Von Erik Latos
Stolpersteine sind seit 19 Jahren ein gewohnter Anblick des Dortmunder Stadtbildes. Heute kamen in der City vier weitere Stolpersteine hinzu, die in mehrerer Hinsicht besonders sind. Verlegt wurde u.a. der 400. Stolperstein in Dortmund – weltweit sind bereits über 100.000 solcher Messingplatten verlegt worden.
Erinnerungsarbeit vor dem RWE-Tower
Die Stolpersteine sind ein auf den Künstler Gunter Demnig zurückgehendes Konzept, das Ergebnis seiner intensiven Auseinandersetzung mit der Geschichte der Verfolgung von Minderheiten zur Zeit des Nationalsozialismus in seiner Heimatstadt Köln. Der erste Stein konnte 1992 in Köln gelegt werden – 2005 folgte dann die erste Verlegung in Dortmund.
Von nun an kann man direkt vor dem RWE-Tower über die vier Stolpersteine für die Mitglieder der Familie Ostwald „stolpern“: Sie tragen die Namen der Dortmunder Eheleute Max und Hedwig Ostwald und ihrer Söhne Martin und Ernst Levy Ostwald.
Der Ort auf dem Platz von Amiens wurde von den Nachfahren gewählt, weil das Straßenbild heute nicht mehr das gleiche ist wie damals. Wo vor dem Zweiten Weltkrieg die „II. Kampstraße“ entlangführte, sind jetzt der Platz und Tower – das Haus „II. Kampstraße Nr. 3“, in dem die Familie wohnte, läge nun mitten im Turm.
Ausschnitte herzzerreißender Einzelschicksale und greifbarer Erinnerungskultur
Viele Nachfahren der Familie – darunter drei Enkel, fünf Großenkel und drei Großgroßenkel – waren aus den USA, Großbritannien und Spanien nach Dortmund gekommen. Sie und zahlreiche weitere Gäste wurden von Dortmunds 1. Bürgermeister Norbert Schilff begrüßt.
„Die Stolpersteine sind mehr als nur Messingplatten im Pflaster; sie sind kleine Fenster in die Geschichte, die uns mit den Schicksalen jener verbinden, die einst Teil unserer Gemeinschaft waren. Sie erinnern uns daran, dass hinter jedem Namen eine Geschichte steht, die erzählt und gehört werden muss“, so Schilff.
„Die Stolpersteine sollen daran erinnern, dass es sich nicht um irgendwelche Menschen gehandelt hat, die deportiert und ermordet wurden, sondern um Nachbarn und geschätzte Mitglieder der Stadtgesellschaft“, betonte der 1. Bürgermeister, der dabei vor allem junge Menschen und sogar schon Grundschulklassen vor Augen hatte.
Von angesehenen Mitbürger:innen zu verfolgten Jüd:innen
„Sie waren vor der NS-Zeit geschätzte Bürger der Stadt“, machte Bürgermeister Norbert Schilff bei seiner Rede über die Familie Ostwald deutlich. Zur Zeit der Weimarer Republik war Dr. Max Ostwald ein Dortmunder Rechtsanwalt und Notar.
Er stammte aus dem beschaulichen Sichtigvor (nahe Warstein) im Sauerland, wo heute mit einem Platz ebenfalls an die Familie Ostwald erinnert wird. Hedwig Strauss kam aus Dortmund und arbeitete als Sekretärin in einer Rechtsanwaltskanzlei, in der sich Max und Hedwig kennenlernten. 1920 erfolgten die Verlobung und Heirat.
Bis die Nazis an die Macht kamen, waren die Ostwalds eine geachtete Dortmunder Familie. Bereits 1933 wurde durch das diskriminierende „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ der Nazis der Jude Ostwald aus dem Amt des Notars entlassen und ihm 1938 die Rechtsanwaltszulassung entzogen. Die Diskriminierungen erfassten nach und nach alle Lebens- und Arbeitsbereiche.
Spätestens mit der Reichspogromnacht am 9. November 1938 steigerte sich die Ausgrenzung der Juden zur Vertreibung und Verfolgung. Auch die Familie Ostwald war bald davon betroffen. „Sie wurden aus ihrem gewohnten Leben gerissen“, betonte Bürgermeister Schilff. Am Morgen des 9. November 1938 wurden Max und seine Söhne Martin und Ernst verhaftet und in das Polizei-Gefängnis Steinwache gebracht. Von dort aus wurden sie drei Tage später in das Konzentrationslager Sachsenhausen transportiert.
