Mord, Schwarzarbeiterstrich, verwahrloste Häuser, Drogenhandel und Prostitution – wenn man nur den Schlagzeilen glaubt, ist es in der Nordstadt schlimm wie nie. Doch die Medien vermitteln vielfach ein Zerrbild. Denn die Nordstadt ist besser als ihr Ruf, finden zumindest die Akteure des Planerladens.
Seit 1982 ist der Planerladen e.V. ein zivilgesellschaftlicher Akteur. Die Nordstadtblogger sprachen mit der Architektin Tülin Kabis-Staubach, Vorstandsmitglied des Vereins, und Prof. Dr. Reiner Staubach, Raum- und Stadtplaner sowie Mitbegründer des Planerladens.
Situation bei Problemhäusern deutlich entschärft
Für sie sind die Schlagzeilen nichts als Momentaufnahmen. Denn alle diese Themen haben eine – teils jahrzehntelange – Vorgeschichte. Und oft waren die Probleme damals sogar schlimmer. So war in der letzten Zeit häufig von Problemhäusern zu lesen. Verwahrloste Immobilien, in denen oft Roma unter menschenunwürdigen Bedingungen leben.
Natürlich gibt es diese Häuser – und auch nicht zu wenige. „Doch früher waren es deutlich mehr“, erinnert Tülin Kabis-Staubach. Statt aktuell zweistelliger Zahlen waren es früher hunderte Problem-Immobilien. In der Mallinckrodtstraße, der Uhlandstraße oder eben auch der Schüchtermannblock: Ganze Straßenzüge waren in den 80er-Jahren betroffen. „Davon ist ein bestimmter Rest geblieben“, macht die Architektin deutlich. Und natürlich sind andere Gebäude dazugekommen.
Die Ursachen sind damals wie heute dieselben: Eigentümerwechsel und Spekulation. Aber auch so wenige Gebäude machen Probleme, weil sie ganze Viertel oder Quartiere herunterziehen können.
Doch statt Lösungsansätzen seien oft nur populistische Forderungen zu hören. Sogar von alteingesessenen Migranten, weiß Kabis-Staubach. „Früher waren sie selbst die Sündenböcke, die dafür verantwortlich gemacht wurden.“ Um das untermauern, zeigt Reiner Staubach einen Zeitungsartikel aus dem Jahr 1976: „Die Ghettoisierung droht – 17 Prozent Ausländeranteil in der Nordstadt“ war die Zeile. Heute liegt der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund bei über 60 Prozent.
Verfehlte Migrationspolitik
Heute sollen vor allem die Zuwanderer und Armutsflüchtlinge aus Bulgarien und Rumänien daran „schuld“ sein. Für den Planerladen besteht die Lösung allerdings nicht in erhöhter Polizeipräsenz, sondern darin, die Bausubstanz menschenwürdig zu renovieren, ohne dass dadurch preiswerter Wohnraum verschwindet.
Denn der wird gebraucht: Nicht nur wegen der hohen Arbeitsquote in Dortmund von aktuell 13,6 Prozent (April 2013), sondern auch wegen der Zuwanderung. Denn die hat es schon immer gegeben. „Hungernde Menschen, die auf der Straße schlafen müssen, müssen zum Überleben klauen“, stellt Kabis-Staubach klar. Denn Perspektiven haben sie (noch) nicht: Sie dürfen nicht arbeiten, haben keine bezahlbare Wohnung und der Zugang zu den sozialen Hilfesystemen wird ihnen ebenfalls weitgehend verwehrt. So können sie sich nicht integrieren und auch nicht die Sprache lernen. Denn die Roma müssen als EU-Bürger ihren Sprachkurs selbst bezahlen. Doch wie sollen das Menschen machen, die kaum genügend Geld für Essen haben?
