Dortmund macht wieder Schlagzeilen: „Knöllchenalarm für Obdachlose“ oder „Knöllchen kriminalisieren Obdachlose“, lauten einige der Überschriften. Die Empörung ist entsprechend groß – Obdachloseninitiativen wie bodo e.V. kritisieren das Vorgehen. Doch was genau ist vorgefallen? Wir haben nachgefragt.
50 „ordnungsbehördliche Maßnahmen“ gegen augenscheinlich Obdachlose
Zusammengefasst, hat die Stadt Dortmund in den letzten vier Wochen insgesamt 50 sogenannte „ordnungsbehördliche Maßnahmen“ gegen augenscheinlich Obdachlose geführt. Grundlage ist § 7 Abs. 1 Buchstabe b der Ordnungsbehördlichen Verordnung der Stadt von 2013, der das Lagern, Campieren oder Übernachten im öffentlichen Raum untersagt.
„Wer obdachlos ist, kann sich aber nur im öffentlichen Raum aufhalten“, sagt „bodo“-Vertriebsleiter Oliver Philipp. Und ergänzt: „Obdachlose haben keine Wohnung als Rückzugsraum. De facto werden Betroffene also für ihre Obdachlosigkeit bestraft.“
„Das bedeutet, dass Menschen, die keine Unterkunft und kein Zimmer bezahlen können und draußen schlafen, nun mit Geldstrafen belegt werden, die sie ebenfalls nicht zahlen können. Das kann für Betroffene im schlimmsten Fall Haft bedeuten“, verdeutlicht Philipp die Kette möglicher Konsequenzen.
Massive Beschwerden über Kot, Urin, Müll, Drogen und Sex in der Öffentlichkeit
Eine Sichtweise, die das Sozial- und Ordnungsamt der Stadt naturgemäß nicht teilen. Die bestätigt die Zahlen: Sieben mündliche Verwarnungen sowie fünf Verwarnungsgelder über 20 Euro wurden ausgesprochen. Können oder wollen die Betroffenen nicht zahlen, werden Ordnungswidrigkeiten-Anzeigen, sogenannte „OWis“ geschrieben. Dann kommen noch 28 Euro Verwaltungsgebühren hinzu. Das ist bei 38 Vorfällen der Fall. Wenn das Bußgeld nicht gezahlt wird, erfolgt eine Mahnung, welche bei Wohnungslosen durch den Kommunalen Ordnungsdienst zugestellt wird.
Das Ordnungsamt mache aber nicht gezielt „Jagd“ auf Obdachlose, weist Ordnungsamtssprecher Maximilian Löchter die Kritik zurück. Das Ordnungsamt reagiere lediglich auf berechtigte Beschwerden von AnwohnerInnen und Geschäftsleuten, wenn sich Obdachlose in Hauseingängen vor Geschäften niedergelassen hätten.
Es habe „erhebliche Beschwerden“ über Urinieren oder Koten in Hauseingängen, Vermüllung, öffentlichen Drogenkonsum oder auch Sex in der Öffentlichkeit gegeben, die zu den Einsätzen des Ordnungsamtes geführt hätten. Bei erstmaligen Verstößen würden lediglich mündliche Verwarnungen ausgesprochen und auf die Hilfsangebote wie die Notschlafstellen hingewiesen. Nur bei Wiederholungsverstößen – zumeist auch an derselben Örtlichkeit – würden Verwarnungen ausgesprochen.
Die Betroffenen lehnten zumeist eine Übernachtung in den angebotenen Unterkünften ab. „Es muss niemand draußen schlafen, das ist Fakt“, betont Anke Widow, städtische Pressereferentin, zuständig unter anderem für den Ressortbereich „Soziales“. Die Stadt tue zudem sehr viel: Es gebe zahlreiche niederschwellige Angebote. Weiterhin setze man auf Prävention, um Wohnungslosigkeit von vornherein zu vermeiden.
Die Kritik, es gebe nicht genügend Notschlafplätze, weist die Sprecherin der Stadt ebenfalls zurück. Durch die Adlerstraße stünden mehr Plätze zur Verfügung. Außerdem könne das Wohnraumvorhalteprogramm genutzt werden: „Niemand wird nachts abgewiesen“, fasst Anke Widow zusammen.
