Sie überlebte den Holocaust, engagierte sich zeitlebens in Deutschland als Antifaschistin – Esther Bejarano (96) ist tot

Lesung und Konzert in der Reinoldikirche mit Esther Bejarano und der Microphone-Mafia  2014. Foto: Alex Völkel

Sie überlebte Zwangsarbeit, die NS-Lager Auschwitz und Ravensbrück, einen der berüchtigten Todesmärsche. Esther Bejarano engagierte sich ihr Leben lang gegen jedwede Art von Ausgrenzung, Repression, Rassismus, Antisemitismus, Rechtsextremismus. Gegen alte und neue Nazis, überall.

Nun ist sie tot. Gestorben im Alter von 96 Jahren, heute Nacht um 4:40 Uhr, in ihrer Wahlheimat Hamburg. Nach kurzer schwerer Krankheit, wie der Leiter der Anne-Frank-Bildungsstätte, Meron Mendel, per Twitter am Morgen mitteilte.

Eine große, wunderbare Frau ist von uns gegangen, mit einem unbeugsamen Durchhaltewillen. Getragen von der unverbrüchlichen Hoffnung, dass eine bessere Welt möglich ist – setzen wir uns nur für sie ein. Ihre Kraft, gegen Unmenschlichkeit, Gewalt und Krieg aufzustehen, symbolisiert das Beste antifaschistischer Kultur in diesem Lande.

Wir betrauern einen unendlichen Verlust, den Tod eines nicht nur einzigartigen Menschen, sondern ihren – den Esthers: Holocaustüberlebende, kämpferische Antifaschistin, Mahnerin gegen fehlende Erinnerung. Die nie den Blick in die Zukunft verlor: eine stets aufgeschlossene Frau, gleichsam leibhaftige Verbindung zwischen Kulturen und Sprachen – um Lebensfreude, kein Lächeln je verlegen.

Überleben als Musikerin im Mädchenorchester des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau

Esther Bejarano, geb. Loewy, aufgewachsen in Saarlouis, dem dann (seit 1935) späteren Saarbrücken, entkam der Hölle des Nationalsozialismus, weil sie musikalisch begabt war. Spielte Akkordeon im Mädchenorchester des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, in das sie im April 1943, gerade einmal 18 Jahre alt, zwangsdeportiert wurde. Sie mussten damals spielen, wenn die wie Vieh in Güterwaggons ankommenden Menschen ins Lager gebracht wurden, erzählte sie in einem Interview. Um dort ermordet zu werden.

Es war der kalte, nackte Zynismus des deutschen Faschismus und seiner Schergen. Doch der Nationalsozialismus brach sie nicht. Später, nach einigen Jahren in Israel, wo sie ihren Mann kennenlernte, zurück in der Bundesrepublik, engagierte sie sich gegen das Vergessen. Bei zahlreichen Kundgebungen gegen Rechts wandte sie sich vor allem an die Jugend, wenn sie als Künstlerin und Zeitzeugin vor Schulklassen auftrat:

„Ihr habt keine Schuld an dieser Zeit. Aber ihr macht euch schuldig, wenn ihr nichts über diese Zeit wissen wollt. Ihr müsst alles wissen, was damals geschah. Und warum es geschah“, sagte sie. Zuletzt in der Tagesschau anlässlich des 76. Jahrestages der Befreiung vom Nationalsozialismus durch die sowjetische Armee.

Unerschütterliche Protestsängerin als Dame gehobenen Alters in einer Hip-Hop-Band

Esther Bejarano und die Mikrophone Mafia gemeinsam auf der Bühne. Foto: DKH
Esther Bejarano und die Microphone Mafia, gemeinsam in Dortmund auf der Bühne. Foto: DKH

Anfang der 80er Jahre rief sie mit ihrer Tochter Edna und Sohn Joram die Gruppe „Coincidence“ ins Leben. Der Kern ihres Repertoires waren jüdische und antifaschistische Lieder des Widerstands.

Seit 2007 arbeite die Holocaustüberlebende mit Kutlu Yurtseven und der Kölner Hip-Hop-Band „Microphone Mafia“ zusammen. Anlass, dass sie zusammenfanden, war eine Kampagne von demokratischen Jugendverbänden gegen den Einfluss von Neonazis an Schulen.

Nach einer ersten CD 2009 – „Per la Vita“ – folgten zahlreiche gemeinsame Auftritte landesweit, auch mit ihren Kindern an der Seite. Es ging um Toleranz, um Verständnis unter den Kulturen, um Frieden und gegen Hass. Mit einer betagten Frau auf der Bühne, die mit hellem Verstand eine unglaubliche Energieleistung nach der anderen ablieferte. Sie brauchte das.

Engagement als Ehrenvorsitzende der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN-BdA)

Esther Bejarano scheute den Streit nicht. Sie erhob mutig ihre Stimme, wo sie Unrecht sah. Auf der Bühne, in Lesungen, bei Protestveranstaltungen, als kritischer Zeitgeist. Bis zum Schluss. Angesichts des erstarkenden Rechtsextremismus in der Bundesrepublik – und des Umstandes, dass er sich im „tiefen Staat“ offenbar recht wohlfühlt.

