen. In den ersten Tagen habe ich ihn als sehr fröhlich wahrgenommen, wir haben am Freitag noch gemeinsam Fußball geschaut.“
Mouhamed Dramé hatte bereits vor der Tat versucht, Hilfe zu bekommen
Als er den Jugendlichen am darauffolgenden Samstagmorgen zu seinem Schichtende sah, habe Mouhamed verschlossener gewirkt. Von seinen Kolleg:innen erfuhr der Sozialarbeiter dann am Montag – dem Tattag -, dass Dramé noch am Samstag seine Tasche gepackt und gesagt habe, er könne hier nicht bleiben. Am Sonntagnachmittag sei der Jugendliche dann mit einem Taxi zurückgebracht worden – er hatte sich in der LWL-Klinik aufgehalten.
Am Nachmittag des 8. August saß der Sozialarbeiter mit einer weiteren mitarbeitenden Person und einem Jugendlichen im Garten der Jugendhilfeeinrichtung St. Elisabeth, als ein Passant den jungen Bewohner auf Dramé aufmerksam machte. Der Jugendliche rief den 30-Jährigen Sozialarbeiter zu sich.
„Mouhamed stand in einer Nische, zwischen dem Eisenzaun und der Kirche vorn herüber gebeugt. Der untere Rücken lehnte an der Wand. Ich ging auch etwas in die Hocke, um auf Augenhöhe mit ihm zu sein und da sah ich das Küchenmesser“, berichtete der Zeuge.
Dramé habe auf keine seiner Ansprachen reagiert, habe abwesend gewirkt. Daraufhin holte er zwei Kolleg:innen. Auch sie versuchten, den Jugendlichen anzusprechen, kommunizierten über „Google-Übersetzer“. Doch auch darauf habe Mouhamed Lamine Dramé nicht reagiert.
„last man standing“ – bewaffnet mit einer Maschinenpistole – als letzte Chance
Also kam der Team- und Gruppenleiter, der ebenfalls vor Gericht als Zeuge aussagte, hinzu. Er entschied, externe Hilfe zu holen, ging zurück ins Haus und wählte den Notruf. Der 30-Jährige Sozialarbeiter begab sich indes auf die Holsteiner Straße, um die ankommenden Einsatzkräfte einzuweisen. Er habe den Einsatzkräften geschildert, dass sich der Jugendliche in einer Ausnahmesituation befände und nicht ansprechbar sei, so der Zeuge. Daraufhin besprachen die Beamt:innen ihre Einsatztaktik – der Sozialarbeiter hörte zu.
„Erst sollte versucht werden, Mouhamed anzusprechen. Sollte das nicht funktionieren, müsse Pfefferspray eingesetzt werden, um eine Reaktion herauszufordern. Sollte auch das nicht funktionieren, werde man Taser einsetzen. Dann drehte sich der Einsatzleiter zu dem Sicherungsbeamten um und sagte ,und dann bist du unsere ,last chance‘, unser ,last man standing’““, schilderte der Sozialarbeiter.
Daraufhin sei er den Einsatzkräften in den Innenhof gefolgt. Mouhamed habe währenddessen weiterhin in der Nische gesessen, in seiner Nähe zwei weitere Betreuer:innen. Nachdem auch Versuche der Ansprache durch Zivilpolizist:innen keinen Erfolg zeigten, seien zwei Beamt:innen in die Missundestraße gegangen, um auf der anderen Seite des Zaunes zu stehen. Anschließend hätten sich die anwesenden Beamt:innen im Hof neu aufgestellt, dabei habe der Sicherungsbeamte bereits das erste Mal auf das Kirchenschiff, wo sich Dramé aufhielt, gezielt.
Anruf verrät: 20 Minuten lagen zwischen dem Notruf und der Schussabgabe
„Dann kam irgendwann das Kommando Pfefferspray und ich habe das Pfefferspray gehört“, sagte der Betreuer der Jugendwohngruppe. Er habe Mouhamed dann langsam hinter der Mauer hervorkommen sehen. Die Polizist:innen hätten geschrien „Auf den Boden, auf den Boden, Messer weg!“ – doch Dramé habe sich weiter auf die Beamt:innen zubewegt. Der Sozialarbeiter habe dann nur noch den Einsatz der Taser gesehen und sich abgewandt. Die tödlichen Schüsse seien zügig hintereinander gefallen.
Auch der Gruppenleiter sagte vor Gericht aus, die Schüsse seien sehr schnell hintereinander abgefeuert worden. Zwischen dem ersten und dem letzten Schuss seien etwa zwei Sekunden vergangen.
Er stand während des Tathergangs im Büro der Jugendhilfeeinrichtung, telefonierte mit der Einsatzzentrale der Polizei und beobachtete das Geschehen im Innenhof vom Fenster aus. Er habe nicht gesehen, wie Mouhamed Lamine Dramé sich aus der Nische heraus bewegte, doch fast zeitgleich sei der Einsatz der Taser und der Maschinenpistole erfolgt, so der Teamleiter.
