Rekord im Hartware MedienKunstVerein (HMKV): 31.000 Besucher:innen hatten 2023 keine Angst vor großen Fragen. Ein Kompliment für ein mutiges Ausstellungsprogramm, das mit Geschichtsbewusstsein in die Zukunft schaut und uns hilft die Gegenwart zu verstehen. Wollten Sie schon immer wissen, was Kunst ist? Im HMKV gibt IRWIN noch bis zum 28. Januar eine Antwort.
„Ein neue globale Erzählung des Ruhrgebiets“
Inke Arns, Direktorin und Kuratorin des Hartware MedienKunstVerein, hat allen Grund stolz zu sein: Allein die Ausstellung von Jana Kerima Stolzer und Lex Rütten – „We grow, grow and grow, we’re gonna be alright and this is our show“ – verzeichnete einen Besuchsrekord.___STEADY_PAYWALL___
17.000 Menschen hatten keine Angst vor einem „radikalen Perspektivwechsel“ (Arns) und tauchten in eine künstlerische Welt aus Pflanzen, Tieren, Bakterien und neuen Technologien ein.
„Die Besucher:innen konnten die Welt nicht nur durch die Augen von nicht-menschlichen Wesen betrachten, sondern auch eine neue globale Erzählung des Ruhrgebiets kennenlernen“, erklärt Arns. Die Ausstellung war ein spannender Kommentar zu den Herausforderungen des Klimawandels und unserem Umgang mit Ressourcen. Sie konfrontierte die Besucher:innen mit möglichen neuen Symbiosen – bunt, radikal und mit einem eigenen Soundtrack.
Der Tanz der Kriegsflugzeuge hinterläßt gemischte Gefühle
Ebenfalls radikal, aber radikal anders, war die Ausstellung „Pranayama Typhoon Soft Parts Wing Flap Fin“ von Fiona Banner aka The Vanity Press. Vergleichbar war hier allenfalls eine Neigung zu sperrigen Ausstellungstiteln – die Präsentation war dagegen auf das Wesentliche reduziert.
Ein dunkler Raum, ein aufblasbarer Kampfjet dessen „Atem“ den Rhythmus vorgab. Dazu eine Videoarbeit in der zwei Performer:innen in Flugzeugattrappen gehüllt eine Art Balz-Tanz aufführen. Das war grotesk, rührend, traurig und angesichts des Kriegsgeschehens in der Ukraine ein intelligentes und sensibles Statement aus der Perspektive der Kunst.
Die Ambivalenz von Kampf und Lächerlichkeit und das damit verbundene Ohnmachtsgefühl sind seit Januar 2023 nicht geringer geworden. Im Gegenteil: Weitere Kriege sind hinzugekommen, weitere Kommentare der Kunstwelt stehen aus.
Ein wilder Ritt durch die Kunst- und Zeitgeschichte
Zum Jahreswechsel nun also die Frage: Was ist Kunst, IRWIN? Eine große Frage. Aber wer ist überhaupt IRWIN? Dahinter steckt ein Künstlerkollektiv, das sich vor 40 Jahre in Slowenien gründete. Haben sie uns heute noch etwas zu sagen? Allerdings.
Über 100 von mutmaßlich 8000 Arbeiten des Kollektivs sind noch bis zum 28. Januar 2024 im HMKV zu sehen und sie entfachen ein Feuerwerk der Kunst- und Zeitgeschichte. Die Bilder hängen dicht an dicht, es wimmelt von Anspielungen auf berühmte Werke und Seitenhieben auf Künstlerkolleg:innen und den Kunstmarkt.
Ein großartiger Mix, eine Art frühes Sampling – ganz anlog – das auch Fragen nach Urheberschaft und Vermarktung aufwirft und keinen Respekt vor Ikonen zeigt.
Da wird auch mal das berühmte „Schwarze Quadrat“ von Kasimir Malewitsch aus Legosteinen gebaut, auf dem Merchandisebeutel präsentiert und selbst der Sarg samt Leiche des berühmten Malers ist Teil der Ausstellung. Wer trägt hier eigentlich was zu Grabe?
Dieser erste Teil der Ausstellung ist sicher besonders spannend für Kunstexpert:innen, aber auch etwas für Menschen, die nicht alles (er)kennen und die Kunst auch gern mal weniger ernst nehmen. Letzteres gilt auch für IRWIN selbst. Die Arbeiten haben einen subversiven, meist schwarzen Humor und ihnen wohnt stets ein Moment der Anarchie inne.
Auf der anderen Seite der Wand, die den Ausstellungsraum in zwei Teile trennt, wird es dann politisch. Hier geht es um den Staat – und hier hört der Spaß ja bekanntlich auf. Oder vielleicht auch nicht.
Was ist der Staat? Was kennzeichnet eine Nation?
Die frühen Arbeiten von IRWIN sind sicher in ihrer Zeit zu sehen. Sie sind häufig Provokation des Staatsapparats und ein Statement zur politischen Lage in ihrer Heimat: Jugoslawien steht Anfang der 90er Jahre vor dem Zerfall und Slowenien will unabhängig sein.
IRWIN ist Teil der Bewegung „Neue Slowenische Kunst“ (NSK) und beteiligt sich an der Gründung eines ungewöhnlichen künstlerischen Konstrukts, einem „Staat in der Zeit“. Es geht ihnen um Autonomie, künstlerische Freiheit und auch die Fragen, was ein Staat und eine Nation eigentlich sind.
Bis heute ist der NSK-Staat eine virtuelle Organisation mit symbolischen Ausweispapieren, temporären Botschaften, eigener Währung oder auch Briefmarken. In der Ausstellung ist u.a. eine Dokumentation der NSK-Botschaft in Moskau zu sehen, Plakate werben für touristische Reisen und in einem eigenen Bereich werden Reisepässe ausgegeben.
Der Staat, das ist vor allem strenge Organisation und jede Menge Symbolik. Und mit der kann man schon mal spielen, um sie zu entschlüsseln oder auch zu entlarven.
Migration und Zugehörigkeit – der Pass als Konstruktion
Für 32 € kann man zum Beispiel auch in dieser Ausstellung einen Pass erwerben und Mitglied des NSK-Staats werden. Schon jetzt hat dieser Staat mehr Bürger:innen als der Vatikanstaat. Ein Stück Papier, ein Stempel, ein Symbol – und doch entscheidet es über Zugehörigkeit. Ein Mechanismus, der Anfang 2000 durch die NSK-Internetpräsenz aus dem Ruder zu laufen drohte. Obwohl das Kollektiv deutlich machte, dass es sich um eine künstlerische Aktion handelt, wurden insbesondere in Nigeria viele Pässe erworben. Mit dem Pass verband sich die Hoffnung nach Slowenien und in die EU einreisen zu können.
Wer hat welchen Pass? Welche Befugnisse und Privilegien sind damit verbunden? Diese Fragen sind aktueller denn je. IRWIN zeigt: Eine Nation materialisiert sich über Symbole – und vielleicht steht und fällt sie auch mit unserem Glauben daran.
Fakt ist: Der Pass entscheidet, ob ich reisen darf, wozu ich Zugang habe. Der Pass drückt aus, wo ich herkomme und gibt Auskunft, wer ich bin. Es ist nur ein Stück Papier, vielleicht ein wenig lächerlich, denn der Mensch ist mehr als dieser Pass – aber lustig ist es deswegen nicht.
Der Staat und seine Macht kommen in diesen Insignien zum Ausdruck und das Lachen kann einem im Hals stecken bleiben, bedenkt man, wie existenziell so ein Dokument sein kann: zum Beispiel für Menschen, die auf der Flucht sind, den „falschen“ Pass haben, denen man mit ihrem Pass Rechte und auch ein Stück ihrer Identität nimmt.
Ist das Kunst, IRWIN? Der Pass? Das Bild an der Wand? Der Rahmen? Oder ist es der Prozess und das Nachdenken darüber? „Jede Ausstellung ist eine Antwort auf diese Frage,“ sagt IRWIN. Und eine weitere Frage wird beantwortet: Was kann Kunst? Alles, wenn Künstler:innen und Kurator:innen mutig sind. Zum Beweis einfach mal beim HMKV rein schauen und selber erleben.
Was Ist Kunst, IRWIN? – noch bis 28. Januar 2024 im HMKV Hartware MedienKunstVerein im Dortmunder U, Ebene 3, Leonie-Reygers-Terrasse
Führungen jeden Sonntag, 16 Uhr – am 18.01 in englischer Sprache und am 27.01 mit Inke Arns und Co-Kurator Thibaut de Ruyter
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