Ismail Küpeli bei „Blackbox“: Die Türkei im Ausnahmezustand – zwischen Terror, Putschversuch und staatlicher Willkür

Bei der Reihe „Blackbox“ stand die aktuelle Lage in der Türkei im Mittelpunkt. Foto: Schauspiel Dortmund
Bei der Reihe „Blackbox“ stand die aktuelle Lage in der Türkei im Mittelpunkt. Foto: Schauspiel Dortmund

Von Claus Stille

Die Türkei im Ausnahmezustand, zwischen Terror, Putschversuch und staatlicher Willkür: Ismail Küpeli, Politikwissenschaftler und Journalist, rekapituliert die Entwicklungen des vergangenen Jahres und versucht sich an einer Prognose, welchen Weg die Türkei gehen wird und was wir darüber wissen sollten.

Staatliche Willkür: 24.000 Menschen sind verhaftet worden

Über die Türkei wurde nach einem Putschversuch im Juli diesen Jahres der Ausnahmezustand verhängt. Das Land am Bosporus schwebt zwischen Terror und staatlicher Willkür. Inoffiziellen Zahlen zufolge sind nach dem 17. Juli in der Türkei etwa 24 000 Menschen verhaftet worden.

Über 1500 Institutionen wurden geschlossen, darunter Vereine, Gewerkschaften, Stiftungen, private Schulen, private Universitäten, private Krankenhäuser. Mehr als 80 000 Staatsbedienstete sind suspendiert oder entlassen, über 17.000 Menschen sitzen noch in Untersuchungshaft.

Fast 3500 Richter und Staatsanwälte wurden aus ihren Ämtern entfernt. 120 Journalisten sitzen im Gefängnis.

Politikwissenschaftler und Journalist Ismail Küpel analysiert die Konflikte

Im „Megastore“ des Schauspiels in Hörde gab es im Rahmen der Reihe „Blackbox“ die Gelegenheit, mehr über die drastische Situation im Land zu erfahren. Zu Gast war der Politikwissenschaftler und Journalist Ismail Küpeli. Er analysiert die Konflikte in der Türkei und im Nahen und Mittleren Osten. Ebenso berichtet er über die sozialen Proteste und die Folgen der neoliberalen Krisenpolitik in Europa.

Küpelis Eltern stammen aus Bursa in der Westtürkei und kamen in den 1990er Jahren als politische Flüchtlinge nach Deutschland. Ihr Sohn lehrt an der Ruhruni Bochum und gibt Interviews in Funk und Fernsehen. Zudem schreibt er Beiträge für die Tageszeitung„neues deutschland“, die Wochenzeitung „Jungle World“ sowie für die Zeitschrift „analyse & kritik“.

Noch während Moderator Alexander Kerlin den Gast vorstellte, kommt über dessen Smartphone eine neue Meldung über die Türkei herein: Nächste Woche will die regierende AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) einen Entwurf ins türkische Parlament einbringen, der zum Beschluss eines Referendums führen soll, mithilfe dessen die AKP die Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei erreichen will.

Europäische Politiker und Medien erlagen einem Trugbild

Die Entwicklung der Türkei unter der AKP-Regierung sei sowohl von der europäischen Politik als auch von den meisten Medien fehlinterpretiert worden, so Küpeli. Man sei einem Trugbild erlegen.

Zum besseren Verständnis rekapitulierte der Referent die von der türkischen Regierung eingeleiteten Entwicklungen unter der anfangs als moderat-islamisch geltenden AKP.  Bis zu den Das einst wirtschaftlich angeschlagene Land erlebte einen ökonomischen Aufschwung. Die Löhne stiegen. Die Demokratie wurde gestärkt. Eine formelle Abschaffung der Folter ist ins Werk gesetzt worden. Ebenso die Abschaffung der Todesstrafe.

Zudem wurde die Macht der Generäle gestutzt. Viele Reformen hätten Anlass zu Hoffnung gegeben. Im Nachhinein müsse diese Reformpolitik kritisch gesehen werden. Sicherlich hätte die AKP auch eine Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen im Sinn gehabt, gestand Ismail Küpeli zu. Aber zuvörderst habe Erdogan alles darangesetzt, um die alten kemalistischen Eliten von der Macht zu entfernen und durch die eigene Klientel zu ersetzen.