Als der Jugendliche auf dem Boden lag, habe er nur den Kopf des Opfers sehen können, doch er vermute, dass Dramé mithilfe von Handschellen fixiert worden sei. Im Anschluss an die Zeugenvernehmung des Einsatzleiters verlas der Vorsitzende Richter Thomas Kelm die schriftliche Fassung des Notrufs. Anhand der Aussagen, die der Gruppenleiter dort machte, lassen sich zeitliche Abstände nachvollziehen. So wurde der Notruf um 16.25 Uhr abgegeben, um 16.46 Uhr ließen sich „schussähnliche Geräusche“ im Hintergrund vernehmen. Dann endete das Gespräch abrupt.
Forderung nach mehr Transparenz und Verständlichkeit für die Öffentlichkeit wird abgelehnt
„Wir haben heute das erste Mal zwei zivile Zeugen gehört, Menschen aus der Einrichtung, die Mouhamed kannten und die bei dem unmittelbaren Tatgeschehen dabei waren. Einmal der Teamleiter, der mit der Polizeileitstelle telefoniert hat und ein Betreuer aus der Einrichtung, der das Ganze hautnah miterleben musste und die Tötung von Mouhamed beobacht hat“, erklärt Rechtsanwältin Lisa Grüter, die die Familie Dramé in der Nebenklage vertritt.
Weiter führt sie aus: „Das war extrem eindrücklich, der Betreuer ist extrem mitgenommen davon – heute noch – und hat gesagt er ist gerade gedanklich zurückversetzt an einen der schlimmsten Tage seines Lebens.“
Die Rechtsanwältin kritisiert den Umgang des Gerichts mit dem Zeugen: „Ich finde, dass mit ihm heute nicht besonders sensibel umgegangen wurde. Er wurde mit Fragen bombardiert, er musste da in einer Traube Verteidiger stehen, um Lichtbilder in Augenschein zu nehmen. Das war nicht schön“, resümiert sie.
Gleich zu Beginn des Prozesstages hatte die Nebenklage einen Antrag eingereicht, der forderte, alle schriftlichen oder bildlichen Beweismittel mithilfe geeigneter technischer Mittel allen am Prozess beteiligten – also auch der Presse und den Zuschauenden – zugänglich zu machen, beispielsweise über den großen Bildschirm im Gerichtssaal.
Hintergrund des Antrags war der Anspruch, der Öffentlichkeit die Möglichkeit zu geben, „den Verlauf einer Verhandlung so nachzuvollziehen, dass das Ergebnis am Ende transparent und verständlich ist und dadurch das Vertrauen in die Rechtspflege und den Rechtsstaat gestützt wird.“ Richter Thomas Kelm beriet sich von kurz nach 10 Uhr bis 12 Uhr zu dem Antrag und lehnte ihn dann ab.
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Kommt zum Info-Stand und Kundgebung des „Freundeskreis Mouhamed“ zum Prozess gegen 5 Polizistinnen und Polizisten vor dem Landgericht am 31.1.2024 (PM)
Auf Grund des Prozessverlaufs wird der Freundeskreis Mouhamed am 31.1.2024 nicht nur Prozessbeobachter schicken, sondern einen Info-Stand und eine Kundgebung vor dem Dortmunder Landgericht organisieren. Die Aussagen der Betreuer der Jugendhilfeeinrichtung beim letzten Prozesstag haben die Einschätzung vom Freundeskreis Mouhamed bekräftigt, dass nicht nur der Schütze wegen Totschlags angeklagt werden müsste, sondern auch der Einsatzleiter der Polizei wegen der Anstiftung dazu! Der Info-Stand und die Kundgebung des Freundeskreis Mouhamed, soll auch dazu beitragen, dass das Bestreben des Richters durchkreuzt wird, den Einblick der Öffentlichkeit ins Prozessgeschehen zu beschränken.
Deshalb: Beteiligt Euch am Info-Stand des Freundeskreis Mouhamed (ab 9 Uhr) und an der Kundgebung (ab 10 Uhr da sein) am Landgericht Dortmund, Haupteingang Kaiserstraße 34
Wir fordern:
• Gerechtigkeit für Mouhamed! • Lückenlose Aufklärung und Bestrafung der Verantwortlichen in Polizei und Politik!
• Gegen wachsende Polizeigewalt und Rassismus!
• Gegen die Verschärfung der Asylgesetze durch die EU! Fluchtursachen bekämpfen anstatt Flüchtlinge!
• Für das Verbot der AfD sowie aller faschistischen Organisationen und ihrer Propaganda!
• Für Völkerverständigung und internationale Solidarität!