OB Ulli Sierau räumt den Chefsessel: „Ich gehe in dem Gefühl, dass ich einige Spuren im Sand der Stadt hinterlassen habe“

Auch im Auszug ist eine Perspektive zu erkennen: „Zukunft“ steht auf einer Umzugskiste, „Sustainability“ (Nachhaltigkeit) auf einer anderen.
Perspektiven beim Auszug: „Zukunft“ auf einer Umzugskiste, „Sustainability“ (Nachhaltigkeit) auf einer anderen.

Es ist ein Abschied der ungewohnt leisen Töne und einer ohne großen Bahnhof. Selbst die „Letzte Dienstbesprechung“ mit vielen Wegbegleiter*innen im „Schalthaus 101“ auf Phoenix-West musste – coronabedingt – als Präsenzveranstaltung ausfallen. Oberbürgermeister Ullrich Sierau hat daher am Freitag per Videobotschaft Abschied genommen. 36 Jahre im Beruf, 21 davon bei der Stadt Dortmund und die letzten elf als OB, gehen an diesem Wochenende zu Ende. Auf eine weitere Amtszeit hat der 64-Jährige im vergangenen Jahr verzichtet und sich gegen eine erneute Kandidatur entschieden: „Ich wollte selbst bestimmen und habe selbst bestimmt, wann Schluss ist.“

Raumplanung war nicht erster Berufswunsch – eine Zeit lang wollte er Zahnarzt werden

Ullrich Sierau zieht Bilanz. Fotos: Alex Völkel
Ullrich Sierau zieht Bilanz. Fotos: Alex Völkel

Dies ist ihm gelungen und auch sein Wunschnachfolger – Wirtschaftsförderer Thomas Westphal – folgt ihm nach. Wie kaum ein anderer Raumplaner kann Sierau auf eine Vielzahl von Projekten zurückblicken. Das Besondere: Die meisten wurden auch Wirklichkeit. Das zeichnet seine Arbeit bei der Stadt aus, wo er  im Mai 1999 als Planungs-, Umwelt- und Wohnungsdezernent anfing, danach auch Baudezernent und ab 2007 zusätzlich Stadtdirektor wurde. Vor elf Jahren dann der Wechsel in den Chefsessel.

Dreimal stellte er sich dem Votum der Bevölkerung – zweimal trat er dafür zurück. Nach der Wahl 2011 trat er nach dem Streit um das Haushaltsloch 2012 zurück, um dann gestärkt aus der Wahl hervorzugehen. Einen weiteren Rücktritt gab es 2014 – damals ging es darum, die Wahl von Rat und OB-Amt zu harmonisieren. Denn seine Amtszeit wäre erst 2016 zu Ende gewesen. Er gewann erneut – wenn auch knapp, in der Stichwahl.

Ein Raumplaner als erster Bürger der Stadt. Dabei war die Raumplanung gar nicht die erste Berufswahl: „Ich wollte eine Zeit lang Zahnarzt werden, bin dann aber zur Stadtplanung und damit nach Dortmund gekommen. Ich bin sehr zufrieden damit – es ist ein unheimlich spannendes Themenfeld“, sagt Sierau. 

„Man kann Raumplanung enger oder weiter fassen. Die letzten elf Jahre habe ich es etwas weiter gefasst“, sagt der scheidende OB lachend. Denn neue Impulse zu setzen und Stadtentwicklungsprojekte anzuschieben, das ist auch als OB sein Ding gewesen. „Es ist ein erfülltes Berufsleben“, zieht er ein vorläufiges Fazit. 

Transformationsprozess: Ein Sozialdemokrat im stetigen Einsatz für eine grüne Stadt

Die Schaffung des Phoenixsees war ein Lackmus-Test für die Stadtentwicklung – ein sehr erfolgreicher.

21,5 Jahre davon verbrachte er im Dienst der Stadt. „Dabei ist eine ganze Menge entstanden. Wir haben in Dortmund gemeinsam den Transformationsprozess gut hinbekommen.“ Wie aus der Pistole geschossen, verweist er auf das Dortmund-Project, die Entwicklung der Flächennutzungspläne, ein Dutzend weitere Großprojekte und – ganz aktuell als eine der letzten Amtshandlungen – die Unterzeichnung des Landschaftsplans. 

Die Stadt prosperiert und ist dennoch grüner denn je: „63,3 Prozent reales Grün und zehn Prozent der Gesamtfläche unter Naturschutz. Für eine vermeintliche Industriestadt keine schlechten Werte“, betont Sierau stolz. Ökonomie, Ökologie, die soziale Dimension und die Partizipation der Zivilgesellschaft unter einen Hut zu kriegen, sei immer sein Anspruch gewesen. 