Nicht alle Menschen dürfen die Notunterkünfte in Anspruch nehmen
Allerdings gilt das nur für jene in Dortmund gemeldete Menschen, die Anspruch auf Sozialleistungen haben. Denn Menschen aus Südosteuropa haben – anders als vielfach in skandalisierenden Veröffentlichungen in sozialen Netzwerken dargestellt – keinen Anspruch auf Leistungen vom Sozialamt.
Daher kommt der Staat auch nicht für die Kosten der Unterkunft auf, woraus auch die Übernachtung in einer Notschlafstelle finanziert wird. In akuten Fällen gibt es daher für diese Menschen nur eine Übernachtung. Am Folgetag müssen alle Menschen, die dort länger in einer Notunterkunft unterkommen wollen, ihre Ansprüche darauf beim Sozialamt überprüfen lassen.
Wenn klar ist, dass sie keinen Anspruch auf Kostenübernahme haben, wird beispielsweise den Hilfesuchenden aus Rumänien und Bulgarien ein Lunchpaket und ein Rückfahrtticket in ihr jeweiliges Herkunftsland angeboten. Daher klopft diese Zielgruppe nur noch in den seltensten Fällen bei einer der Unterkünfte an.
Ebenfalls ein Problem bekommen die Obdachlosen, die eigentlich Anspruch auf Sozialhilfe haben, deren letzte Meldeadresse aber in einer anderen Stadt war. Diese müssten nach Ansicht der Dortmunder Behörde dorthin zurückkehren, um entsprechende Hilfen und einen Notschlafplatz zu bekommen. Gesicherte Zahlen dazu liegen jedoch noch nicht vor.
BODO kritisiert die bürokratischen Hürden für einen Übernachtungsschein
Damit werden Ausschlüsse produziert: Wer einen Schlafplatz will, brauche einen Kostenträger oder zahle selbst. „Die bürokratischen Hürden für einen Übernachtungsschein seien für manche Bedürftige unüberwindbar“, verdeutlicht Oliver Philipp von BODO die fast ausweglose Situation der Betroffenen.
„Aus unserer Arbeit wissen wir, dass die meisten dieser Menschen nicht draußen schlafen würden, wenn es ausreichend viele und angemessene Plätze in Unterkünften gäbe.“ Die Stadt habe eine Unterbringungspflicht, erkläre sich aber für alle möglichen Betroffenen als nicht zuständig.
„Und sie nutzt das Ordnungsrecht, um ein gesellschaftliches Problem unsichtbar zu machen, anstatt es zu bekämpfen. Die Kriminalisierung von Obdachlosen muss ein Ende haben“, fordert Philipp mit Nachdruck.
Reader Comments
Bastian Pütter, bodo e.V.
Zum Aspekt der Unterbringung. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) protestiert scharf gegen Rechtsauslegungen, wie sie unter anderem die Stadt Dortmund vornimmt:
„Die BAG W weist erneut darauf hin: Jeder unfreiwillig wohnungslose Mensch hat in Deutschland ein Anrecht auf eine ordnungsrechtliche Unterbringung durch die Kommune, in der er sich aufhält. Die Herkunft des Betroffenen oder der Ort des Wohnungsverlustes spielen hierbei keine Rolle. Auch Migrantinnen und Migranten darf dieses Recht nicht verwehrt werden. Die noch immer verbreitete Praxis, ordnungsrechtliche Unterbringung an sozialhilferechtliche Ansprüche zu knüpfen, ist rechtswidrig und muss beendet werden.“
https://www.bagw.de/de/presse/index~159.html
Thomas Engel
Kleine Pointe der Geschichte: eine „ordnungsrechtliche Unterbringung“ hat den Status einer gefahrenabwehrrechtlichen Anordnung. Heißt: es soll eine Gefahr abgewandt werden, die eine Person für sich oder andere darstellt.
Klassischer Fall sind SuizidkandidatInnen, die nach den Psychisch-Kranken-Gesetzen der Länder (PsychKG) etwa über das Ordnungsamt oder die sozialpsychiatrischen Dienste der Gesundheitsämter freundlich in eine geschlossene Psychiatrie zwangseingewiesen werden. Das nennt sich dann „Unterbringung“ und läuft in Dortmund in aller Regel über das Ordnungsamt.
Ist die betreffende Person anderer Meinung, was nicht selten der Fall ist, müssen innert von 24 Stunden zuständige RichterInnen vom Amtsgericht entscheiden, ob sie wirklich eine Gefahr für sich selbst darstellt. Ist dem so, kann der unfreiwillige Aufenthalt in der Klapse auf sechs Wochen verlängert werden, usw.
Denn es gilt: Wer sich umbringen will, ist grundsätzlich psychisch krank, einen Freitod gibt es nicht (bzw. darf es nicht geben, weil der Staat Menschen braucht, über die er herrschen, mindestens verwalten kann). Die betroffenen Menschen werden dann als nicht-einwilligungsfähig betrachtet und damit alle (ggf. auch weiteren) Zwangsmaßnahmen gerechtfertigt. Das kann im Extremfall bis zu Zwangsfixierungen und -medikation gehen.
Obdachlose nun, die beispielsweise erfrieren könnten, würden in diesem Sinne untergebracht – gleichgültig, wo das genau ist. Die Ironie in der Angelegenheit, pointiert ausgedrückt: Wenn die Stadt Dortmund – zum Beispiel wegen eines Mangels an Notschlafstellen – auf „Unterbringungen“ verzichtet und stattdessen Knöllchen verteilt, dann kassiert sie sozusagen zugleich einen Obolus dafür, dass sie – entgegen dem Vollschuss-Paradigma bei Suizidgefährdung – den Betroffenen die Freiheit lässt, sich in die Gefahr zu begeben, den Kältetod zu sterben. – Die Welt ist zuweilen etwas komisch, oder kafkaesk
SPD-Fraktion (Pressemitteilung)
Funktionierende Hilfesysteme für Wohnungslose Menschen in Dortmund
„In Dortmund muss niemand auf der Straße übernachten, es gibt eine Vielzahl von Hilfemaßnahmen für wohnungslose Menschen“, nimmt Michael Taranczweski, SPD-Ratsmitglied und Vorsitzender des Sozialausschusses, Stellung zu den Berichterstattungen zum Umgang mit wohnungslosen Menschen durch Mitarbeiter des Ordnungsamtes.
Der Rat der Stadt Dortmund hatte in seiner Julisitzung 2018 über die Weiterentwicklung der Wohnungslosenhilfe entschieden. Die beschlossenen Maßnahmen befinden sich bereits in der Umsetzung und es wird demnächst fast 300 Notschlafplätze geben. Hinzu kommt eine flexible Anzahl von Plätzen in Wohnungen aus dem sogenannten Wohnraumvorhalteprogramm, die zur Unterbringung genutzt werden können und auf die, wie übrigens in den vergangenen Jahren, je nach Bedarf zurückgegriffen werden kann. Die Eröffnung der neuen Männerübernachtungsstelle ist für Januar 2019 geplant und auch die Frauenübernachtungsstelle soll vergrößert werden. Darüber hinaus sind weitere Angebote für junge Erwachsene oder für drogenabhängige Obdachlose in der Planung.
Michael Taranczewski: „Auch die Möglichkeiten des Tagesaufenthaltes wurden rechtzeitig vor der kalten Jahreszeit erweitert. Mit dem Gast-Haus und dem Brückentreff wurden bereits Vereinbarungen über die Ausweitung der Öffungszeiten getroffen. Zusätzlich beraten Mitarbeiter des Sozialamtes obdachlose Personen in den Übernachtungsstellen und auch im Gast-Haus, wie für die Betroffenen Wohnungslosigkeit beendet werden könnte. Dieses Ziel kann jedoch nur erreicht werden, wenn die Menschen im Rahmen ihrer jeweiligen Möglichkeiten aktiv an der Umsetzung mitarbeiten.”
