Bereits 2045 werden große Konfessionen in der Minderheit sein

Kirchenrechtler Thomas Schüller erklärt, wieso Religionen nicht vom Aussterben bedroht sind

Im Jahr 2023 sind laut Kirchenstatistik der Deutschen Bischofskonferenz 402.694 Menschen aus der Katholischen Kirche ausgetreten.
Im Jahr 2023 sind laut Kirchenstatistik der Deutschen Bischofskonferenz 402.694 Menschen aus der Katholischen Kirche ausgetreten. Foto: Depositphotos.com

Kirche, Glaube und Religion scheinen in Deutschland keine so große Rolle mehr zu spielen. Immer mehr Menschen kehren der Kirche den Rücken zu. Gottesdienste sind nicht mehr so gut besucht und Kirchen müssen geschlossen werden. Da stellt sich die Frage: Hat Religion noch eine Zukunft in unserer Gesellschaft? Im Zuge seines Vortrags in der Pauluskirche hat Prof. Dr. Thomas Schüller eine Antwort auf diese Frage gegeben.

Vertrauensverlust und nicht religiöse Erziehung erklären die Kirchenaustritte

Vollbesetzte Kirchen gehören zumindest in traditionellen deutschen Kirchen schon lange der Vergangenheit an. Immer mehr Menschen treten aus der Kirche aus. Laut Kirchenstatistik der Deutschen Bischofskonferenz waren es im Jahr 2023 402.694 Menschen, die aus der katholischen Kirche ausgetreten sind.

Prof. Dr. Thomas Schüller hat im Zuge seines Vortrags in der Evangelischen Lydia-Kirchengemeinde eine Antwort auf die Frage „Hat Religion noch eine Zukunft in unserer Gesellschaft?“ gegeben.
Prof. Dr. Thomas Schüller hat eine Antwort auf die Frage „Hat Religion noch eine Zukunft in unserer Gesellschaft?“ gegeben. Foto: Chimène Goudjinou

Eine Entwicklung, die sich Prof. Dr. Thomas Schüller, Direktor des Instituts für Kanonisches Recht der katholisch-theologischen Fakultät Münster, so erklärt: „Das liegt zum einen am Vertrauensverlust, der durch konkrete Ereignisse zu erklären ist: der Umgang mit sexualisierter Gewalt, der generelle Umgang in der katholischen Kirche mit Frauen, die überhaupt keine Rechte haben, oder eben der desaströse Umgang mit kirchlichem Vermögen“.

Doch Schüller sieht das nicht als ausreichende Erklärung für die hohe Anzahl an Kirchenaustritten: „Hinzu kommt, dass viele Menschen den Bezug zur Frage nach Gott verloren haben, weil sie das durch ihre Erziehung nicht mehr mitbekommen haben. In anderen Fällen spielt das, was in Schule, Kindheit oder Jugend grundgelegt wird, im Alter keine Rolle mehr.“

Gebetshäuser sind auch Anlaufstellen für nicht Praktizierende einer Glaubensgemeinschaft

Doch betont Schüller auch, dass es nicht so ist, dass Religion nicht mehr gebraucht wird. Vielmehr würde sie einem großen Wandel unterliegen. Dem stimmt auch Ahmad Aweimer, Sprecher des Rates der muslimischen Gemeinden in Dortmund, zu. Er stellt fest, dass sich „Kultur-Muslim:innen“ bei Fragen an die Moschee wenden.

Ahmad Aweimer stellt fest, dass die Moschee auch eine Anlaufstelle für Menschen ist, die den Islam nicht praktizieren.
Ahmad Aweimer stellt fest, dass die Moschee auch eine Anlaufstelle für Menschen ist, die den Islam nicht praktizieren. Chimène Goudjinou | Nordstadtblogger

Als Beispiel führt er die Seelsorge an. Den Begriff „Kulturmuslim:innen“ verwendet Aweimer für Muslim:innen, die den Islam nicht praktizieren, sich aber einer islamischen Kultur zugehörig fühlen.