Die minderjährigen Söhne entkamen den Lagern und Nazi-Deutschland
Hedwig Ostwald unternahm alles, um ihre Kinder und den geliebten Ehemann aus dem Konzentrationslager zu bekommen. Mit dem Versprechen einer sofortigen Ausreise kamen beide Söhne im Alter von 15 und 17 Jahren nach drei Wochen schließlich frei und wurden mit einem Kindertransport am 3. Dezember in die Niederlande gebracht. „Was für eine mutige Entscheidung. Die meisten wären gar nicht hier, hätten sie es nicht getan“, stellte die Enkelin Maxine Ostwald fest.
Max Ostwald wurde erst am 15. Dezember entlassen und so sah er die Söhne nie wieder. Während die Kinder in den Niederlanden in die die Quarantäne gehen mussten, kehrte er zu Hedwig nach Dortmund zurück.
Sie mussten aber 1939 nach Bielefeld umziehen, wo Max ab August für die Bezirksstelle Westfalen der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland (RVJD) arbeitete. Er war dort für Rechtsfragen und Vertragsangelegenheiten zu ständig. Für die Kinder Martin und Ernst ging es dann weiter nach England.
Ab 1940 leitete Max Ostwald die Bezirksstelle als Nachfolger von Rosa Karfiolaus. Es kam immer wieder zu Streitigkeiten. 1942 wurde er ersetzt und am 29. Juli mit seiner Frau Hedwig von Bielefeld in das Lager Theresienstadt deportiert. Dort starb er am 7. September 1943. Seine Frau Hedwig wurde am 19. Oktober 1944 nach Auschwitz gebracht und kurz danach ermordet.
Bis zuletzt glaubten die Großeltern an das Gute und ein Wiedersehen mit der Familie
Bei der Stolpersteinverlegung in Dortmund kam es zu einem regelrechten Familientreffen. Angehörige aus Spanien, England und den USA waren zu diesem Anlass in die alte Heimat der Vorfahren gekommen.
Enkelin Nicky Helliwell (geborene Ostwald) bedankte sich bei der Stadt Dortmund, bei Hans-Joachim Pohlmann als Vertreter des Dortmunder Anwalt- und Notarvereins (dieser hatte die Patenschaft für die Stolpersteine übernommen) und bei Alexander Sperling vom Landesverband der jüdischen Gemeinden für ihr Engagement und ihre Anwesenheit.
Ihre Schwester Maxine schloss sich mit Zitaten aus den Briefen von Hedwig und Max Ostwald an ihre Söhne Ernst und Martin an. In diesen Briefen berichtete Hedwig liebevoll über die Gefühle nach der Flucht der Kinder. Ebenso las Maxine den Brief von ihrer Großmutter nach dem Tod von Max und den letzten Brief von kurz vor der Deportation aus Theresienstadt vor.
Martins Sohn David betonte den unglaublich festen Glauben seiner Großeltern an das Gute in der Zukunft und auf das Wiedersehen mit ihren beiden Söhnen.
„Nichts ist beständiger als der Wandel, nichts dauerhafter als der Tod. Wir ertragen ihn mit Beharrlichkeit und im Vertrauen auf Gottes Güte“, schreibt Hedwig am 26. Juli 1942. Mit dem Zitat „Dem Mutigen gehört die Welt“, schloss David ab.
Doch dieser Wunsch eines Wiedersehens erfüllte sich bekanntlich nicht mehr. Max Ostwald starb am 7. September 1943 in Theresienstadt. Seine Frau Hedwig wurde am 19. Oktober 1944 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.
Neue Leben für die überlebenden Söhne in England bzw. Kanada
Ihre Söhne überlebten im Exil. Mit dem Kindertransport in die Niederlande ging es 1940 für sie direkt weiter nach England. Ernst und Martin kamen aufgrund ihrer deutschen Herkunft als „gefährliche Ausländer“ in Internierungslager. Martin wurde nicht wie sein Bruder in England interniert, sondern nach Kanada gebracht. Dort studierte er bis 1946 an der University of Toronto die Klassischen Altertumswissenschaften.