Dortmund hat viele, teils auch international beachtete Projekte auf den Weg gebracht und den Strukturwandel relativ erfolgreich gemeistert. Die Stadt – einst geprägt vom „Dreiklang“ aus Kohle, Stahl und Bier mit einigen wenigen großen Arbeitgebern – hat sich wirtschaftlich zum Tausendfüßler entwickelt. Dadurch ist die ökonomische Lage deutlich robuster, was sich auch während der Corona-Pandemie zeigt. 

Die Zahl der Arbeitsplätze liegt heute bei 340.000 – 20.000 mehr als 1980. Als er bei der Stadt 1999 „anheuerte“, waren es nur etwa 240.000. „Wir sind in 20 Jahren um 100.000 Arbeitsplätze gewachsen“, sagt Sierau – von jeher bedacht, Zahlen, Fakten und auch Superlative parat zu haben. Dabei waren diese Fragen kein Selbstzweck – es ging Sierau immer auch darum, die soziale und wirtschaftliche Lage der Menschen in Dortmund zu verbessern. Die „Soziale Stadt“ im Allgemeinen war ihm ein Anliegen – und der Norden im Besonderen.

Der Botschafter der Stadt redete Klartext mit Bund, Land und den Tatort-Macher*innen

Den vergangenen Dortmund-Tatort sahen 250 Leute in der Pauluskirche an der Schützenstraße. Foto: Oliver Schaper/Kulturkirche
Vehement gefordert, aber auch massiv kritisiert: Mit dem Dortmund-Tatort verbindet den OB eine Hassliebe.

Er verstand sich stets als Botschafter und Werbeträger „seiner“ Stadt. Dabei scheute er auch keinen Konflikt: Wenn er Dortmund ungerecht behandelt oder benachteiligt sah, legte er sich mit überregionalen Medien, führenden Bundes- und Landespolitikern oder auch den Macher*innen des Dortmund-Tatort an. Schlagzeilen und Zoff gab es viele – ebenso wie hitzige Debatten.

Natürlich hat Dortmund viele Probleme – Dortmund ist nicht Münster oder Düsseldorf. So ist die Arbeitslosigkeit noch deutlich höher als im Bundesvergleich, ebenso sind die Themen Armut oder Verschuldung drückender. Doch der Blick zurück zeigt, von welchem Niveau Dortmund kam. Da zeigen fast alle Indizes in die richtige Richtung.

Die Kommunale Arbeitsmarktstrategie hatte zum Ziel, die Arbeitslosenquote auf unter zehn Prozent zu drücken, was im vergangen Jahr erstmals gelang. Erst Corona zerschlug die „Einstelligkeit“. Zum Vergleich: 2005 – zur Einführung von Hartz IV – lag die Quote noch bei über 18 Prozent. Damals hatte kaum jemand geglaubt, dass dies signifikant zu reduzieren sei.

Hauptbahnhof: „Pommesbude mit Gleisanschluss“ statt einer modernen Verkehrsstation

Der Umbau des Hauptbahnhofs ist eines der schwierigsten und langwierigsten Probleme der Stadtentwicklung.

Doch Dortmund ist – allen Statistiken und Unkenrufen zum Trotz – gewachsen – statt der prognostizierten 540.000 liegt die Zahl der Einwohner*innen bei stabil über 600.000. Das lag auch an den anfangs viel gescholtenen „Leuchturmprojekten“, die die Stadtspitze initiierte. Das bekannteste Vorhaben und der Lackmus-Test war der Phoenixsee – OB Gerd Langemeyer und sein Planungsdezernent Ullrich Sierau schoben es an. Das Echo war zu Beginn keineswegs nur positiv. „Der nächste April-Scherz aus dem Rathaus“ war eine der netteren Kommentierungen. 

Denn die Planungsbilanz im Rathaus las sich keinesfalls nur positiv: Kabarettist Bruno Knust hatte dafür sogar eine eigene Nummer im Programm: „Was bauen wir als nächstes in Dortmund…. nicht“, ulkte „Günna“ und spielte damit beispielsweise auf die Fehlschläge beim Neubau des Hauptbahnhofs an – „UFO“ und „3do“ hießen die Vorhaben, die nicht kamen.

Dortmund hat noch immer eher eine „Pommesbude mit Gleisanschluss“ (Zitat Samtlebe) als eine moderne Verkehrsstation. Doch zumindest die Stadtwerke haben ihre Hausaufgaben gemacht und auch die Deutsche Bahn soll in den nächsten Jahren nachlegen. Die Stadt selbst plant auf der Nordseite jedenfalls Großes …

Dass „UFO“ und „3do“ nicht kamen, habe aber nicht an der Stadtspitze, sondern an den anderen Projektbeteiligten gelegen. Als der letzte Versuch im Februar 2006 platzte, habe er schnell reagiert: „14 Tage später habe ich mit Alexander Otto das Thier-Galerie-Konzept festgeklopft. Und das ist in den wesentlichen Eckpunkten auch alles so gekommen“, betont Sierau.