Die Europäer hätten, so Küpeli, die EU-Beitrittsgespräche als Hebel gesehen, diese auch in ihren Augen positive Entwicklung der Türkei weiter zu befördern. Gleichzeitig habe die EU Zweifel genährt, ihr sei es Wirklichkeit überhaupt nicht an einer EU-Mitgliedschaft der Türkei gelegen. Küpeli: „Es ging wohl in erster Linie um wirtschaftliche Interessen.“

Ismail Küpeli und Moderator Alexander Kerlin auf der Megastore-Bühne. Foto: Schauspiel
Ismail Küpeli und Moderator Alexander Kerlin auf der Megastore-Bühne. Foto: Schauspiel Dortmund

Als die AKP einen Machtverlust fürchtete, reagierte sie hart

Ismail Küpeli erinnerte daran, wie die Selbstsicherheit der AKP-Regierung, das erste Mal erschüttert wurde. Die Protestwelle 2013 in Istanbul gegen ein geplantes Bauprojekt auf dem Gelände des Gezi-Parks sprang seinerzeit auf mehrere türkische Großstädte über.

Die Gezi-Proteste waren zum Symbol eines Protestes gegen eine als immer autoritärer empfundene Politik der islamisch-konservativen Regierungspartei geworden. Die Proteste wurden brutal niedergeschlagen. Die Repressionen von Seiten der Regierung gegen ihre Kritiker verstärkte Ankara als Konsequenz aus den Protesten.

Als die AKP bei den Parlamentswahlen 2015 auch noch die absolute Mehrheit verlor, habe sich deren ganze Wut auf die linke und pro-kurdische HDP (Demokratische Partei der Völker) gerichtet, der sie diesen Stimmenverlust verdankte. Erdogan ließ abermals wählen.

Die Stoßrichtung von Erdogan war klar: Gegen die Kurden

Viele vormalige HDP-Wähler hatten verstanden – sie seien nicht mehr Wählen gegangen oder hätten gar die AKP gewählt. Schon damals konnte eine „falsche“ Wahl Nachteile etwa im Berufsleben bedeuten. Erdogans Plan sei aufgegangen: die AKP konnte bei den Wahlen im November wieder eine Mehrheit zurückgewinnen. Die HDP erlitt Verluste, zog jedoch wieder ins Parlament ein.

Die Repressionen gegen AKP-Kritiker – besonders in den Kurdengebieten, Hochburgen der HDP – die dort zahlreiche Bürgermeister stellen konnte, sei verstärkt worden. Der Friedensprozess mit der PKK, der, wie Küpeli bemerkte, durchaus Erfolg versprach, wurde von Erdogan gestoppt.

Reaktionen auch auf Tötungen von und Verhaftungen Kurden blieben nicht aus. Es gab wieder vermehrt Terroranschläge. Nicht nur von der PKK, auch vom Islamischen Staat.  Soldaten und Polizisten wurden ermordet.

Die türkische Regierung habe, berichtete der Referent, dann verstärkt gegen angebliche Terroristen in den von Kurden bewohnten Gebieten vorgehen lassen. Städte und Dörfer wurden bis auf die Grundmauern zerstört.

Zynischerweise habe die türkische Armee an den Ruinen große türkischen Fahnen angebracht, kritisierte Ismail Küpeli. Die Stoßrichtung sei den Menschen klargeworden: Gegen die Kurden. Oft sei auch der Spruch „Ihr werdet die Kraft der Türken erleben“ an Häuserwänden zu lesen gewesen.

„Alles Terroristen?“ Europa schaute dem Krieg gegen die eigene Bevölkerung weitgehend zu

Die Menschen standen unter manchmal tagelangem Ausgangsverbot. Schwerkranke hätten nicht behandelt werden können und starben. Menschen wurden erschossen oder starben in Kellern unter den  Trümmern ihrer Häuser. „Alles Terroristen“, fragte Küpeli in den Saal, „Babys, Kinder und Greise?“

Ismail Küpeli wies daraufhin, dass eine unabhängige Berichterstattung aus den Gebieten schon lange nicht mehr möglich sei. Man sei auf entsprechend gefärbte Armeeberichte angewiesen. Mutmaßlich seien Kriegsverbrechen begangen worden. Eine internationale Kommission, die das hätte unabhängig überprüfen können, war abgelehnt, entsprechende Anträge der HDP im Parlament sind abgeschmettert worden.  Die Beweise verschwanden mit den fortgeschafften Trümmern.