Als Ehrenvorsitzende der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) forderte sie in einem offenen Brief an die bundesdeutsche Politik Anfang 2020, als die Gemeinnützigkeit der Vereinigung auf dem Spiel stand, „dass die Diffamierung von Menschen und Organisationen aufhört, die entschlossen gegen rechts handeln“. – „Was ist gemeinnütziger als Antifaschismus?“, fragte sie zielsicher.

Der 8. Mai, der Tag der Befreiung vom NS-Terrorregime 1945, sollte in ihren Augen ein Feiertag werden. „Das ist überfällig seit sieben Jahrzehnten“, forderte sie, mahnendes Gedenken im Blick. – Ausgezeichnet wurde Esther Bejarano unter anderem mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille der Internationalen Liga für Menschenrechte und dem Bundesverdienstkreuz.

Aufstehen gegen Rechts

Impressionen vom Auftritt von Esther Bejarano in der Reinoldikirche:

Reader Comments

  1. Esther Bejarano, Überlebende des Vernichtungslagers Auschwitz und Mitglied im Ehrenpräsidium der FIR ist verstorben (PM FÉDÉRATION INTERNATIONALE DES RÉSISTANTS (FIR) – ASSOCIATION ANTIFASCISTE)

    Esther Bejarano, Überlebende des Vernichtungslagers Auschwitz und Mitglied im Ehrenpräsidium der FIR ist verstorben (FÉDÉRATION INTERNATIONALE DES RÉSISTANTS (FIR) – ASSOCIATION ANTIFASCISTE)

    Am 10. Juli 2021 erreichte uns die traurige Nachricht, dass Esther Bejarano, Überlebende des Vernichtungslagers Auschwitz und seit Jahrzehnten in der antifaschistischen Bewegung in Hamburg tätig, Ehrenvorsitzende der deutschen VVN-BdA im Alter von 96 Jahren nach kurzer schwerer Krankheit verstorben ist. Wir sind betroffen und traurig.

    Die VVN-BdA beschreibt in ihrem Nachruf Esther Bejarano als eine Frau von großer Entschiedenheit und geradezu unglaublichem Elan, die viele von uns noch bis vor kurzem auf der großen Bühne erleben durften. Zuletzt saß sie am 8. Mai auf unserer kleinen Bühne im Hamburger Gängeviertel und erzählte von ihrer Befreiung am 3. Mai 1945 durch Soldaten der Roten Armee und der US-Armee, die kurz nacheinander in der kleinen Stadt Lübsz eintrafen. Dort hatte Esther mit einigen Freundinnen aus dem KZ Ravensbrück Unterschlupf gefunden, nachdem sie gemeinsam dem Todesmarsch entflohen waren. Unvergessen ist ihre Petition zum 8. Mai, die von über 150.000 Menschen unterstützt wurde.

    „Der 8. Mai muss ein Feiertag werden! Ein Tag, an dem die Befreiung der Menschheit vom NS-Regime gefeiert werden kann. Das ist überfällig seit sieben Jahrzehnten. Und hilft vielleicht, endlich zu begreifen, dass der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung war, der Niederschlagung des NS-Regimes. Am 8. Mai wäre dann Gelegenheit, über die großen Hoffnungen der Menschheit nachzudenken: Über Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – und Schwesterlichkeit.“

    Der FIR-Kongress in Reggio Emilia ernannte sie zum Mitglied des Ehrenpräsidiums mit folgender Begründung: „Wir würdigen Deine jahrzehntelange aktive Arbeit in den Reihen der VVN-BdA, als unermüdliche Zeitzeugin und als antifaschistische Künstlerin. Gerade Deine intensive Arbeit mit den jungen Generationen und Dein Einmischen in die politischen Auseinandersetzungen der Gegenwart sind beispielhaft für uns alle.“
    Nun ist die unermüdliche „Zeitzeugin“ gegen Vergessen des historischen Faschismus und Verharmlosen des Neofaschismus, Mahnerin und Kämpferin für Menschenrechte, Frieden und eine solidarische Gesellschaft von uns gegangen.

    Die FIR spricht den Kindern von Esther Bejarano, ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern in der VVN-BdA, im deutschen und Internationalen Auschwitz-Komitee und allen mit ihr verbundenen Antifaschisten ihr tiefempfundenes Beileid aus.

    Dr. Ulrich Schneider, Generalsekretär
    FÉDÉRATION INTERNATIONALE DES RÉSISTANTS (FIR) – ASSOCIATION ANTIFASCISTE

  2. Wolfgang Richter

    Ein Nachruf

    … Zuletzt saß sie am 8. Mai auf der kleinen Bühne der VVN-BdA im Hamburger Gängeviertel und erzählte von ihrer Befreiung am 3. Mai 1945 durch Soldaten der Roten Armee und der US-Armee, die kurz nacheinander in der kleinen Stadt Lübsz eintrafen. Dort hatte Esther mit einigen Freundinnen aus dem KZ Ravensbrück Unterschlupf gefunden, nachdem sie gemeinsam dem Todesmarsch entflohen waren.