Entscheidend sei daher nicht der Anteil von Bevölkerungsgruppen, sondern deren Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Wer sozial und ökonomisch integriert ist, hat auch als Migrant (fast) keine Probleme. „Daher ist es kein Wunder, dass bestimmte Quartiere als Integrationsbrücke fungieren“, betont Tülin Kabis-Staubach.Und sie fügt hinzu: Den anderen Stadtteilen sei dies übrigens durchaus recht. Es gibt gute Handlungsansätze, zum Beispiel das Wohnprojekt Harzer Straße in Berlin-Neukölln der Aachener Wohnungs- und Siedlungsgesellschaft. Davon ist man in der Nordstadt noch weit entfernt. (Links am Ende des Artikels)
Unfaire Lastenverteilung
Allerdings muss man auch berücksichtigen, dass die Nordstadt beim Thema Zuwanderung schon seit dem 19. Jahrhundert eine gesamtstädtische Funktion übernimmt. Wie bei so vielen Themen: Das beste Beispiel ist der Straßenstrich und Prostitution – seit 1904, als die Marschall- zur Linienstraße und zum Bordell-Standort wurde, ist die Nordstadt als Rotlichtbezirk gesetzt. Daher war für viele Politiker gar keine Frage, dass auch der Straßenstrich dort angesiedelt werden kann und soll. „Dabei gab es noch in den 70er-Jahren ausdrückliche Forderungen nach Alternativen zum Standort Linienstraße. Davon will heute keiner mehr etwas wissen“, erinnert Reiner Staubach. „Unter dem Slogan ,Neue Nordstadt‘ wurden damals strukturelle Veränderungen angekündigt“. Teilweise hätten sich diese als verfehlt erwiesen, insbesondere die Flächensanierungen in den Sanierungsgebieten. Gleichzeitig wurde aber der ehemalige Schlachthof als dezentraler Standort für die Uni ins Gespräch gebracht. Anfang der 80er-Jahre sollte die Justizverwaltung dorthin verlegt werden. Doch die Pläne wurden schließlich ad acta gelegt.
Neue Belastungen statt spürbarer Strukturveränderungen
Im Gegenteil: Immer mehr gesamtstädtische Probleme werden in die Nordstadt verlagert, wohingegen die substanziellen Strukturverbesserungen daran vorbeigehen, bedauert Staubach. Das jüngste Beispiel: Die Verlagerung des Busbahnhofs auf die Nordseite des Hauptbahnhofs, damit das Fußballmuseum auf der Südseite errichtet werden kann. „Das ist kein fairer Lastenausgleich“, kritisiert der Stadtplaner. „Da haben sich Cityring und Lobbyisten durchgesetzt.“ Die Nordstadt muss nun auch die Lasten des dynamisch wachsenden Fernbusverkehrs ertragen. Von anfänglichen Lärmschutzangeboten für die Anwohner der Zubringerstraßen sei nun nichts mehr zu hören. Während im Süden eine Deindustrialisierung betrieben wird – Stichwort Phoenixsee – kommt das in der Nordstadt nicht zum Greifen. Hier wird der Hafen als Industriestandort erhalten und ausgebaut und Brachflächen wie auf der Westfalenhütte werden zu Logistikstandorten umfunktioniert. Auch hierdurch gibt es neue Belastungen.
Fehlende Nachhaltigkeit und Benachteiligung
Zwar habe es immer wieder Versuche gegeben, positive Impulse zu setzen: Das städtebauliche, schulische und das sozialpädagogische Nordstadtprogramm in den 80er und 90er-Jahren oder die EU-Förderprogramme Urban II (2002 bis 2008) und Ziel 2 (Laufzeit bis 2016). Doch dies greife nicht an der Wurzel. Das hat verschiedene Ursachen. Die eingesetzten Summen sind relativ gering. Durch Urban II sind in sieben Jahren rund 26 Millionen Euro in die Nordstadt geflossen.
Nur zum Vergleich: Allein der U-Turm hat mehr als das Dreifache gekostet. Der Bund der Steuerzahler rechnet bereits vor, dass damit noch längst nicht das Ende der Fahnenstange erreicht sei. Von Phoenix-Ost und –West gar nicht zureden. Der einzige Mini-Leuchtturm sei das Big Tipi. Und hier diskutierte die Politik sehr lange: Über 1,5 Jahre kann das beliebte Kletterzelt im Fredenbaum schon nicht genutzt werden. Viele Kunden und Einnahmen gehen verloren. „Bei einem Standort im Süden wäre darüber nicht so lange diskutiert worden“, glaubt Staubach. Die Nordstadt brauche mehr Nachhaltigkeit und eine bessere gesamtstädtische Verteilung der Lasten.
