Gemeinsam mit Angehörigen und dem Künstler Gunter Demnig wurden am 6. Juni 2023 insgesamt 23 neue Stolpersteine an sechs verschiedenen Orten in Dortmund verlegt. Gleichzeitig startete die Ausstellung „Ausgewiesen! 28. Oktober 1938 – Die Geschichte der »Polenaktion«“ in der Dortmunder Steinwache, die unter anderem das Schicksal der Dortmunder Familie Reich aufgreift. Ihre Nachfahren aus Großbritannien besuchten im Anschluss an das Verlegen der Stolpersteine die neue Wanderausstellung im ehemaligen Gestapo-Gefängnis.
Aktives Erinnern mithilfe von Stolpersteinen des Künstlers Gunter Demnig
Vor 30 Jahren entwickelte der Künstler Gunter Demnig das Projekt der Stolpersteine, denn er findet: „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.“ In die Messingplatte an der Oberseite der Steine werden Name, Geburtsjahr und Daten zur Deportation und Ermordung eingraviert. Die Stolpersteine liegen auf den Gehwegen vor den letzten Aufenthaltsorten von Jüd:innen.
Mittlerweile liegen in über 1.200 Orten in Deutschland Stolpersteine, ebenso wie in über zwanzig weiteren europäischen Ländern. Insgesamt wurden bereits knapp 100.000 Stolpersteine verlegt, wobei es in Dortmund nun 370 Stolpersteine gibt.
Die Verlegungen werden hier von der Arbeitsstelle „Zukunft braucht Erinnerung“ des Jugendrings Dortmund mit der Unterstützung des Stadtarchivs Dortmund koordiniert.
Gruppen oder Einzelpersonen, die auch die Patenschaft für den Stolperstein übernehmen, können sich mit der Idee eines neuen Stolpersteins an den Jugendring wenden.
Dieser unterstützt die Pat:innen bei der Recherche für neue Stolpersteine mit dem Dortmunder Stadtarchiv. Die Finanzierung der Stolpersteine und die Organisation der Verlegungen übernehmen die Stolpersteinpat:innen.
Die Familie Reich: Ausgewiesen im Rahmen der ersten Polenaktion
Das polnisch-jüdische Ehepaar Markus und Regina Reich wohnte seit 1921 mit seinen drei Kindern Benjamin, Helena und Joachim und der Großmutter Ida in der Leopoldstraße 12 im Dortmunder Norden. Zuhause sprachen sie Jiddisch, Mutter Regina kochte am Shabbat für bedürftige Menschen. Markus Reich war Textilhändler und besetzte in einer kleinen chassidischen Gemeinde den Posten des Gabbais (Gemeindediener). Sonntags nahm er seine Kinder häufig mit ins Gelsenkirchener Fußballstadion.
In der Nacht zum 28. Oktober 1938 wurden die Eltern Markus und Regina, die Großmutter Ida und die beiden jüngeren Geschwister Helena und Joachim von der Polizei geweckt und umgehend verhaftet. Ihre Wohnung wurde versiegelt, die Familie durfte nur das Nötigste mitnehmen. Gemeinsam mit 600 weiteren Dortmunder Jüd:innen wurde die Familie im Rahmen der „Polenaktion“ in die polnische Stadt Zbąszyń gebracht.
Der älteste Sohn Benjamin befand sich zur Zeit der Ausweisung in Frankfurt am Main. Er entfloh der Ausweisung nach Polen aktiv und kehrte mittellos nach Dortmund zurück. Hier erlebte er auch die Novemberpogrome. Der 16-Jährige versteckte sich nachts in einem Kohlenkeller und emigrierte 1939 nach Liverpool.
Dort angekommen versuchte er seine Geschwister nachzuholen, die für neun Monate gemeinsam mit den Eltern in Zbąszyń blieben. Mit der Unterstützung der Hilfsorganisation „Polish Jewish Refugee Fund“ gelang es Helena und Joachim am 25. August 1939 nach London zu reisen.
