Von Claus Stille
Die EU ist vielfach in der Krise. Ein Rechtsruck geht durch Europa. Antieuropäische Populisten und Fremdenfeindlichkeit haben in vielen Mitgliedsländern Oberwasser. Wirtschaftliche und soziale Ungleichheit verstärken die breite Unzufriedenheit mit der EU. Das gefährdet zunehmend die größten Errungenschaften des Projekts Europa: Das Zusammenwachsen des Kontinents und den Frieden. Darüber zu sprechen, war Sven Giegold – Europaabgeordneter aus NRW und Sprecher der deutschen Grünen im EU-Parlament sowie Obmann der grünen Fraktion im Ausschuss für Wirtschafts- und Finanzpolitik – am Dienstag dieser Woche in die Auslandsgesellschaft NRW nach Dortmund gekommen.
Keine einfachen Lösungen für die großen Fragen der Zeit – auch die europäische Politik tut sich schwer
Schon nach wenigen Worten seines Referates wurde klar: Giegold, seit 2009 im Europäischen Parlament, verkennt nicht, was schief und unglücklich läuft in der EU. Jedoch tritt er Kritikern, welche zur EU nur noch sagen: „Hau wech den Scheiß“, vehement entgegen.
Seine schwer wegzuwischenden Argumente: Auch in den Nationalstaaten laufe so manches falsch. Zudem wären diese oftmals gar nicht in der Lage, große Herausforderungen – Giegold führte als Beispiel den Klimaschutz an – allein zu stemmen.
Zunächst sprach Sven Giegold den in den letzten Jahren erfolgten Rechtsruck in der EU und auch hier in Deutschland an. Diese Rechtsparteien, so der Politiker, „werben dafür, das Europäische Projekt zurück abzuwickeln“. Gründe dafür seien große, bittere Fragen, die in der europäischen Politik schwer zu lösen sind. Die Menschen zu recht zweifeln ließen.
Gegründet als Wertegemeinschaft, stehen jetzt die Grundwerte der EU auf dem Spiel
Das erste sei, dass Europa ja ganz bewusst – wie in den Europäischen Verträgen zu lesen – nicht „als Zugewinngemeinschaft im wirtschaftlichen Sinne, sondern als Wertegemeinschaft“ gegründet worden sei. „In den letzten Jahren“, schätzte Sven Giegold ein, „ist es in Europa an die Grundwerte gegangen“.
Als Beispiele führte er Ungarn unter Viktor Orban an, „der Wahlkampf mit antisemitischen Ressentiments“ und gegen Flüchtlinge gemacht habe sowie dafür sorge, dass die Presse in die Hände von Leuten gelange, die ihm politisch nahestehen.
Des Weiteren sei die Steueroase Malta ein Problem, „wo nach wie vor zwei korrupte Minister im Amt sind“. Zypern hänge „massiv am Schwarzgeld aus Russland“. Auch die Morde an JournalistInnen in Malta und der Slowakei seien bedenkliche Anzeichen.
Deutschland entdeckt für kurze Zeit Solidarität – dann eine Politik gegen die Menschenwürde
Ein zweites, einschneidendes Problem: das Handeln von EU-Staaten in der Flüchtlingskrise. Das habe auch ein schlechtes Licht auf Deutschland geworfen. Jahrelang hätten die EU-Außenstaaten Ländern wie Deutschland die Flüchtlinge vom Hals gehalten. Deren Sorgen habe Berlin jedoch nicht hören wollen. Dann seien 2015 die Türen geöffnet worden. Giegold: „Deutschland entdeckte seine Liebe zur Solidarität.“
Berlin habe erwartet, dass andere Staaten die Flüchtlinge nach einem Verteilungsschlüssel übernehmen, „ohne dass es dazu eine europaweite Debatte gab“. Unterdessen sei Deutschland längst wieder umgeschwenkt und dabei, die Flüchtlinge an den Außengrenzen der EU abzuwehren.
„Das Gegenteil von dem, was Menschenwürde eigentlich bedeute“, skandalisierte Sven Giegold. Das Handeln Deutschlands – den anderen Staaten Flüchtlinge sozusagen aufzwingen zu wollen – habe zu enormen Spannungen in der EU geführt.
