Von Klaus Winter
Das Wichernhaus an der Stollenstraße ist über die Grenzen der Nordstadt hinaus als „KulturOrt“ bekannt. Sein abwechslungsreiches Programm aus Kleinkunst, Musik und Theater zieht regelmäßig ein zahlreiches Publikum an. Bekannt ist das Wichernhaus aber auch wegen seiner Suppenküche. Einmal pro Woche kochen hier Ehrenamtliche für bis zu 250 bedürftige Mitbürger*innen. Kultur und Fürsorge in der Form, wie sie heute an der Stollenstraße praktiziert wird, ist allerdings erst seit 2002 möglich. Vorher wurde das Wichernhaus als evangelische Kirche und Gemeindehaus genutzt. Die an seinen Außenwänden zu sehenden Kreuze weisen auf diese Vergangenheit hin.
Schon in der Planungsphase hatte das Wichernhaus seinen Namen erhalten
Die Anfänge des Wichernhauses finden sich im Jahre 1927. Im Herbst des Jahres begann die Reinoldi-Gemeinde, den Beschluss, ein neues evangelisches Gemeindehaus an der Stollenstraße nahe der Zeche Kaiserstuhl I zu errichten, in die Tat umzusetzen.
Die Zuständigkeit der Reinoldi-Gemeinde im nördlichen Stadtbezirk erklärt sich aus dem Umstand, dass die Johannes-Kirche an der Bornstraße – ebenso wie die Luther-Kirche an der Flurstraße – damals Filialen von Reinoldi waren.
Die Wahl des Bauplatzes für das neue Haus war wohl überlegt. Denn es sollte am westlichen Rand einer ebenfalls neuen Platzanlage entstehen, die die Stadtverwaltung als Zierplatz geplant hatte. Der Platz würde dem Neubau einen würdigen Rahmen geben.
Das neue Gemeindehaus erhielt schon vor dem ersten Spatenstich den Namen, den das Gebäude heute noch trägt: Es wurde benannt nach dem Hamburger Theologen und Sozialpädagogen Johann Hinrich Wichern (1808-1881), der als Gründer der Inneren Mission der evangelischen Kirche gilt.
Als der Grundstein gelegt wurde, hörte der Regen auf
Die feierliche Grundsteinlegung fand am Sonntag, 18. September 1927 statt. Auftakt der Veranstaltung war ein Festgottesdienst in der Johannes-Kirche. Von dort zogen die zahlreichen Festteilnehmer*innen unter Begleitung des Posaunenchores der Gemeinde zur geschmückten und beflaggten Baustelle. Rechtzeitig zum Beginn dieses Aktes hörte es auf zu regnen.
Die Festreden hielten der Vorsitzende des Presbyteriums, Pfarrer Wiedenfeld, und der Bezirkspfarrer Seewald. Letzterer stellte in seiner Rede „in großen Zügen die einzelnen Räumlichkeiten, die insbesondere der Jugend Gelegenheit zu fröhlich-ernstem Spiel geben“ sollten, vor. Er dankte auch der benachbarten Luther-Gemeinde. Die hatte den Bau ihres eigenen, dringend benötigten Gemeindehauses um ein Jahr verschoben, damit zunächst das Haus an der Stollenstraße entstehen konnte.
Nach der Verlesung der Urkunde wurde diese von dem Architekten Heinemann in einer Blechhülse verschlossen und von einem Maurer eingemauert. Es folgten Segenssprüche und ein Schlusslied. Dann zog die Versammlung zum Republikplatz (Nordmarkt), wo sie sich auflöste.
Früher als erwartet waren die Bauarbeiten abgeschlossen
Obwohl sie im Wesentlichen im Winterhalbjahr erfolgten, schritten die Bauarbeiten rasch voran. Auch ereigneten sich bei den Baumaßnahmen keine Unfälle, wie man später resümierte.
Früher als erwartet, nämlich bereits Ende März 1928 war der Neubau mit seinem markanten Giebel und dem Dachreiter soweit fertiggestellt, dass mit den Vorbereitungen für die Einweihungsfeier begonnen werden konnte.
Ende Mai 1928 hieß es dann in der Tagespresse, dass die Bauarbeiten abgeschlossen seien. Nur die Einfriedigung und geringfügige Erdarbeiten waren noch zu erledigen. Der Neubau, „der wegen seiner eigenartigen, aber dennoch schlichten Architektonik diesem Wohnviertel ein besonderes Gepräge gibt“, musste aber noch auf die Gestaltung des seitens der Stadtverwaltung vorgesehenen Platzes warten.
Die Säle im Erdgeschoss konnten zu einem Festsaal vereinigt werden
Das Innere des Gemeindehauses umfasste einen Kindergarten mit zwei großen, lichten Räumen, ein Heim für die männliche Jugend, zu dem auch zwei Räume mit Werkstätte gehörten, ein Heim für die weibliche Jugend und die Frauenhilfe sowie einen kleinen Saal für den Männerverein.
Die drei Säle im Erdgeschoss konnten in einen großen Festsaal verwandelt werden. Ferner gab es noch ein Kinderlesezimmer im Erdgeschoss, ein Brausebad im Kellergeschoss und Wohnungen für den Hauswart, den Jugendwart, zwei Gemeindeschwestern und eine Gehilfin.
Alles in allem waren 242.000 Mark investiert worden – eine stattliche Summe, wenn man bedenkt, dass in den Vorjahren bereits zwei Gemeindehäuser im Bezirk erbaut worden waren und der Neubau an der Luther-Kirche für das kommende Jahr vorgesehen war.
Architekt Heinemann übergab die Schlüssel an Pfarrer Seewald
Das Wichernhaus wurde am 10. Juni 1928 eingeweiht. Wie bei der Grundsteinlegung begann der Festtag mit einem Gottesdienst in der Johannes-Kirche und dem Zug der Gemeinde von dort zu dem eigentlichen Festort, damals „Alsenstr. 110“.
Vor dem Neubau übergab der Architekt Heinemann die Schlüssel. Bezirkspfarrer Seewald, gleichzeitig Vorsitzender des Hausvorstandes, schloss das Haus auf und die Festteilnehmer*innen strömten über die hohe Freitreppe in das Gebäude.
Obwohl der große Saal über 450 Sitzplätze verfügte, konnte er die Menge nicht fassen. Pfarrer Seewald brachte seine Freude darüber zum Ausdruck, mit dem neuen Haus „gerade dem Nordbezirk mit seiner Wohnungsnot und sittlichen Nöten einen Kindergarten, ein Jugendheim, ein Gemeindehaus zur Verfügung stellen zu können“.
In seiner Weiherede begrüßte Konsistorialrat Hymmen den einst gefassten Beschluss, „mitten hinein in das Gebiet der Zechenschlote und Fabrikbetriebe ein Haus der Gemeinschaft zu bauen“. Oberarzt Dr. Wichern, Bielefeld, überbrachte die Grüße des Provinzialkirchenrates – und dankte im Namen der Familie Wichern für die Benennung des neuen Hauses nach seinem Großvater!
Es folgten weitere Redner aus den Reihen der Kirche und der Stadt. Dabei stand das Leben und Wirken Johann Hinrich Wicherns im Mittelpunkt. Feierlich klang der Festakt aus.