Von Lia Lenz
Nordstadt. Missundestraße 8: Der zehnjährige Eddy klopft ungeduldig an das bunt beleuchtete Fenster des „Nordstadt Kollektivs“, Janina Trienekens, Initiatorin der „Herbe Kunst“-Reihe öffnet: „Hoy solo para adultos, Eddy“-Heute abend nur für Erwachsene. Enttäuscht zieht Eddy weiter. Er wird noch bis spät abends neugierig durch das große Ladenlokal Fenster hinein spähen.
„Herbe Kunst-Nachmittage“ sind auch ein Angebot für Kinder aus der Nachbarschaft
Für Kinder wie ihn waren die „Herbe Kunst“-Nachmittage Ausbruch aus dem immer gleichen Nordstadtblues. Neun Mal hatte Janina, Studentin an der Dortmunder FH für Design, die Kunstveranstaltung nachmittags angeboten, auch für Kinder. Das Angebot, gratis und ohne Vorgaben freie Kunst zu machen, ist dabei immer begeistert angenommen worden.
„Herber Abend“ solo para adultos
Es ist das dritte Mal „Herber Abend“, im Gegensatz zu den „Herbe Kunst“ Nachmittag richtet sich das Angebot nur an Erwachsene.
Ümran Topaloglu ist zum ersten Mal da. Er kommt aus Syrien und ist seit einem Jahr in Deutschland. Dort war er Künstler mit akademischen Grad. In Deutschland ist er Flüchtling, im Nordstadt Kollektiv einfach nur Maler- er freut sich über das Angebot, so viele verschiedene Materialien umsonst benutzen zu dürfen und endlich mal wieder auf andere Künstler zu treffen. Abseits von Politik, Bürokratie und integrativen Maßnahmen einfach wieder seiner Berufung und Leidenschaft nachgehen.
Die eigene Kreativität und der Austausch von Ideen stehen im Fokus des Abends
Interessiert ist er auch, als Sabah Kalash ihm Fotos von ihrer Kunst zeigt, sie hat sie extra mitgenommen um ihre Leidenschaft teilen zu können, denn in ihrem Familien- und Bekanntenkreis wird sie nicht als Künstlerin wahrgenommen: „Ich wollte einfach mal andere Künstler treffen, sich austauschen, hier ist es normal, kreativ zu sein, anders zu denken, was manche Leute manchmal als ein bisschen verrückt empfinden.“
Mittlerweile ist es voll geworden im Atelier: Man muss manchmal über den ein oder anderen Künstler samt Material und Werk klettern. „Ein bißchen wie das ‚Krakel Debakel‘ im Nordpol, nur noch kuscheliger“ kommentiert dies eine Gruppe junger Dortmunder, die grade reingekommen sind, sich mit einem Kaffee stärken und sogleich daran gehen, sich Materialien für ihr Kunstwerk auszusuchen.
„Kollektiv Nord“ bietet Angebot abseits von konsumorientierten Kunst- und Kulturangeboten
Engagierte Projekte aus Eigeninitiative laufen gerade gut in Dortmunds Nordstadt: Der Rekorder und der Nordpol sind noch ganz jung und trotzdem schon Institutionen für Kreative, die selber machen wollen, anstatt sich nur von konsumorientierten Kunst- und Kulturangeboten berieseln zu lassen oder zu lauter Musik zu zappeln.
Das „Kollektiv Nord“ lockt das gleiche Publikum, hat aber zudem eine noch etwas weiter gespanntere Zielgruppe: von Armut betroffene, Flüchtlinge, Illegale, Junkies, Nachbarn, Kinder, Senioren. Sie alle können hier ohne Vorgabe an künstlerische Projekte und vollkommen gratis den Nachmittag oder Abend verbringen.
Design-Studentin Janina Trienekens verantwortet „Herbe Kunst“-Aktionen
Die Idee kam Janina als sie sich mit „Art Brut“ beschäftigte, übersetzt: „Rohe Kunst“ oder auch „Kunst der Außenseiter“.
Dieser Begriff entstand aus der Auseinandersetzung mit der Kunst von geistig Behinderten oder psychiatrisch erkrankten Menschen, heute bezieht die Bezeichnung nicht-normgebunde oder zielorientierte Malerei mit ein.
Janina ist es wichtig, dass ihr Projekt nicht pädagogisch, politisch oder integrativ motiviert ist. Es ging ihr einzig und allein darum, Raum zu geben, in denen Leute kreativ sein können. Sie gibt keine Themen vor oder belehrt.
Für sie ist Künstler, wer einfach loslegt. Auch an Medien will sie die Gäste nicht binden: Ton, Speckstein, Acryl, Kreide, Collage, Papiere, Pappen, Leinwände: Hier hat man die Möglichkeit, alles mal auszuprobieren.
Viele kommen regelmäßig zum Kunst-Ereignis in die Missundestraße
Studentin Sanja Spasovska kam extra aus Köln ins Atelier. Sie empfindet die Atmosphäre als motivierend, sich selber mal was zuzutrauen. Außerdem gebe es eine Dynamik, die Zuhause nicht entsteht.
Durch Gespräche mit anderen Gästen und den Kunstwerken anderer Kreativer können sich neue Richtungen entwickeln, in die man denken und arbeiten kann. Künstler Johannes Lührs, selber Nordstädter, sieht das ähnlich und freut sich an diesem „Experimentierraum“ in dem man so frei und ungebunden arbeiten kann. Besonders einladend: die Wohnzimmer-Atmosphäre. Die Lichter, die draußen bunt auf den Bordstein fallen. Anders als im U-Turm. Da sei es eher steril.