Küpeli beklagte: Die Weltöffentlichkeit – auch Europa – habe weitgehend schweigend zugeschaut. Anklagen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) seien an türkische Gerichte zurückverwiesen worden.

Der Rechtsweg in der Türkei, wurde beschieden, müsse erst ausgeschöpft werden. Was solle man dazu sagen? Erst recht nach dem Putschversuch, wo tausende Richter entlassen sind und nun eigentlich nur noch der AKP genehme Juristen „Recht“ sprächen!

Ismael Küpeli lehrt an der Ruhruni Bochum und schreibt Beiträge für verschiedene Medien. Foto: Claus Stille
Ismail Küpeli lehrt an der Ruhruni Bochum und schreibt Beiträge für verschiedene Medien. Foto: Claus Stille

Türkischer Nationalismus und die tiefe Spaltung des Landes sind große Probleme

Hinter diesem Krieg, erklärte Küpeli, stünde ein strammer Nationalismus. Und somit eine Ideologie mit der Vorgabe „Rettung des türkischen Staates“. In der sich dem Referat anschließenden Diskussions- und Fragerunde sollte Küpeli noch darauf aufmerksam machen, dass die größte türkische Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei (CHP) diesbezüglich nahezu gleich nationalistisch ticke wie die AKP.

Küpeli nannte deren Form von Opposition – der seiner Meinung nach oft fälschlich als sozialdemokratisch apostrophierten Partei –  halbherzig. So hätten auch CHP-Abgeordnete dafür gestimmt, HDP-Kollegen die parlamentarische Immunität wegen angeblicher Unterstützung der PKK zu entziehen. Erst recht auf diesem nationalistischen Kurs sei seit eh und je die rechtsextreme MHP. Die wiederum – Ironie der Geschichte – nicht selten quer mit AKP gelegen habe, sie nun jedoch nach dem gescheiterten Putsch unterstütze.

Dieser Nationalismus, das ergab dann auch die Diskussion, ist ein grundlegendes Problem der Türkei. Dazu käme die Tatsache, dass schwere Verbrechen – für die in der Vergangenheit auch die CHP Verantwortung trug – bis heute nicht aufgearbeitet worden seien.

Ohne diese Aufarbeitung von dunkler Geschichte und der Schaffung von Gerechtigkeit – ist sich Küpeli sicher – werde die Türkei keiner guten Zukunft entgegensehen. Küpeli bezeichnet das Land extrem gespalten. Gerade nach dem Putschversuch sei dies auch immer mehr bei in Deutschland lebenden Menschen zu beobachten, die Wurzeln in der Türkei haben.

Da würden kurdische Vereine und auch Moscheen angegriffen. Der Riss gehe durch manch Familie.

Eine vertrackte Situation – für die Türkei, Deutschland und Europa

Dass es der AKP um die Errichtung eines islamischen Staates nach dem Vorbild des Iran gehe, glaubt Ismail Küpeli indessen nicht. Wohl aber – und darauf ziele auch die Installation eines Präsidialsystems – habe sie es auf einen gefestigten autoritären Staat mit lediglich demokratischer Fassade abgesehen.

Damit, so schätzte der Referent ein, dürfte sogar die EU kaum Probleme haben. Schließlich arbeite die mit anderen autoritären Staaten wie beispielsweise Aserbaidschan bestens zusammen, obwohl dort Oppositionelle und Journalisten brutal verfolgt würden.

Der EU gehe es hauptsächlich um florierende Wirtschaftsbeziehungen – europäische „Werte“ hin oder her. Zusätzlich sei Erdogan mit dem Flüchtlingsdeal ein Hebel in die Hand gegeben, der die EU zum Stillhalten zwinge. Es sei zu befürchten, so Küpeli, dass Erdogan weitgehend schalten und walten können, wie ihm es in den Kram passe.

Die Wiedereinführung der Todesstrafe hält Küpeli für möglich. Er rechnet aber für den Fall, dass der inhaftierte Kurdenführer Öcalan hingerichtet wird, mit blutigen Kämpfen in der Türkei. Schließlich seien viele Kurden aus ihren angestammten Gebieten in die Westtürkei vertrieben und lebten dort in großen Städten. Die meisten von ihnen in Istanbul.

Auch in Deutschland dürfte es für den Fall eines Bürgerkriegs in der Türkei ungemütlich werden. Damit rechnet Ismail Küpeli. Ob Erdogan ein solches Blutbad letztlich riskiere, wisse man freilich nicht. Fakt sei, dass dann er ohnehin schon eingebrochene Tourismus in Türkei womöglich ganz zum Erliegen käme. Mit der Folge einer steigenden Arbeitslosigkeit.