Dieses Phänomen sieht Schüller auch bei den Christ:innen: „Es gibt schon Leute, die sagen: ich bin Christ, bin zwar ausgetreten, aber bei den Fragen, wo es um Krankheit, das Ende des Lebens geht oder um Not geht, ist es ganz gut, zu dem ich hingehen kann. Das kann ein katholischer Pastor, eine Seelsorgerin oder eine Ordensschwester sein.“

Nach Schüller unterscheiden sich die Aufgaben der großen Weltreligionen nicht wirklich. Dazu gehöre unter anderem, den Glauben weiterzugeben und den Menschen nahe zu sein. „Religion versucht, aus dem Glauben heraus Werte zu generieren. Zusammenhalt, Nächstenliebe würde man im Christentum sagen, aber auch Werke der Barmherzigkeit finden sich im Islam, im Koran, aber auch in der Tora, der jüdischen Grundurkunde“, sagt Schüller.

Sind Religionen vom Aussterben bedroht? Schüller: „Nein definitiv nicht“

Auf die Frage, wie die Kirche mit der aktuellen Entwicklung umgehen kann, antwortet Schüller, dass die Kirche bestimmte Faktoren nicht beeinflussen kann, weil es große gesellschaftliche Megatrends sind. Doch erachtet er einen Punkt als besonders wichtig:

Symbole von verschiedenen Religionen. Quelle: Wikipedia (gemeinfrei)

„Wichtig ist, dass man authentisch ist. Dass man nicht nur eine Show abzieht, sondern dass man das, was man aus religiöser Überzeugung sagt, auch versucht zu leben“.

Er ist sich sicher, dass das die Leute fasziniert. In seinem Vortrag hat Schüller auch einen kleinen Ausblick auf die bevorstehende Entwicklung gegeben.

Im Jahr 2045, früher als gedacht, werden die großen christlichen Konfessionen in Deutschland in der Minderheit sein. Damit stellt sich die große Frage: Sind Religionen vom Aussterben bedroht? „Nein, definitiv nicht. Weltweit sowieso nicht. Man kann empirisch feststellen, dass die großen Religionen weiter wachsen, dass neue Religionen entstehen und auch uralte Religionen, wie zum Beispiel Naturreligionen im afrikanischen Kontext, vital und lebendig sind“.

Auch wenn die katholische Kirche in Europa viele Gläubige verliert, kann der Kirchenrechtler auf anderen Kontinenten wie Asien und Ozeanien ein Wachstum beobachten.


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Reader Comments

  1. Thomas Oppermann

    Moin,
    offensichtlich waren Frau Goudjinou und ich auf unterschiedlichen Veranstaltungen. Als Impulsgeber für die Veranstaltung, hatte ich die Aufgabe die Sichtweise religionsfreier Menschen auf die Entwicklung darzustellen. Denn ein wesentlicher Punkt der Entwicklung ist, dass es immer mehr Menschen ohne Religion gibt und wir nach wie vor keine Antwort darauf haben, wie diese Menschen gesellschaftlich wahrgenommen und repräsentiert werden. Frau Goudjinou belegt das Dilemma anschaulich in ihrem eigenen Beitrag hier ignoriert sie offenbar, dass es auf den Bedeutungsverlust der Kirchen auch eine Sichtweise der Menschen ohne Religion gibt, was auch Gegenstand der Diskussion an diesem Abend war. Überhaupt stimmt ihre Darstellung nicht wirklich mit den von Herrn Schüller vorgestellten Fakten überein. Bereits jetzt sind nur noch knapp 50 % der Bevölkerung Mitglied der christlichen Kirchen, 2045 wird sich diese Situation, wie Thomas Schüller darstellte noch dramatischer darstellen, dann werden Berechnung zur Folge nur noch ein Viertel der Menschen Christen sein. Ich würde mich sehr freuen wenn ehrenamtlicher Journalismus, nciht durch solche einseitige Berichte wie den vorliegenden diskreditiert würde. MfG Thomas Oppermann