„Heute wird nicht mehr ,Wird das was?’ gefragt. Es wird nur noch gefragt, wann es fertig wird“

Die beiden „ganz großen“ Oberbürgermeister der Nachkriegszeit - Günter Samtlebe und Dietrich Keuning - hingen im OB-Besprechungszimmer. „Ich sehe mich in ihrer Tradition“, so der scheidende OB.
Die beiden „ganz Großen“ – Günter Samtlebe und Dietrich Keuning – hingen im OB-Besprechungszimmer im Rathaus. „Ich sehe mich in ihrer Tradition.“

Der Phoenixsee wurde für die Stadtentwicklung zum Lackmus-Test – und der Erfolg des Sees schuf Vertrauen: „Heute wird nicht mehr gefragt ,Wird das was?’. Es wird nur noch gefragt „Wann ist es fertig“, betont Sierau. 

In diese Zeit fallen viele erfolgreiche Projekte: Phoenix-West und Phoenixsee, Westfalenhütte und Thier-Galerie, aber auch das Konzerthaus und die Chorakademie im Brückstraßen-Viertel. Daran knüpfen neue Pläne wie der Digital-Hafen, „Smart Rhino“ auf der ehemaligen HSP-Flläche, die Entwicklung des ehemaligen Kraftwerks Knepper oder die Planungen für die Bahnhofsnordseite an, um nur einige von vielen Projekten zu nennen. 

Nicht alle Projekte sind bereits fertig. Doch für die meisten Akteur*innen in Stadt und Land besteht kein Zweifel, dass diese realisiert werden können. Das gilt auch für die vielen kleineren Vorhaben. Es gab in den vergangenen elf Jahren kaum ein Projekt, ein Bauvorhaben oder eine Einweihung, wo der Oberbürgermeister nicht persönlich vor Ort war. Seine beiden ehrenamtlichen Stellvertreter*innen hatten einen verhältnismäßig ruhigen Job.

Obwohl Hauptverwaltungsbeamter stand Sierau seinen ehrenamtlichen Vorgängern bei der Präsenz vor Ort in nichts nach. Die beiden „ganz großen“ Oberbürgermeister der Nachkriegszeit – Günter Samtlebe und Dietrich Keuning – hingen im OB-Besprechungszimmer. „Ich sehe mich in ihrer Tradition“, so der scheidende OB.

Beteiligung und Partizipation waren dem Raumplaner im Chefsessel immer wichtig

Sierau scheute sich dabei auch nicht, in Konflikten Rede und Antwort zu stehen – auch wenn seine leidenschaftliche und zuweilen auch aufbrausende Art manchen Konflikt erst einmal zusätzlich befeuerte. Doch bei aller Kritik – Beteiligung und Partizipation waren dem Raumplaner im Chefsessel immer wichtig. Die zahlreichen Masterpläne und die Integrierten Stadtbezirksentwicklungskonzepte stehen dafür beispielhaft. Das größte Beteiligungsvorhaben ist dabei das Dekadenprojekt „Nordwärts“. Dafür gab es 2017 sogar den europäischen „Verwaltungsoskar“, einer von vielen Preisen.

OB Ullrich Sierau begrüßte die zahlreichen Teilnehmer der Auftaktveranstaltung.
OB Ullrich Sierau begrüßte vor fünf Jahren die zahlreichen Teilnehmer*innen der Auftaktveranstaltung von „Nordwärts“ auf der Westfalenhütte.

Beteiligung sowie Bürgerinitiativen waren und sind seine Welt. Vielleicht gründe er ja im Ruhestand auch mal wieder eine … Doch das will er erst einmal hinten anstellen. Denn nun will er sich erst um seine Familie, Frau, Kinder und Enkel – kümmern. „Ich höre auf, weil ich persönlich der Auffassung war und bin, dass man eine Aufgabe nicht zu lange machen soll. Ich war OB mit Haut und Haar.“ 

Es gab viele Abendtermine, Überstunden und arbeitsreiche Wochenenden. „Da hat die Familie oft zurückgesteckt. Das braucht auch viel Energie.“ Auch körperlich ist der Job belastend – auch wenn Sierau bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad ins Rathaus kam.  Seine angegriffene Stimme – Sierau hat seit einem Jahr mit Stimmbandproblemen zu kämpfen – sei aber nicht ausschlaggebend gewesen. 