    Wenige Tage zuvor, am 3. Mai, den sie ihren zweiten Geburtstag nannte, hat Esther sich noch mit einer Video-Botschaft zum Tag der Befreiung an uns alle gewendet. Darin bezog sie noch einmal deutlich Stellung zu aktuellen Auseinandersetzungen in der Stadt Hamburg und im ganzen Land – kämpferisch, klar und stark. Besonders erinnern wollen wir an den bewegenden „Appell an die Jugend“, den sie zusammen mit Peter Gingold zum 50. Geburtstag der VVN an die jungen Menschen in Deutschland richtete.

    Im Januar 2020 hatte Esther mit dem Auschwitz-Komitee einen offenen Brief an die Regierenden geschrieben. Zwei der Forderungen aus dem Brief sind: „Ich fordere, dass die Diffamierung von Menschen und Organisationen aufhört, die entschlossen gegen rechts handeln. Was ist gemeinnütziger als Antifaschismus? Niemand sollte für antifaschistisches Handeln, für gemeinsame Aktionen gegen den Hass, gegen alte und neue Nazis diskreditiert und verfolgt werden.“ Und: „Der 8. Mai muss ein Feiertag werden! Ein Tag, an dem die Befreiung der Menschheit vom NS-Regime gefeiert werden kann. Das ist überfällig seit sieben Jahrzehnten. Und hilft vielleicht, endlich zu begreifen, dass der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung war, der Niederschlagung des NS-Regimes. Am 8. Mai wäre dann Gelegenheit, über die großen Hoffnungen der Menschheit nachzudenken: Über Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – und Schwesterlichkeit.“

    Wir haben Esther aber auch auf den großen Bühnen in Erinnerung, auf den Veranstaltungen der Friedensbewegung, den Demonstrationen gegen den Neofaschismus, den Gedenktagen an den antifaschistischen Kampf.

    Es ist Esther schwergefallen, nach Deutschland zurückzukehren. 1945 war sie mit großen Hoffnungen nach Palästina ausgewandert, aber die Entwicklung in Israel veranlasste sie 1960 mit ihrem Mann, dem Kommunisten Nissim, nach Hamburg, ihre neue Wahlheimat, zu ziehen.

    Sie wollte sich eigentlich politisch zurückhalten. Dann aber musste sie 1978 erleben, wie direkt vor ihrer kleinen Boutique ein NPD-Stand von der Polizei geschützt und die antifaschistischen Gegendemonstranten verdrängt wurden. „Erst da habe ich mich verändert“ sagte sie einige Jahre später.

    Sie wurde in der VVN-BdA aktiv, berichtete Jugendlichen über ihre Erlebnisse im „Dritten Reich“ und begann, bei öffentlichen Veranstaltungen jiddische Lieder und Lieder aus dem Widerstand zu singen.

    Ob allein mit ihrem Akkordeon, mit ihrer ersten Gruppe „Siebenschön“, mit ihren Kindern Edna und Joram in der Gruppe „Coincidence“ oder in den letzten Jahren mit der Rap-Band „Microphone Mafia“ und mit Konstantin Wecker auch auf dem UZ-Pressefest, dem Volksfest der DKP: Esther begeisterte durch ihre Authentizität und ihre Kraft. Bis zuletzt kämpfte sie gegen die wachsende Rechtsentwicklung, Rassismus und Antisemitismus, vermittelte uns dabei Mut und Optimismus.

    Wir werden sie vermissen im gemeinsamen Kampf, sie ist nicht zu ersetzen.
    DKP 11.07.2021

  3. Ulrich Sander

    Es ist sehr beeindruckend, wie viele wunderbare Bekundungen der Anteilnahme zum Abschied von unserer VVN-BdA-Ehrenpräsidentin Esther Bejarano veröffentlicht werden. Jetzt sind an mehreren Orten in Dortmund von Unbekannt Transparente aufgehängt worden mit der Inschrift:“Mir lebn ejbig! (Das bedeutet: Wir leben trotzdem) Ruhe in Frieden, Esther Bejarano!“. Esther Bejarano ist am Samstag (10. Juli) im Alter von 96 Jahren in Hamburg gestorben. Sie überlebte den Holocaust, saß im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Zuletzt war sie in Zwangsarbeit bei Siemens, wurde am 8. Mai 1945 befreit – ihr eigentlicher Geburtstag, wie sie sagte. Sie forderte den gesetzlichen Feiertag 8. Mai. Und als der VVN-BdA die Gemeinnützigkeit von Finanzbehörden genommen wurde, da schrieb sie einen zornigen Brief an Olaf Scholz: Das Haus brennt und ihr sperrt die Feuerwehr aus. Zeit ihres Lebens hat sich Esther Bejanarno bis ins höchste Alter gegen Rassismus und Neonazis, gegen die AfD und für den Frieden eingesetzt. Und sie wurde zu einer tragenden Figur des Antifaschismus. Sie sagte zur Jugend, denn sie sprach oft in Schulen: Ihr habt keine Verantwortung für das was geschah, aber dafür, dass es nie wieder geschieht.

    Ulrich Sander, Dortmund (VVN-BdA)

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