Er machte seinen Master 1948 in Chicago und 1952 seinen Doktor in New York an der Columbia. Er lehrte dann ab 1958 in Pennsylvania. Durch seinen Bruder lernte er seine Frau Lore Weinberg kennen, mit der er die Söhne David und Mark Ostwald bekam. Martin starb 2010.
Ernst war sein Leben lang leidenschaftlich interessiert an Naturwissenschaften, Sprachen, Literatur und Kunst. Während seines Aufenthalts im Lager beschäftigte er sich intensiv mit Englisch und Chemie. Nach seiner Entlassung arbeitete er zunächst für einen jüdischen Hutmacher. Von 1958 bis zu seinem Tod war er zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit des Chemie-Unternehmens Scott Bader Ltd. in Wollaston.
Ernst war ein Humanist und aktives Mitglied der Labour Party. 1952 lernte er Hannelore Wagner kennen. Das Paar heiratete sechs Monate später und bekam zwei Töchter: Nicola und Maxine Ostwald. Ernst Ostwald starb 1967 an einem Gehirntumor.
„Die schieren Zahlen dieses Holocaust […] sind jenseits jeder Vorstellungskraft“
„Zwei Seelen schlagen in meiner Brust“, bekannte Hans-Joachim Pohlmann: Auf der einen Seite stehe seine Freude „über diesen Akt der Erinnerungskultur“ und das Kennenlernen der Nachfahren der Familie Ostwald. Auf der anderen Seite fühle er „das Grauen, das Menschen einander antun können“, sagte der Dortmunder Jurist. Schließlich hätten damals „arische“ Berufskollegen vom Leid der Juden profitiert und gerne deren Mandanten übernommen.
Auch für Alexander Sperling sind „die schieren Zahlen dieses Holocaust […] kaum fassbar, kaum vorstellbar und jenseits jeder Vorstellungskraft“.
Zunächst habe er Zweifel gehabt, ob Stolpersteine ein gutes Werkzeug der Erinnerungsarbeit seien. Doch mittlerweile halte er dieses Format für eine gute Möglichkeit, betonte der Geschäftsführer des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe.
Organisiert hatte diese Stolpersteinverlegung der Dortmunder Jugendring. Die inhaltliche Vorarbeit und die Recherchen kamen von den Familien und Freunden, aber auch von Willi Hecker, einem Lokalhistoriker aus Ostwalds Geburtsort Sichtigvor bei Warstein.
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Reader Comments
Ulrich Sander (Gruppe „Kinder des Widerstandes“)
Die Erinnerungsarbeit mit den Stolpersteinen ist eine würdige und zu Herzen gehende Bewegung. Sie sollte unbedingt fortgesetzt werden. Dem Jugendring ist für seine Initiativen zu danken. Stolpersteine zur Erinnerung an die Opfer sollten ergänzt werden durch Mahntafeln zur Warnung vor den Tätern. An die Sklavenhalter und Mörder der Zwangsarbeiter wird mit einem Mahnmal am Phönixsee erinnert. Die ökonomischen Eliten wie Vögler, Springorum, Kirdorf gehörten zu den Tätern. Warum gibt es noch immer eine Kirdorf-Kolonie und eine Springorumstraße? Wo klärt eine Tafel über Vögler auf, der in Auschwitz eine Firma unterhielt, in der es nach dem Prinzip ‚Vernichtung durch Arbeit‘ zuging? Vier jüdische Widerstandskämpferinnen aus Fröndenberg wurden Anfang Januar 1945 als Opfer Vöglers erhängt. Freunde und ich haben vorgeschlagen, am Ort des Treffens der profaschistischen Ruhrlade der Industriellen eine Mahntafel aufzustellen. Das wurde fast einstimmig von der zuständigen Bezirksvertretung abgelehnt.
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Stolpersteine wurden erstmals im Oktober 2005 in Dortmund, im Rahmen des gleichnamigen Kunstprojekts von Gunter Demnig, verlegt. Sie sollen an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern, die in Dortmund gelebt und gewirkt haben. Inzwischen wurden in Dortmund mehr als 360 Steine verlegt.