Die Frage, wer denn Ulrike Mandrake ist, stellt sich der Dortmunder Kunstverein. Seit der Ausstellungseröffnung von Exponaten des französischen Multimedia-Künstlers Nils Alix-Tabeling (wie man spricht) können Besucher:innen in eine Welt eintauchen, die vielmehr erfahren als in Worte gefasst werden will.
Kunst, die Geister der Vergangenheit beschwört
In der neuen Ausstellung im Dortmunder Kunstverein am U wirft der Künstler Nils Alix-Tabeling einen kritischen Blick auf die Geschichte sozialer Gerechtigkeit an der Schnittstelle von Spiritualität und Wirklichkeit. Dabei gewinnt die Betrachterin schnell den Eindruck, dass Kunst im 21. Jahrhundert vor allem Antworten geben will, indem die Geister der Vergangenheit beschwört und Bewusstsein für Ambivalenzen geschaffen wird.
Die Vielseitigkeit der bildhauerischen, malerischen, akustischen und performativen Werke dieser Ausstellung speist sich aus einem teils symbolreichen, teils metatextuellen visuellen Vokabular des Künstlers. Alix-Tabeling ist ein performativer Tausendsassa, dessen Kunst inspiriert scheint von der fantastischen Science-Fiction-Welt eines Guillermo del Toro, von göttlichen Heilenergien des Schamanismus und dem Gedächtnis historischer Figuren.
Die Wurzel des Bösen ist verstörend und schön
Dies spiegelt bereits der Titel der Ausstellung. But Who Is Ulrike Mandrake? reflektiert das Erbe zivilen Ungehorsams. Der Name der titelgebenden fiktiven Figur suggeriert eine semantische Verbindung zwischen der Journalistin und RAF-Terroristin Ulrike Meinhoff (1934-1976) und der giftigen Heil- und Ritualpflanze Alraune (engl. ‚mandrake‘), die optisch an Menschengestalten erinnert. Der Titel verweist auch auf das menschliche Streben mithilfe der Wissenschaft die Wurzel des Bösen auszumachen.
Sein Umgang mit rebellischen Körpern zieht sich thematisch durch Ausstellung und Materialschau. Skulpturen wie „Bandwurm, erlegt von Ulrike Mandrakes Pfeil“ oder das alraunenartige Zitzenwesen mit Sommerhut namens „Hiatushernie“ machen Alix-Tabelings Experimentierfreude und Faszination für morbide Ästhetik deutlich.
Er komponiert Pappmaché und Holz, Epoxidharz und Stahl, Ziegeninnereien und Horn und fügt hier noch ein paar Kräuter und da noch ein paar Kettenelemente zu – fertig ist ein verstörend schönes Statement zu patriarchaler Gewalt gegenüber weiblichen und queeren Körpern.
Das Gehirn ist Festung der Einsamkeit und wie „backobst“
„das gefühl, das gehirn schrumpelt einem allmählich zusammen, wie backobst“ ist ein Zitat aus einem weiteren zentralen Highlight der Ausstellung. In enthierarchisierter Form beschreibt Ulrike Meinhoff so ihren Zustand während der 238 Tage langen Isolationshaft in Köln Ossendorf. Das Zitat ist aus dem Begleitheft zur Soundinstallation „U-R: Gefängnisgespräch“ entnommen, in der das menschliche Gehirn als Festung der Einsamkeit die Hauptrolle spielt.
Zuhörer:innen nehmen dazu Platz auf gefilzten Gehirnkissen und lauschen den geisterhaften Berichten von RAF-Terroristin Ulrike Meinhoff und der marxistischen Aktivistin Rosa Luxemburg (1871-1919) während ihrer Zeit im Gefängnis in den Jahren 1974/1904-1918. Die auditive Textcollage beinhaltet originale Schriftstücke zweier Schlüsselfiguren des zivilen Ungehorsams, deren Ein- und Innensichten Alix-Tabeling zu einem berührenden Dialog verbindet.
Operette mit Schlafdämon und RAF-Doku – Attraktives Begleitprogramm
Traditionell glänzen die Ausstellungen im Dortmunder Kunstverein immer auch durch ihr abwechslungsreiches Begleitprogramm. So zum Beispiel am 5. August 2023, ein Samstag, an dem But who is Ulrike Mandrake? zu einem Performanceabend ausgeweitet wird. In Form einer Operette inszeniert der Künstler Alix-Tabeling einen Dialog zwischen einem Schlafdämon – auch als Nachtmahr bekannt –, und einer Frauenfigur, deren biografische und charakterliche Unangepasstheit an Ulrike Meinhoff, Rosa Luxemburg und die Surrealistin Unica Zürn erinnert.
Am 17. August 2023 können Interessierte nicht nur am Themen-Filmabend mit RAF-Doku im U-Kino teilnehmen, sondern haben ebenso noch einmal die Gelegenheit bei einer Führung mit Kuratorin Rebekka Seubert im Dortmunder Kunstverein dabei zu sein.
Nils Alix-Tabeling studierte Bildende Kunst an der Akademie La Cambre, Brüssel und am Royal College of Art, London. Die Werke des 1991 geborenen Franzosen wurden bereits international ausgestellt, z.B. im Palazzo Bollani, Venedig (2022), im Palais de Tokyo, Paris (2019) und im Kaunstraum, London (2019). Der Kunstverein präsentiert seine erste institutionelle Ausstellung in Deutschland.
Die Ausstellung geht bis zum 10. September 2023. Weitere Termine, Events und Informationen finden sich auf der Homepage des Dortmunder Kunstvereins. Der Eintritt zur Ausstellung und zu allen Veranstaltungen ist frei.