Unmut in Europa über gebrochene Versprechen wächst – Die unerträgliche Arroganz Deutschlands
Viele Leute bezweifelten heute, dass es ihnen besser als früher gehe. Das ursprüngliche Versprechen der EU auf eine Erhöhung des Wohlstandes bröckele, merkte der Grünen-Politiker an. Der Unmut in Europa über die dort aufscheinenden Probleme wüchse. Und diese dürften, da zeigte sich Giegold sicher, bei den Europawahlen im nächsten Jahr zu entsprechenden Reaktionen führen.
Deutschland schrieb Sven Giegold ins Stammbuch: Übel sei es, wenn derjenige, der gestärkt aus einer Krise hervorgegangen ist – wie eben der einstige „kranke Mann Europas“, Deutschland – in Brüssel, in den Medien „immer noch erzählt, Ihr seid blöd und wir Deutschen wissen wie es geht und Ihr müsst alle nur so werden wie wir und Euch mal am Riemen reißen, dann wird’s schon“.
„Diese Schäuble-Art, diese Reden im Bundestag – Sie müssen sich mal anhören, wie das etwa in Italien ankommt“, erklärte Giegold und schickte hinterher: „Dieses Besetzen von Plätzen mit Handtüchern, dass hat man uns ja noch irgendwie nachgesehen, aber diese politische Arroganz ist unerträglich.“
Syrien als klassisches Beispiel für europäische Einflusslosigkeit: koloniale Restphantasien?
Der Referent wies auf die derzeit schwelenden, schweren Konflikte in der Welt und das Thema Frieden hin: „Wie soll ein einzelner Staat dazu beitragen, dass es etwas friedlicher zugeht auf der Welt?“ Syrien etwa sei das klassische Beispiel, was passiert, wenn Europa keinen Einfluss ausübe. – Europa weiß es offenbar besser, ließ sich interpretieren.
Ganz andere Mächte seien da am Start gewesen, so Giegold. Nannte Russland, Saudi-Arabien und den Iran. Diese Aufzählung stieß bei einigen Zuhörern auf Unmut: Hätten nicht in erster Linie die USA genannt werden müssen? Ein Herr wandte ein: „Das ist ein geopolitischer Krieg!“ Giegold meinte, die USA erwähnt zu haben. Hatte er aber nicht.
Europa wirkt wie selbstverständlich und nahezu unbemerkt im Positiven
Den Rechtspopulisten könne man nicht nur mit Rationalität entgegentreten. Man müsse zunächst einmal sagen, was man an Europa und bisher erreicht habe im positiven Sinne. Als gutes Beispiel führte Sven Giegold „zuspitzend“ eine Million „Erasmus-Babys“ an, dadurch, dass Studierende heute international mobil seien. Sowie vier Millionen „Erasmus-Großeltern“, wo Familien über Grenzen hinweg Bande geknüpft hätten.
Giegold: „Das ist ein unglaublicher Beitrag zur Völkerverständigung, der es viel, viel schwerer macht, wieder aufeinander loszugehen.“ Dennoch müsse zugegeben werden, dass „Europa in vielerlei Hinsicht inperfekt ist“. Als große Errungenschaft bezeichnete Giegold die europäische Gerichtsbarkeit (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte).
Will Europa überleben, geht dies nur, wenn die EuropäerInnen ihre Union als gerecht wahrnehmen
Für soziale Gerechtigkeit und mehr Solidarität in Europa sorgen könnte man, so Giegold, indem man ein Steuersystem baue, „dass dafür stehe, dass alle ihren Beitrag leisten“. Denn im Moment sei es ja so, dass die EU sehr viele Möglichkeiten böte, Steuern zu vermeiden oder zu hinterziehen: „Tausend Milliarden Euro gehen uns jährlich durch die Finanzkriminalität verloren.“ Es brauche einen europäischen Mindeststeuersatz.