Auch in Deutschland werden die Auseinandersetzungen geführt - Türken und Kurden geraten aneinander.
Auch in Deutschland werden die Auseinandersetzungen geführt – Türken und Kurden geraten aneinander.

Wer waren die Putschisten? Die Frage ist noch offen

Der Referent kann nicht sagen, wer hinter dem ziemlich dilettantisch durchgeführtem Juli-Putsch gestanden habe. Die von Erdogan beschuldigte Bewegung des Predigers Fethullah Gülen könne seiner Meinung nach durchaus involviert gewesen sein. Oder Teile des kaltgestellten Militärs.

Fakt sei für ihn allerdings eines, dass der Putschversuch vor allem einem genutzt habe: Präsident Tayyip Erdogan, der diesbezüglich von „Gottes Geschenk“ gesprochen hatte.

Hatte man damit nun einen Vorwand, um rigoros gegen kritische Menschen und unliebsame Institutionen vorzugehen, die man vermutlich längst auf dem Kieker gehabt und auf Listen zu stehen hatte.

Versäumnisse in der Integration und der Anbindung rächen sich

Warum die AKP so viele Wähler und Anhänger unter Türkischstämmigen in Deutschland habe, wollte ein Zuhörer wissen. Ismail Küpeli vermochte bei ihnen eine Sehnsucht nach Anerkennung und ein Verständnis für ihre Belange sehen. Beides habe man ihnen hier in Deutschland lange verwehrt.

Sie hätten das Gefühl – das nicht immer zu Unrecht – nicht angenommen zu werden. In der Vergangenheit habe es große Versäumnisse gegeben. Ebenso bei der EU. Die habe Ankara früher, als die Türkei hätte mehr integriert werden müssen, oft vor den Kopf gestoßen.

Auch heute handele man abermals falsch, wenn es darum ginge, gegenüber der Türkei die fatalen Entwicklung hin zu einem autoritären oder gar faschistoide Züge tragendem Staat zu benennen.

Ismail Küpeli lehrt an der Ruhruni Bochum und schreibt Beiträge für verschiedene Medien. Foto: Schauspiel
Ismail Küpeli lehrt an der Ruhruni Bochum und schreibt Beiträge für verschiedene Medien. Foto: Schauspiel

Die türkische Frauenbewegung ist sehr aktiv im Widerstand

Eine Zuschauerin wies zu recht daraufhin, dass die Frauenbewegung in der Türkei eine der hervorragenden Gruppen in der Gesellschaft sei, die sich einer negativen Entwicklung entgegenstemme.

Küpeli bestätigte das. Und erinnerte an einen derer Erfolge: ein Gesetz, dass Vergewaltiger Minderjähriger hatte straffrei stellen sollen, wenn sie ihr Opfer heirateten, wurde gekippt.

Eine Prognose freilich, welchen Weg die Türkei gehen wird, vermochte auch Ismail Küpeli nicht abgeben 

Küpeli gelang es – zumindest in groben Zügen – kompetent die Schwierigkeiten zu skizzieren, in welchen die Türkei steckt. Er will verdeutlichte, dass die Ursachen vieler dieser Probleme auch tief in der Geschichte zu verorten seien.

Gewalt indes, das unterstrich Ismail Küpeli ausdrücklich, sei keine Lösung. Weder werde man von ihm hören, dass er diesbezüglich die PKK verteidige. Noch werde gut heißen, wenn Gewalt von Staatsorganen ausgehe. Er dürften weder Polizisten noch Zivilisten in den kurdischen Gebieten getötet werden.

Küpeli lobte das Publikum für eine sachliche demokratische Form der Diskussion. Den  Zuhörerinnen und Zuhörern dürfte eingedenk der ihnen in Küpelis Vortrag verständlich aufgezeigten vielseitigen Probleme der Türkei deutlich aufgegangen sein, dass eine Lösung derselben gewiss noch auf sich warten lassen wird.

Die Veranstaltungsreihe zu Themen der Migrationsgesellschaften und Terror vom rechten Rand unterstützt auch bodo e.V.. Bereits zum dritten Mal fand die Veranstaltung in Kooperation mit der Offenen Fachhochschule der FH Dortmund statt.

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