„Alles hat seine Zeit“, so der 64-Jährige. Und seine Zeit, als OB aufzuhören, sah er gekommen: „Weil man sonst unter Umständen die Sensibilität verliert, die man braucht. Oder vielleicht ist man nicht mehr offen für Innovationen – das wäre nicht gut.“ Doch weder Lustlosigkeit noch Desinteresse kann man Sierau vorwerfen. Fehlende Innovationskraft auch nicht:  „Wir haben relativ viele Innovationen eingeführt.“ 

„Ein ganz früher Fridays For Future“ in der SPD wurde später Oberbürgermeister

Auch im Büro hatte er einen grünen Daumen.
Auch im Büro hatte Ulli Sierau einen grünen Daumen. Die Pflanzen brauchen nun eine neue Heimat.

Doch Sierau blickt auf sein Geburtsdatum: „Ich bin 64 und wäre 69 bis zur nächsten Wahl. Auch wenn ich fit bin, heißt das nicht, dass ich das gut durchgestanden hätte“, betont Sierau offen. Außerdem habe er seiner Familie zugesagt, mehr Zeit mit ihr zu verbringen. 

Aber kann man sich Sierau im Schaukelstuhl vorstellen? Nicht wirklich. „Ich will noch Dinge machen und in der dritten Lebensphase noch neue Projekte angehen, zu denen ich nicht gekommen bin“, betont er. Was genau, da lässt er sich noch nicht in die Karten schauen. 

Fairer Handel, Klimaschutz, Nachhaltigkeit – das sind Themen, die ihn schon immer bewegt hätten. So sei er unter anderem wegen des Umweltschutzes zur SPD gekommen – „ein ganz früher Fridays For Future“, sagt er lachend. Als OB habe er sich diesen Themen auch gewidmet.  „Das kriegt man als OB in gewissem Umfang hin, aber nur aus der Rolle heraus.“ Er wolle künftig lieber „ohne Amt und Verpflichtung“ agieren – vielleicht auch zivilgesellschaftlich. 

Der Zeitpunkt sei richtig, die Nachfolge geregelt. „Ich bin da mit mir im Reinen“, sagt der 64-Jährige. Das Schulterklopfen auf den zahlreichen Terminen auch in den letzten Wochen genießt er.  „Herr Sierau, Sie gehen hier als Sieger vom Platz. Besser geht es nicht“, habe ihm am Abend der Stichwahl jemand gesagt. „In aller Demut habe ich nicht widersprochen“, sagt er mit einem Lächeln. 

„Erst eine Weile ins Abklingbecken und viel Zeit mit Freunden und Familie verbringen“

Abschiedsgeschenk von den Kolleg*innen aus dem Verwaltungsvorstand: Das Lanstroper Ei auf Dortmunder U montiert.
Abschiedsgeschenk vom Verwaltungsvorstand: das Lanstroper Ei auf’s Dortmunder U montiert. Es sind zwei von Sieraus Lieblings-Landmarken.

Ihm wird – da sind sich viele Weggefährten sicher – der volle Terminkalender sicher fehlen. Doch eine neue Aufgabe werde er nicht sofort übernehmen: „Erst eine Weile ins Abklingbecken und viel Zeit mit Freunden und Familie verbringen.“ Erst in einem Jahr werde er sich wieder ein bisschen mehr um Projekte kümmern. „Ich habe eine ganze Reihe von Anfragen und Angeboten. Das ist nett und ich bin auch beeindruckt davon.“ 

Beeindruckend ist auch der Berg von Dingen, die Ullrich Sierau aus seiner Kommado-Zentrale schaffen muss: Die größte Herausforderung ist, alle Pflanzen unterzubringen. „Ich habe einen grünen Daumen“ – um seinen Garten will er sich dann auch künftig verstärkt kümmern, wenn er für seine vielen Büropflanzen ein Asyl gefunden hat. Seinem Nachfolger kann er keine stehenlassen. Denn das komplette Rathaus muss bis zu diesem Wochenende geräumt sein – ab Montag beginnt der rund zweijährige Umbau. 

Nach ihm kann also nichts mehr kommen – oder besser niemand in seinem Chefbüro im zweiten Stock des Rathauses. Thomas Westphal wird sein Büro im Provisorium am Südwall aufschlagen. Bis dahin hat auch Sierau seine letzten Kisten gepackt. In den Jahren und Jahrzehnten haben sich zahlreiche Bücher, Preise und Erinnerungen angesammelt. Die galt und gilt es zu sichten. 

Doch eine Perspektive ist zu erkennen – auch auf den Umzugskartons: „Zukunft“ steht auf einer, „Sustainability“ (Nachhaltigkeit) auf einer anderen. Dass beides nicht nur für die Sortierung der Bücher, sondern auch für seinen weiteren Lebensweg gelten könnte, da sind sich viele Beobachter*innen sicher. „Ich gehe in dem Gefühl, dass ich einige Spuren im Sand der Stadt hinterlassen habe“, sagt Sierau. Weitere Spuren werden sicher folgen …

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