Bildung, Wohnen und Umwelt als Zukunftsthemen
Um nachhaltig die Entwicklung und die Lebensverhältnisse zu verbessern, schlägt Reiner Staubach drei Arbeitsschwerpunkte vor. 1. Die Weiterentwicklung des Wohnbestandes, auch unter Berücksichtigung des Wasserstandortes Hafens. 2. Eine gezielte Umweltverbesserung. „Envio liegt wie ein Makel auf der Nordstadt“, erklärt der Stadtplaner. Dabei sei das nur ein aktueller Umweltskandal, der den Stadtteil betroffen habe.
„Wir brauchen ein klares Signal á la ,Innovation City‘ in Bottrop oder ,Zero Emission Parcs‘.“ Dazu gehöre es, unnötige Fahrwege zu vermeiden und hohe Umweltstandards einzuhalten.
Der dritte – vielleicht sogar wichtigste – Punkt ist das Thema Bildung. Die Nordstadt müsse überproportional stark mit Ressourcen und guten pädagogischen Konzepten versorgt werden. „Wir müssen das deutlich verstärken, um Chancenoptionen zu erzeugen“, fordert Reiner Staubach. „Das muss sichtbar sein.“ Schon bei den U3-Plätzen müsse dies ansetzen. Hier gebe es zwar viele Aktivitäten, doch die seien bei weitem noch nicht ausreichend.
Verstärkte Teilhabe und Zukunftsinvestitionen statt Symbolpolitik
Damit dies gelingt, müsse der wichtige Aspekt der Beteiligung und Einbindung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen (insbesondere auch jener mit Migrationshintergrund) gewährleistet sein.
Hier habe die Nordstadt allerdings Rückschritte hinnehmen müssen: Nach URBAN II ist durch Abschaffung der Bewohnerjurys in den drei Nordstadt-Quartieren und die Umstellung von Beteiligungsrunden (z.B. Konsultationskreis Nordstadt) auf exklusivere Formate (zur internen Koordinierung) das Niveau deutlich heruntergefahren worden.
Diese Entwicklung kritisiert der Planerladen und spricht von „Beteiligungsfrust statt Beteiligungslust“. Außerdem müsste noch mal verstärkt am Image gearbeitet werden. Aktuell passe die Wahrnehmung einfach nicht zur Wirklichkeit: „Die Nordstadt ist besser als ihr Ruf“, bilanziert Staubach, selbst als Bewohner seit über 30 Jahren hier ansässig. Aber ohne substanzielle Verbesserungen geraten Initiativen der Imagepflege schnell zur bloßen Symbolpolitik, warnt er zugleich. Vielmehr müssten die im Stadtteil oftmals unter schwierigen Voraussetzungen erbrachten Integrationsleistungen angemessen gewürdigt werden.
Die Nordstadt sei ein junger Stadtteil, der immer wieder Ausgangsbasis wichtiger sozialer Innovationen war, die in anderen Stadtteilen auch über die Stadtgrenzen hinaus aufgegriffen wurden. Gezielte und nachhaltig angelegte Fördermaßnahmen in die Wohn- und Umweltqualität und vor allem in die Bildungschancen der Kinder und Jugendlichen erweisen sich deshalb seiner Ansicht nach als eine zukunftsträchtige Investition in die Zukunft von Dortmund.
Links zum Thema Roma-Wohnprojekt Harzer Straße in Berlin-Neukölln:
Videobeitrag der Berliner Abendschau: „Wohnprojekt Harzer Straße“
Artikel im Tagesspiegel: „Ein vorbildliches Zuhause“
Artikel in der Berliner Zeitung: „Ein Zuhause für Fremde“
Artikel im Spiegel: „Paradies Neukölln“