Von Klaus Winter
Zahlreichen Gesangvereinen, die häufig auf eine in vielen Jahrzehnten gewachsene Tradition verweisen können, geht es heute nicht mehr gut. Ihnen fehlt der sangesfreudige Nachwuchs und damit eine Zukunft. Die Vereine überaltern und ringen um ihre Existenz, eine unbekannte Anzahl hat sich – häufig von der Öffentlichkeit unbemerkt – aufgelöst. Vor rund 100 Jahren war das noch ganz anders gewesen! Gerade in Dortmund hatte sich kurz nach 1900 eine ganze Menge auf dem Gebiet des Sangeswesens bewegt.
Der Westfälische Provinzial-Sängerbund wurde in Dortmund gegründet
Den westfälischen Gesangsvereinen fehlte damals noch eine Dachorganisation, wie sie in den anderen Provinzen des Reichs längst eingeführt war. Den Mangel wollte man beheben und leitete ab 1907 die Vorbereitungen ein.
Am 5. Juli 1908 wurde dann in Dortmund der Westfälische Provinzial-Sängerbund ins Leben gerufen. Dortmund wurde Sitz des Sängerbundes und Bürgermeister Dr. Eichhoff zum ersten Bundesvorsitzenden gewählt.
Die ersten Veranstaltungen verliefen erfolgreich
Seinen ersten große Erfolg konnte der westfälische Sängerbund schon im zweiten Jahr seines Bestehens verzeichnen: Bei dem Festakt zur 300jährigen Zugehörigkeit der Grafschaft Mark zu Preußen am Kaiser-Denkmal auf Hohensyburg, bei dem auch das Kaiserpaar anwesend war, wirkten 1.350 Sänger mit.
Im Oktober 1909 fand der erste Sängertag des Bundes statt. Auf diesem wurde der Beschluss gefasst, am 3. und 4. Juli 1910 ein großes Bundesfest in Dortmund zu feiern. Die Einladung an die Mitgliedsvereine des Sängerbundes war sowohl von den Dortmunder Männergesangvereinen als auch dem Magistrat der Stadt ergangen.
Dortmund wollte großes Sängerbundesfest ausrichten
Den Verantwortlichen war wohl bewusst, dass die Organisation eines Festes, an dem eine dreistellige Zahl von Vereinen teilnehmen sollte, sehr kostspielig sein und erhebliche Probleme mit sich bringen würde. Schon die Wahl des Veranstaltungsorts bereitete Schwierigkeiten: In ganz Westfalen gab es keine Festhalle geeigneter Größe – auch nicht in Dortmund!
Dabei war der Saalbau Fredenbaum im weiten Umkreis die erste Adresse für Großveranstaltungen. Sein Festsaal war größer als der Kölner Gürzenich und der an ihn grenzende Wintergarten übertraf mit seinen Ausmaßen immer noch den Sitzungssaal des Reichstages in Berlin.
Die Sänger sollten am Fredenbaum auftreten
Wenn auch die Kapazitäten des größten Dortmunder Saalbaus nicht ausreichten, so fiel die Wahl des Veranstaltungsortes für das Erste Westfälische Provinzial-Sängerbundesfest dennoch auf den Fredenbaum. Denn zu dem Saalbau gehörten großzügige Außenanlagen, und anderem eine weitläufige Wiese. Diese eignete sich als Standort für ein Festzelt in der benötigten Größe.
Die Kosten des Festes sollten zum Teil durch die Eintrittsgelder gedeckt werden. Die Stadt Dortmund stellte einen Zuschuss in Aussicht und man rechnete auch mit weiteren Zuschüssen aus den Kassen der Provinz Westfalen. So wurde das Projekt in Angriff genommen.
Das Festzelt für das Sängerbundesfest wurde aus Konstanz geliefert
Das große Festzelt für das Westfälische Sängerbundesfest wurde von der Fa. L. Stromeyer & Co., Konstanz (Baden) geliefert. Der Aufbau stand unter der Leitung des Dortmunder Baurats Kullrich. Das Zelt wurde pünktlich fertiggestellt.