Die Gäste, die zur Stammkundschaft im Kollektiv zählen, wundern sich, dass Raif nicht da ist. Er war von Anfang an dabei, war sehr schüchtern, sprach kein deutsch, aber durch die Kunst, Mimik und Gestik näherte man sich an, bis man sich vertraut war und viel zusammen lachte. Er begann in einer Ecke sitzend mit schlichten Skizzen auf weißen Papier, bei seinem letzten Besuch traute er sich dann und stand er an einer großen Leinwand mitten im Raum und malte ein Landschaftsbild, das seine Heimat zeigt.
Auch die ganz Schüchternen kommen schnell und ungezwungen ins Gespräch
Oder Mark, ein Ex-Junkie, er hat in seinem Entzug zu malen angefangen und seine Freude daran entdeckt. Nach der Therapie war ihm aber der Zugang zur Kunst verschlossen: Die Materialien für ihn zu teuer, Kulturangebote oft versnobt.
Ihm fällt es schwer, ruhig zu bleiben, wenn es voll wird im Atelier. Janina schenkt ihm ein Skizzenbuch und Stifte, für Zuhause.
Dass es im Atelier, dank so guten Zulauf, manchmal etwas eng wird, ist der Atmosphäre und dem Arbeiten nicht hinderlich, im Gegenteil, man teilt sich einen Malkasten, benutzt eine Schere und schon kommen auch die ganz Schüchternen schnell und ungezwungen ins Gespräch.
Johannes und Alexandra sitzen zum Beispiel nebeneinander auf dem Boden, sie zeigt sich interessiert an seinen Porträts. Anstatt lange zu erklären, lädt er sie ein, einfach zusammen zu malen.
Das Ergebnis kann sich sehen lassen, beide sind überzeugt von ihrer Arbeit und suchen einen Platz an der Wand, wo sie ihr gemeinsam gemaltes Bild aufhängen.
Bunt leuchtendes „Wohnzimmer“ lockt viele Kinder von Zuwanderern an
Zwischendurch sieht man, trotz deutlich vorgerückter Stunde, immer mal ein neugieriges Kindergesicht an der Ladenlokalscheibe. Doch Janina hat ihre Gründe, die letzten Veranstaltungen abends und nur für Erwachsene anzubieten.
Deswegen bleibt sie streng, die Kinder gehörten zu der Zeit sowieso ins Bett und nicht auf die Straße. Ihre Erfahrungen der letzten Monate haben sie noch sensibler gemacht, für die Probleme der Nordstadt. Einige der Kinder sind zehn Jahre alt, können weder den Stift halten, noch ihren Namen schreiben, gehen nicht zur Schule und sprechen kein Deutsch. Dafür ausgezeichnet Französisch und Spanisch. Geflohen aus Rumänien sind die von Frankreich über Spanien nach Deutschland gekommen.
Probleme der Nordstadt bringen Initiatorin an ihre Grenzen
Sie sind wissbegierig, man merkt wie dankbar sie sind, für Janinas Offenheit und diesen Raum. Sie lernen schnell und geben sich Mühe, mit den anderen Gästen zu sprechen. Doch es ist auch schwierig: ein Kind ist sichtbar krank, ein anderes meint es gar nicht böse, als es auf den Boden spuckt. Eine Frau kommt schnell in den Laden, setzt ein dreijähriges Kind auf den Boden und ist flugs wieder verschwunden.
Situationen wie diese sind es, die Janina an ihre Grenzen bringen. Jedoch: reibungslos verläuft das gemeinsame Gestalten. Im Austausch mit ihrem „Stammgästen“ und engsten Freunden wird sich Janina klar: so kleine Kinder, und so viel Verantwortung, dafür hat sie nicht die nötige (pädagogische oder psychologische) Ausbildung und Mittel. Das Risiko ist zu groß. Bleibt zu hoffen, dass es bald ähnliche Aktionen häufiger und spezieller auch auf die kleinsten Nordstädter angepasst geben wird.
Wichtig: zu offiziell darf es nicht wirken, dann haben die Illegal hier lebenden Kinder Angst, zu kommen. Und grade die brauchen eine Anlauf- und Förderungsstelle. Ähnlich diesem bunt leuchtenden „Wohnzimmer“. Doch am Ende des Jahres gehen die Lichter aus in der in der Missundestraße acht. Dann laufen die Fördergelder aus. Drei Jahre lang waren hier Studenten der Dortmunder FH vertreten, boten Kulturveranstaltungen an, unterstützt durch die Wirtschaftsförderung DO, der Sparkasse und der Julius Ewald Stiftung.
Ein Gefühl das bleibt ist: im Kollektiv war man weniger Student, Junkie, Senior oder Einwanderer, man war Nordstädter mit Lust auf Kreatives. Mit diesem Gefühl und mit vielen neu gefundenen Freunden wollen die sechs Studenten, die grade noch das Kollektiv bevölkern, die letzten Monate kräftig ausnutzen, und noch einige originelle Veranstaltungen anbieten.
Förderung läuft zum Ende des Jahres aus. Letzter „Herber Abend“ am Freitag
Der nächste und letzte „Herbe Abend“ findet am Freitag, den 22. August, ab 20 Uhr in der Missundestraße 8 statt. Kommen kann, wer will, an diesem Abend ist jeder ein bisschen Nordstadt.
Wer sich informieren will, der möge die Kollektiv-Facebook Seite besuchen. Dort findet man auch Fotos der verschiedenen Sessions und kann mit Janina Trienekens in Kontakt treten.
Info: Kollektiv Nord