„Die vielfach thematisieren Bußgelder gegen Wohnungslose Menschen sind aus ordnungspolitischer Sicht das letzte Mittel gegen die Vielzahl von Ordnungswidrigkeiten, die von wohnungslosen Menschen begangen werden. Das Ordnungsamt reagiert ausschließlich, wenn sich Beschwerden von Anwohnern oder Geschäftsinhaber über Belästigungen durch Lärm und Geruch, unerlaubte Abfallablagerungen oder wildes Urinieren häufen. Hier sehen wir die Behörden in der Pflicht gegenüber den Beschwerdeführern“, erklärt Dirk Goosmann, ordnungspolitischer Sprecher der SPD-Ratsfraktion.
Personen, die einen Verstoß bzgl. des unerlaubten Lagern und Campieren auf Straßen oder in Anlagen begehen, werden in der Regel zunächst mündlich verwarnt. Zudem erhalten die Betroffenen entsprechende Hinweise auf die sozialen Anlaufstellen etc.. Erst wenn wiederholt gegen diese Vorschrift verstoßen wird und Beschwerden vorliegen, werden Platzverweise, Verwarnungen oder Anzeigen ausgesprochen. „Wir wissen, dass die Einsatzkräfte des Kommunalen Ordnungsdienstes für die schwierige Gesamtsituation der betroffenen Personen sensibilisiert sind und das vorgesehene Ermessen entsprechend ausüben“, so Dirk Goosmann.
„Oftmals ist der Weg eine dauerhafte Hilfestellung zu geben und Obdachlosigkeit abzuwenden, sehr langwierig und wird in den seltensten Fällen freiwillig angenommen“, erklärt Michael Taranczewski abschließend.
Fraktion Die Linke & Piraten (Pressemitteilung)
Fraktion Die Linke & Piraten unterstützt Forderungen der BAG Wohnungslosenhilfe
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe schreibt in einer Pressemeldung vom 2. November, dass dieses Jahr bereits drei wohnungslose Menschen in Hamburg, Düsseldorf und Köln auf der Straße gestorben sind. „Sie starben bei Tiefsttemperaturen zwischen -1,4°C (Hamburg) und 3,8°C (Köln)“. Es ist also bereits jetzt erforderlich, zusätzliche Angebote bei der Kältehilfe und der Notunterbringung bereitzustellen.
Jeder unfreiwillig wohnungslose Mensch hat ein Anrecht auf Unterbringung in der Kommune, in der er sich aufhält. Die BAG fordert ein am tatsächlichen Bedarf ausgerichtetes Angebot, dass auch eine Unterbringung von Menschen mit Hunden einschließt. Ein spezielles Angebot mit Schutzräumen für wohnungslose Frauen ist ebenso vorzusehen.
Nadja Reigl, Mitglied im Sozialausschuss, sagt dazu: „Wir unterstützen sämtliche Forderungen der BAG Wohnungslosenhilfe. Diese Forderungen gehen deutlich über das hinaus, was es derzeit in Dortmund gibt. Unter anderem eine ständig erreichbare Notfall-Rufnummer der Kommunalbehörde finden wir eine gute Einrichtung, da Bürgerinnen und Bürger so einen Ansprechpartner haben und Notfälle unbürokratisch melden können. Doch statt Gelder in die Wohnungslosenhilfe zu investieren, erteilt man Menschen, die draußen übernachten müssen, lieber Knöllchen und nimmt Bußgelder von ihnen“.
Das Wichtigste für die Bekämpfung der Wohnungslosigkeit ist aus Sicht der Fraktion selbstverständlich der Bau ausreichender, bezahlbarer Wohnungen. „Dennoch ist ein Ausbau der Angebote für Wohnungslose wichtig, da viele unfreiwillig wohnungslose Menschen derzeit keine Wohnung finden und auf ein anderes Angebot angewiesen sind“, so Reigl.
„Herkunft, Ort des Wohnungsverlustes oder Verknüpfung mit sozialhilferechtlichen Ansprüchen dürfen dabei keine Rolle spielen“.
Das Wortlaut der Pressemeldung der BAG Wohnungslosenhilfe ist zu finden unter:
https://www.bagw.de/de/presse/index~159.html