    • Chimène Goudjinou

      Lieber Herr Oppermann,
      vielen Dank für Ihren Kommentar. Mein Beitrag bezieht sich nicht auf die Veranstaltung und die dort geführte Diskussion. Ganz im Gegenteil: Er sollte lediglich eine einfache Einschätzung zur Frage „Sind Religionen vom Aussterben bedroht?“ geben. Ich habe die Veranstaltung als einen guten Anlass für diese Frage gesehen. In meinem Beitrag sollte der Bedeutungsverlust der Kirchen lediglich aufzeigen, dass Religion in unserer Gesellschaft zunehmend an Wichtigkeit verliert und es daher den Anschein erweckt, als seien Religionen vom Aussterben bedroht. Dazu habe ich mir eine Einschätzung von Prof. Dr. Schüller eingeholt, daher auch die Überschrift „Kirchenrechtler Thomas Schüller erklärt, wieso Religionen nicht vom Aussterben bedroht sind.“
      Ich bedauere sehr, dass dies nicht ausreichend deutlich wurde.

      Mit freundlichen Grüßen
      Chimène Goudjinou

  2. Thomas Oppermann

    Hallo Frau Goudjinou, ich gebe zu der Gedanke, dass sie sich mit einer Fragestellung jenseits der eigentlichen Veranstaltung beschäftigen ist mir nicht gekommen. Zumal diese Frage ja wirklich von keinem der Referenten aufgeworfen oder gar initiiert wurde. Insofern muss ich mich entschuldigen, Ihnen schlechten Journalismus vorgeworfen zu haben. Gleichwohl erkenne ich in ihrem Bericht sehr wohl den Seuzer der bedrängten Kreatur, dass der Suchtstoff trotz Krise erhalten bleibt. Mit besten Grüßen Thomas Oppermann

  3. Ulrike Hoppe

    Guten Tag Frau Goujinou,
    nach meinem Urlaub möchte auch ich – als eine der Mitarbeiterinnen im Dortmunder Islamseminar, das diese Veranstaltung am 27.08.2024 in der Pauluskirche ja angestoßen und organisiert hat – mich noch zu Wort melden.
    Auch wenn ich den Duktus Ihres Artikels unter dem von Ihnen gesetzten Thema schlüssig finde und sich von Herrn Prof. Schüller und Herrn Aweimer geäußerte Positionen sachgerecht in dem Artikel wiederfinden, finde auch ich es sehr schade, dass die von Herrn Oppermann dargestellte Perspektive von religionslosen Menschen zum Thema in der Fragestellung Ihres Artikels nicht mehr vorkommt.
    Denn damit fallen die Punkte des gemeinsamen – über die Grenzen einzelner Religionen und Weltanschauungen hinausgehenden – Diskurses in grundlegenden ethischen und sozialen Fragen raus, die in der Diskussion aufgekommen sind.
    Ich denke hier zum Beispiel an die Aussagen zur Wichtigkeit, im Bereich der Schöpfungsbewahrung bzw. Bewältigung der Klimakrise zusammenzuarbeiten – oder auch an die zu führende Diskussion, wie Ethik (und damit verbunden: Wertorientierung) in Schulen so vermittelt werden kann, dass sich nicht nur Mitglieder von Religionen sondern auch Menschen ohne Religion bzw. aus Weltanschauungen dabei wiederfinden können.
    Außerdem ist es in meiner Erinnerung auch Herr Oppermann gewesen, der mit Respekt betont hat, dass es vielfach Kirchengemeinden sind, die in ihrem Einsatz für sozial benachteiligte oder ausgegrenzte Menschen diesen Treffpunkte/Räume geben, für die beim Wegfall von Kirchenräumen dann (möglicherweise schwer zu findender) Ersatz zu suchen ist.
    Letztlich haben alle drei Referenten an diesem Abend gemeinsam einen wertschätzenden Diskurs auf Augenhöhe miteinander geführt, der das Ringen um ein „gutes Leben für alle“ über die bestehenden religiösen bzw. weltanschaulichen Grenzen hinweg in Vielfalt im Blick hatte – was wir angesichts der Komplexität und Vielzahl der anstehenden Probleme in unserer Welt auch brauchen!
    Da finde ich schade, dass dies in Ihrem Artikel nicht mehr vorkommt.

    Mit freundlichen Grüßen
    Ulrike Hoppe

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