Im 19. Jahrhundert sei es gelungen „eine relative Trennung zwischen Kirche und Staat“ zu erreichen. „Eine absolute Voraussetzung für die Demokratisierung und Rechtsstaat“, erinnerte Giegold. Nun im 21. Jahrhundert stelle „sich die Frage, ob es uns gelingt eine Trennung zwischen dem Geld der Mächtigen und der demokratischen Politik herzustellen“. Und Sven Giegold überzeugt: „Wenn wir das nicht schaffen, verlieren wir als demokratische Rechtsstaaten jeden Respekt vor den Bürgerinnen und Bürgern.“
Die europäische Einigung sei eine enorme Errungenschaft fasst Sven Giegold zusammen. „Und jeder, der sie vorschnell wegen Unzufriedenheit über Punkte verdammt, macht aus meiner Sicht einen schweren Fehler. In Europa laufen viele Dinge schief, genauso wie in Berlin, in NRW, in Dortmund – aber dass wir das haben, ist die Voraussetzung dafür, dass wir demokratische Kontrolle zurückgewinnen. Deshalb lohnt es sich, darüber zu streiten, welche Richtung diese EU nimmt und ob sie demokratischer, solidarischer und ökologischer wird.“
Nach dem Vortrag von Sven Giegold: lebhafte Diskussion für und gegen, aber im Geiste Europas
Die sich an den Vortrag anschließende Frage- und Diskussionsrunde ließ noch einmal klarwerden, wie kritisch diese EU und ihr derzeitiges Erscheinungsbild von verschiedenen Köpfen im Saale mittlerweile bedacht und gesehen wird. Von Menschen übrigens, die gewiss keine EU-Gegner, sondern vielmehr sehr unzufrieden mit dem Ist-Zustand dieser Gemeinschaft sind. Dementsprechend kontrovers verlief dann auch die Diskussion.
Till Strucksberg (Attac Dortmund) ging u.a. auf die vielen Visionen ein, die Giegold geäußert hatte – „die muss man auch haben“ – und beklagte, dass erreichte Erfolge bei den Protesten gegen TTIP und CETA nun wieder im Sande verliefen. Das Investitionsschutzabkommen der EU etwa mit Japan rufe so gut wie keine Resonanz hervor, obwohl nun wieder im Geheimen verhandelt werde.
Strucksberg meinte, er benötige „Nachhilfe“ von Sven Giegold, wie etwa die von ihm geforderte einheitliche Besteuerung in der EU erreicht werden solle – selbst wenn die Grünen oder der fortschrittliche Teil der Abgeordneten einmal die Mehrheit im EU-Parlament haben sollte. Denn dafür müssten doch alle 27 EU-Staaten zustimmen.
Eine Zuhörerin empfand das Vorgetragene als zu negativ. Ein Herr entgegnete: „So ist der momentane Zustand halt.“ Sven Giegold nahm sich viel Zeit für die Beantwortung der komplexen Fragen aus dem Publikum, welche eine komplexe Befassung damit notwendig machte. – Europa ist eben nicht leicht.
Europa glaubhaft zu verteidigen, bedeutet: Umsteuern in Richtung Gerechtigkeit
Die interessante Veranstaltung – getragen von der Attac-Regionalgruppe Dortmund, dem DGB Dortmund-Hellweg sowie der Evangelischen Akademie Villigst – reizte die von der Auslandsgesellschaft vorgesehenen Schlusszeit reichlich aus. Referent Giegold hatte, indem er die Vorzüge des Europäischen Projekts gegen deren nicht wenige, nicht weg zu retuschierende Fehler standhaft und im Brustton der Überzeugung verteidigte, sozusagen einen Ritt auf der Rasierklinge gewagt.
Den Gesichtern so mancher Menschen im Publikum war abzulesen und aus deren Äußerungen in der Diskussion und den Gesprächen nach der Veranstaltung war herauszuhören, dass man aufgewühlt, wenig überzeugt oder gar enttäuscht nachhause gehen würde.
Wie lautete noch einmal das Thema des Vortrags? „Europa gerecht umsteuern“! Dagegen dürfte gewiss niemand der Anwesenden gewesen sein. Ganz im Gegenteil. Nur der Glaube an die Umsetzung dieser hehren Worte fehlt wohl vielen. Bliebe freilich noch die Hoffnung. Die stirbt bekanntlich zuletzt.
Summa summarum im Sinne Sven Giegolds – aus der Einladung zur Veranstaltung:
„Europa braucht mutige Verteidiger und konsequente Reformen. Wir wollen in Gemeinschaftsprojekte investieren, die Europa ökologisch, sozial und wirtschaftlich nach vorne bringen. Das kann Europa leicht bezahlen, wenn wir konsequent gegen Steuerdumping und Wirtschaftskriminalität vorgehen.
Dafür braucht es an wichtigen Stellen mehr Europa. Doch mehr Europa wird nur breite Unterstützung finden, wenn Europa demokratischer und sozialer wird. Dazu gilt es, die Macht einflussreicher Lobbygruppen einzuschränken und die EU insgesamt transparenter, bürgernäher und solidarischer zu machen.“
Weitere Informationen:
Homepage von Sven Giegold, hier: