Die Redewendung ist zwar stark strapaziert, aber in diesem Fall trifft sie zu: Bei der AWO in Dortmund endet eine Ära – Andreas Gora ist nach vier Jahrzehnten Arbeit für die AWO und nach 21 Jahren als Geschäftsführer in den Ruhestand gegangen. Dabei hatten er und sein früherer Chef nicht geglaubt, dass er mehr als ein halbes Jahr in Dortmund überstehen würde…
Eintreten für Solidarität, Demokratie und engagiert im Kampf gegen Rechts
„1999 fing das an. Mach das auf keinen Fall. Maximal nach einem halben Jahr bist du weg. Du hältst es nicht aus oder wirst rausgeschmissen, sagte mein früherer Chef“, erzählt Andreas Gora (65). Als das Angebot aus Dortmund kam, war auf allen Seiten Skepsis angesagt, denn der damalige Vorsitzende Ferdinand Hollmann galt als schwierig. ___STEADY_PAYWALL___
„Es gab und gibt einen starken ehrenamtlichen Vorstand, der Geschäftsführer tritt nicht als Bestimmer auf“, skizziert Gora. Als Geschäftsführer habe er daher für seine Vorstellungen kämpfen und ringen müssen – hart für die Sache, nicht für das Ego. Das lief nicht immer konfliktlos. Der Vorstand hat die Trennung zwischen Verein und Unternehmen akzeptiert, aber das Unternehmen stets gefordert.
Damals habe sich der Vorstand eher auf Fragen der sozialen Arbeit konzentriert, nicht auf politische Forderungen. „Jetzt bin ich jemand, der mit einer linken Position hergekommen ist. Ich hatte eine klare Vorstellung von Demokratie, der Positionierung gegen Krieg und rechte Gewalt und im Eintreten für Solidarität“, betont Gora.
Zahlreiche Initiativen gestartet: Vom Erinnern an Edelweißpiraten bis zur „Aktion Gutmensch“
Darin ist er sich bis heute treu geblieben und hat es geschafft, den Verband wieder stärker zu politisieren und für die eigenen Werte einzutreten.
Dies wird in vielen Feldern deutlich – die „Aktion Gutmensch“, das Thema „Edelweißpiraten“ oder das Werte-Projekt „Zukunft mit Herz gestalten“ sind einige Beispiele für die inhaltliche Profilierung und Rückbesinnung.
Das zeigt sich heute mehr denn je: „Die AWO ist keine beliebige Dienstleisterin wie alle anderen.“ Darauf legt Andreas Gora größten Wert. „Wir haben einen sozialen und gesellschaftlichen Auftrag und stellen auch gesellschaftliche Forderungen“. Dafür krempelt er „sein“ Unternehmen um. In seinen 21 Dienstjahren hat sich eine Menge verändert.
Das Unternehmen ist viel größer, die Arbeit viel schneller geworden. Die Zahl der Beschäftigten stieg von 600 auf 1.700. „Wir haben uns ganz anders organisiert, immer versucht, die Ressourcen so gut wie möglich zu nutzen. Außerdem haben wir versucht, trotz der schwierigen Rahmenbedingungen fair gegenüber unseren Beschäftigten zu sein. Und wir sind laut geworden in der Stadt“, fasst Gora zusammen.
Das Unternehmen AWO ist deutlich gewachsen – spezialisierte Fachkräfte
Die Führungsstruktur des Unternehmens hat sich seitdem massiv verändert: „Ein Geschäftsführer und ganz viele Weisungsempfänger*innen – so funktioniert ein Betrieb nicht, wenn er gut und innovativ arbeiten will“, skizziert Gora – wenn auch stark pointiert – die Ausgangslage.
„Wir müssen die Verantwortung auf mehrere Menschen verteilen und uns als gemeinschaftliche Unternehmensführung verstehen.“ Der Unterbezirk Dortmund hat daher die Angebote in Arbeitsbereichen mit eigenen Bereichsleitungen organisiert, die relativ eigenständig arbeiten.
„Wir haben hoch spezialisierte Fachkräfte für einzelne Fragen. Ich bin als Geschäftsführer gar nicht in der Lage, alle Detailfragen beantworten zu können. Die Leitungen in der Eingliederungshilfe, aus der Pflege oder dem Bereich Kinder, Jugend und Familie wissen viel mehr und können sich viel stärker in die jeweiligen Netzwerke und Fachdiskussionen einbringen.“
Gegen Privatisierung: Beharrliche Kritik an den Rahmenbedingungen der sozialen Arbeit
Ein Punkt dabei ist auch die ständige und beharrliche Kritik an den Rahmenbedingungen der sozialen Arbeit. Diese gerät immer stärker unter Druck und wird dem freien Spiel der Kräfte und vor allem des Marktes ausgesetzt. Das ist der Grund, warum Andreas Gora sich seit Jahren sehr laut zu Wort meldet.
Denn die Rahmenbedingungen für gute soziale Arbeit müssten verlässlich und nachhaltig sein. „Doch die Ausschreibungs- und Vergabepraxis und der Wettbewerb im sozialen Bereich sind völliger Schwachsinn“, kritisiert Gora.
Das zeige sich in Corona-Zeiten besonders deutlich. Der Markt regele gar nichts. „Es gibt eine völlig irrationale Ausbeutung im Arbeitsbereich der sozialen Praxis.“ Bessere Rahmenbedingungen für gute soziale Arbeit – dafür hat er sich stets eingesetzt.
Die zunehmende Privatisierung ist ihm ein Dorn im Auge – Stichwort Kitas – „Will ich, dass mein Kind von einer Aktiengesellschaft erzogen wird, die als einziges Ziel hat, Geld zu verdienen?“ Seine Antwort: natürlich nicht.
„Ich habe kein Verständnis dafür, dass das so ist. Wir haben Geld genug. Wir leisten uns ein Steuersystem, das einige wenige Menschen im höchsten Maße privilegiert, stecken Milliarden in Banken und Konzerne. Aber diskutieren dann auf der anderen Seite, ob soziale Arbeit 12,50 oder 15 Euro kosten darf und entscheiden, dass sich die Gesellschaft 15 Euro nicht leisten kann“, ärgert sich Gora mit Blick auf die Einkommenssituation bei Erzieher*innen oder in der Pflege.
Kritik: „Viele soziale Unternehmen haben sich stromlinienförmig angepasst“
Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen versuche die AWO, eine verlässliche und faire Arbeitgeberin zu sein, also die eigenen Werte auch im Unternehmen zu leben. Das falle zunehmend schwerer, weil die finanziellen Rahmenbedingungen – gesetzt durch die Politik – immer schwieriger würden.
„Ich finde die Rahmenbedingungen nicht gut, aber trotzdem müssen wir möglichst fair agieren. Vielen anderen sozialen Unternehmen ist das egal. Sie haben sich stromlinienförmig angepasst“, bedauert Gora.
Doch der Dortmunder Geschäftsführer will das so nicht akzeptieren: „Wir müssen Bedingungen schaffen, dass die Menschen, die mit gesellschaftlich Abgehängten und Benachteiligten arbeiten, nicht auch irgendwann abgekoppelt sind. Wir brauchen langfristige und nachhaltige Beschäftigung, die in einer angemessenen Rente endet.“
Er will nicht länger akzeptieren, dass Menschen nach 40 Jahren Arbeit mit 900 Euro Rente nach Hause gehen. Dies ist ein Grund, warum er auf eine Repolitisierung des Verbandes setzt.
Gerechtigkeit statt Recht: Der Einsatz muss auch nach 100 Jahren AWO weitergehen
Die AWO müsse noch viel stärker ihre politischen Ansätze formulieren: „Die Gesetzgebung muss wieder menschlicher werden. Es darf nicht nur um Recht gehen, sondern auch um Gerechtigkeit. Ich ermuntere meine Beschäftigten immer dazu, das, was nicht gut funktioniert, auch tatsächlich zu sagen.“
Dabei sei es unerheblich, ob sie dies innerhalb des Unternehmens, in den jeweiligen Netzwerken und politischen Gremien und auch gegenüber Förderern und Geldgebern tun. „Sie sollen nicht kuschen, sondern formulieren, wie sie sich das System vorstellen. Nur so können wir Dinge verändern.“
Auf das AWO-Jubiläum im vergangenen Jahr hat er mit zwiespältigen Gefühlen geblickt: „Die AWO besteht seit 100 Jahren. Viele sagen, dass es eine Idee von gestern ist. Schade, dass sie es nicht ist. Denn die Forderungen sind noch immer aktuell und vieles haben wir noch nicht erreicht“, so Gora. „Ich glaube, wir haben noch einen riesenweiten Weg vor uns, um die Ziele der AWO von vor 100 Jahren zu erreichen.“
Kommunale Daseinsvorsorge statt Privatisierung als Forderung
Sein Wunsch für die Zukunft: Die AWO solle sich nicht dem Trend beugen, dass soziale Arbeit privatisiert werden müsse.
„Die Erfolge der Privatisierung sind nicht nachgewiesen worden. Letztendlich ist es dadurch nur teurer geworden und es gibt keine Versorgungssicherheit, wenn nur noch unter monetären Gesichtspunkten gehandelt wird“, bilanziert der scheidende Dortmunder AWO-Geschäftsführer.
Die Daseinsvorsorge werde immer stärker zusammengestrichen, die Leute immer mehr unterversorgt. „Das sorgt sie zu Recht. Das muss sich in den nächsten 100 Jahren ändern. Für die Zukunft wünsche ich mir, dass die AWO das Grundziel nicht aus den Augen verliert.“
Die Menschen bräuchten ein gesichertes Leben mit auskömmlicher Arbeit, sozialer Sicherheit, guter Kinderbetreuung, bezahlbarem Wohnen und einer Sicherheit für gute Pflege im Alter. „Das muss die AWO organisieren.“
Eigentlich muss das Ziel der AWO sein, sich selbst überflüssig zu machen
Ziel müsse sein, sich selbst überflüssig zu machen. Doch so lange der Staat nicht die Menschen und ihre Bedürfnisse an die erste Stelle setze, solange werde die AWO noch weiterarbeiten müssen.
Allerdings nicht mit ihm. Doch, wenn er in die Zukunft blickt, sieht er den Verband gut aufgestellt – sowohl im Ehren- wie im Hauptamt.
Mit Mirja Düwel als seiner Nachfolgerin – sie wird von Antje Rottmann und Franz Czwikla als stellvertretende Geschäftsführer unterstützt – gibt es seine Wunschnachfolge. Daher hört er im Juni auf. Leid tut es ihm nicht. Auch nicht, dass die große Verabschiedung wegen der Corona-Beschränkungen ausfallen musste.
Er freut sich auf die Zeit nach der AWO: „Ich habe noch eine andere Welt. Früher war ich am zufriedensten, wenn ich unter einem Auto liegen konnte und schrauben.“ Zudem habe er früher Hühner gezüchtet. Besonders freut er sich, wenn er künftig mehr Zeit für seine Frau, seine drei Kinder und zwei Enkel hat. Und er will dann auch wieder mehr durch die Weltgeschichte reisen. Ob er dafür erst ein altes Auto restaurieren will, lässt Andreas Gora allerdings offen …