Von Susanne Schulte
Das Gyros liegt im Kühlschrank, der Yoghurt fürs Zaziki muss noch besorgt werden. Aber das macht auch am Silvesternachmittag kurz vor drei Uhr Nazife Pirihan keine Sorgen. „Der türkische Laden an der Oesterholzstraße hat noch auf“, gibt sie ihrem Kollegen, der sie von der Frühschicht ablöst, den Tipp.
Ansonsten ist man im Awo-Wohnheim an der Hirtenstraße auf den Jahreswechsel vorbereitet. „Nach dem Essen werden Tische und Stühle zusammengestellt, damit wir eine Tanzfläche haben“, kündigt Martin Michel an. Auf die Party freuen sich alle.
Dank der richtigen Therapie kann Wolfgang Neumann sich jetzt bewerben
Seit gut einem Jahr wohnen 24 Frauen und Männer in dem Haus. Letztes Jahr kannten sie sich noch kaum, waren höchstens vor sechs Wochen eingezogen. Jetzt fühlen sie sich wie eine Familie. Die Bewohner und Bewohnerinnen genauso wie die Betreuer und Betreuerinnen.
In den zwölf Monaten hat sich viel getan. Vor allem für Wolfgang Neumann. Als er aus einem Altenpflegeheim kam, so erzählt die Heilerziehungspflegerin Nazife Pirihan, habe man ihn kaum anfassen können, ohne dass er vor Schmerzen schrie. Durch Physiotherapie sei nun so kräftig geworden, dass er selbst helfen könne, wenn er bewegt werden müsse.
Wolfgang Neumann ist stellvertretender Heimbeiratsvorsitzender und hofft, im kommenden Jahr in der Awo-Werkstatt in Lindenhorst arbeiten zu können. Vor einem Jahr war daran nicht zu denken.
Unterschiedliche Auffassungen über die Zahl der notwendigen Beschäftigten
An ihre Arbeitsplätze denken auch die Frauen und Männer, die zum November vor einem Jahr von der Awo eingestellt wurden. Sie erhielten alle einen auf zwei Jahre befristeten Arbeitsvertrag. „Es gibt keinen richtigen Stellenschlüssel mehr“, erzählt Martin Michel, der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende.
Die zu betreuenden Frauen und Männer würden je nach Grad der Behinderung beurteilt. Leistungstyp heiße das. Jeder Leistungstyp erhalte eine Punktzahl, nach der Punktzahl richte sich die Zahl des benötigten Personals in der Einrichtung. Die Awo hat eine andere Punktzahl ausgerechnet als der LWL, der Landschaftsverband Westfalen-Lippe, von dem das Geld kommt.
Die Awo finanziere einige Stellen vor, die endgültige Entscheidung um die benötigten Stellen im Haus an der Flurstraße stehe noch aus, so Michel. „Vielleicht bekommen drei, vier KollegInnen im November ihren Vertrag nicht entfristet.“
Mit den Arbeitsbedingungen – und dem Chef – sind die Fachkräfte sehr zufrieden
In der täglichen Arbeit lassen sich die Pflege- und Heilfachkräfte diese Sorge nicht anmerken. Sie sind sehr zufrieden mit den Arbeitsbedingungen, lassen auf ihren Chef, André Groß, nichts kommen.
„Es gibt keinen kurzen Wechsel vom Spätdienst auf den Frühdienst“ –, zudem arbeite er selbst bei der Pflege mit, wisse also wo es hakt und schaffe Abhilfe.
Die Arbeitsatmosphäre ist so gut, dass viele BetreuerInnen selbst in ihrer Freizeit kommen, wenn es etwas zu feiern gibt oder auch nur auf ein kurzes Hallo. Noch habe man die Zeit, Ausflüge zu planen und auch zu machen, mit nur einem Bewohner in die Stadt zum Einkaufen zu fahren, sich intensiv um jede Frau und jeden Mann zu kümmern.
Anleitung zur Selbstständigkeit bekommt allen gut – Jeder hilft, wo es geht
Die zu betreuenden Frauen und Männer sollen nicht gepflegt, sondern zur Selbstständigkeit angeleitet werden, so Nazife Pirihan. „Es ist anstrengender, siebenmal zu sagen: Zieh dir deine Socken an, als diese selbst zu tun.“
Aber das Konzept klappt. Wer morgens fertig fürs Frühstück und den Arbeitstag ist, bekommt, so er es braucht, in der jeweiligen Etagenküche Hilfe von den Zimmernachbarn beim Essen und Trinken. Auch die drei Hauswirtschaftskräfte sind im Alltag nicht mehr wegzudenken, so Pirihan.
Die würden die Schnittchen schmieren und die Butterbrote für die Arbeit einpacken, während die Pflegekräfte einen Bewohner nach dem anderen ausgehfertig machten. In anderen Einrichtungen sei es häufig so, dass sich das Pflegepersonal auch noch um die Brote kümmern müsse.
Fürs Mittagessen steht das pflegende Fachpersonal selbst am Herd
Fürs warme Mittagessen stehen die BetreuerInnen jedoch jeden Mittag selbst am Herd. In der Woche wird für fünf, sechs gekocht, am Wochenende und in den Ferien sitzen meist alle an den Tischen im großen Gemeinschaftsraum.
„Noch sind wir gut aufgestellt“, sagt Martin Michel. Noch könne man den 24 Frauen und Männern einiges mehr bieten, als „satt und sauber“ durch den Tag zu kommen. In Zukunft würde sich zeigen, was der Gesellschaft soziale Einrichtungen wert seien.
So habe er läuten hören, dass das Haus an der Hirtenstraße womöglich die letzte Einrichtung gewesen sei, die der LWL für das Wohnen von Menschen mit Behinderung gebaut habe. Man wolle demnächst wohl auf die ambulante Versorgung setzen. Das sei billiger.
Silvesterbesuch: Selbst dienstfreie Beschäftigte kommen zum Anstoßen ins Haus
Am Silvesterabend wird man über dieses Thema nicht reden.
Die große Wohngemeinschaft freut sich auf den Besuch von BetreuerInnen, die dienstfrei haben, aber mitfeiern möchten, auf den Besuch von HelferInnen, deren Verträge kurzfristig und überraschend nicht verlängert wurden, die aber dennoch den letzten Arbeitstag bis zum letzten auskosten möchten.
Gyros, Pommes und Zaziki trainieren die Feiernden später beim Tanzen ab, gucken sich das Feuerwerk an und freuen sich noch auf das Wochenende und das Ausschlafen, bevor es in der kommenden Woche für viele wieder morgens um 7 Uhr mit dem Bus in die Werkstätten geht.
Mehr zum Thema auf nordstadtblogger.de:
- Ein Zuhause, in dem alles stimmt: AWO-Wohnhaus an der Hirtenstraße lud zum Tag der offenen Tür die Nachbarschaft
- In drei Wochen ist das neue AWO-Wohnheim bezugsfertig: Ein praktisches Zuhause für 24 Menschen in der Nordstadt