Die Presse pries den Bau als „Meisterwerk moderner Holzbaukunst“, „Luftig und doch massiv, unter Beschränkung auf das allernotwendigste erbaut, und dennoch eines künstlerischen Anspruchs nicht entbehrend.“ Man lobte das Zelt als ein Bild vornehmer Ruhe und Schönheit“.
Tatsächlich wäre der Begriff „kahl“ zur Beschreibung des Bauwerks zutreffender gewesen, wie die wenigen Fotografien aus seinem Innern überliefern. Denn aus Gründen der Akustik hatte man auf jegliche schmückende Ausstattung verzichtet.
Am Festzelt war alles monumental – Platz für 15.000 Gäste und 5000 Sänger
Das Festzelt sollte 15.000 Besucher und 5.000 Sänger fassen. Der Zugang musste deshalb gut organisiert werden. Auf jeder der beiden Längsseiten gab es vier Eingänge. „Die geradezu vollkommene Art und Weise, wie für den praktischen Zugang gesorgt war, die ungemein vernünftige und umsichtige Anordnung verdient ebenfalls alles Lob.“
Vor einem so großen Chor, wie er im Festzelt am Fredenbaum auftrat, konnte der Dirigent nicht einfach an ein Pult treten. Er musste einen beinahe schwindelerregend hohen Turm erklimmen, um den Chor leiten zu können.
Die musikalische Leistung des Massenchors überzeugte
Das Westfälische Provinzial-Sängerbundesfest fand am 3. und 4. Juli 1910 statt. An beiden Tagen trat der Massenchor der Gesangvereine in dem riesigen Festzelt auf. Begleitet wurden die 5.000 Sänger von einen 100 Mann starken Orchester.
Die musikalischen Leistungen fanden in der Tagespresse einen ausführlichen Nachhall. Die „Dortmunder Zeitung“ berichtete akribisch über mehrere Spalten. Sie übersah aber auch nicht, dass der Zuspruch des Publikums hinter den Erwartungen zurückgeblieben war.
Besucherzuspruch blieb hinter den Erwartungen zurück
Am 4. Juli, dem zweiten Festtag, wies die „Dortmunder Zeitung“ darauf hin, dass der Festausschuss beschlossen hatte, Karten für Schüler höherer Schulen zu einem ermäßigten Preis abzugeben. Offensichtlich galt es, Lücken in den Sitzreihen des Festzeltes zu füllen.
Direkt nach dem Fest, am 5. Juli, freute sich die Zeitung über den künstlerischen Erfolg der Sänger. Sie beklagte aber auch, „daß sich namentlich die besser situierten Kreise den Veranstaltungen ferngehalten haben.“ Man ahnte bereits, dass das Fest finanziell kein Erfolg gewesen sein konnte.
Militärkapellen füllten die Reihen
Am Wochenende nach dem Westfälischen Sängerbundesfest fand am Fredenbaum „eine Art Nachfeier“ statt. Auf dem Programm stand ein Militärkonzert, bei dem alle 16 Kapellen des 7. Armeekorps auftraten – eine selten große Besetzung.
Die Militär-Musiker zogen so viele Besucher an, dass das „Riesenzelt“ fast bis auf den letzten Platz gefüllt war, „eine Fülle, die man auch den beiden ersten Konzerten gewünscht hätte“.
Abbau des Zeltes nach nur drei Auftritten
An insgesamt drei Tagen war das von weither gelieferte Riesenzelt für je ein Konzert genutzt worden. Nach dem Militärkonzert wurde es abgebaut. Dabei ereignete sich ein Unfall: Ein Zimmermann stürzte ab, zog sich einen Bruch des rechten Oberschenkels zu und musste in ein Krankenhaus gebracht werden.