Die Eltern Markus und Regina Reich reisten kurz vor Kriegsbeginn ins Landesinnere Polens. Sie hielten Briefkontakt mit ihren Kindern in Großbritannien. Im Jahr 1942 erreichten die zwei letzten Briefe ihrer Eltern die Kinder. Wie das Ehepaar Reich ermordet wurde, ist bis heute unklar, ebenso das Schicksal der Großmutter.
Todesumstände bis heute ungeklärt: Angehörige freuen sich über einen Ort des Gedenkens
Joachim Reichs Söhne Alan Reich und Martin Reich aus Großbritannien weihten gemeinsam mit dem Stolperstein-Künstler Gunter Demnig und dem Dortmunder Rabbiner Avigdor Nosikov die Stolpersteine in Erinnerung an ihre (Ur-) Großeltern und ihre Eltern ein.
Alan Reich wünscht sich nach wie vor, besser nachvollziehen zu können, was seinen Vorfahren in Dortmund zur Zeit des Nationalsozialismus widerfuhr: „Viele jüdische Familien sind durch die Taten der Nationalsozialisten zerstört worden und ich persönlich bleibe mit mehr Fragen als Antworten zurück. Ich möchte mehr wissen über das Leben, das meine Familie hier in Dortmund hatte – um zu verstehen, was vor den brutalen Deportationen kam und was passierte, bevor mein Vater und seine beiden Geschwister zu Geflüchteten in England wurden.“
Anschließend besuchten die Brüder mit ihren Familien die Mahn- und Gedenkstätte Steinwache und die neu eröffnete Wanderausttellung „Ausgewiesen! 28. Oktober 1938 – Die Geschichte der »Polenaktion«“, die bis zum 30. September 2023 die Polenaktion und das Schicksal der Familie Reich thematisiert. Die Ausstellung ist – ebenso wie die Dauerausstellung – kostenfrei und von dienstags bis sonntags von 10 bis 17Uhr geöffnet.
Die Polenaktion war eine von der NS-Regierung arkribisch geplante Massenaktion, bei der 1938 rund 17.000 polnische Jüd:innen aus dem gesamten Deutschen Reich zur polnischen Grenze geschafft und aus Deutschland getrieben wurden. Ausgewiesen, aufgrund ihrer polnischen Staatsangehörigkeit und ihrem jüdischen Hintergrund, fanden sie sich in einem – mindestens für die in Deutschland geborenen Kinder – gänzlich fremden Land wieder.
Bei der Polenaktion – der „Deportation vor der Deportation“ – handelte es sich um den organisatorischen Vorlauf des Holocausts, der systematischen, europaweiten Verfolgung und Vernichtung von Jüd:innen durch das Nazi-Regime. „Die ,Polenaktion’ ist ein Ereignis, das durch die später erfolgten Geschehnisse nahezu in Vergessenheit geraten ist. Doch ist die ‘Polenaktion’ ein wesentlicher Teil des Ganzen – sie kann als eine Art Generalprobe für das verstanden werden, was folgte; koordinierte Festnahmen und Deportationszüge nach Polen“, ordnet Nachfahre Alan Reich die Massenausweisungen von 1938 ein.
Husener und Nachfahren aus den USA, Israel und der Schweiz gedenken Bertha Wolf
Bertha Wolf wurde 1879 in Dortmund-Husen geboren und lebte in der Husener Straße 85. Sie war Textilhändlerin und betrieb ab 1918 ein Manufakturwarengeschäft in ihrem Wohnhaus. In der Reichsprogromnacht am 9. November 1938 wurden Bertha Wolf und ihr Geschäft überfallen.
Als Reaktion auf die Novemberprogrome verkaufte Bertha Wolf ihren Eigentum und ihr Geschäft. Bertha Wolf wurde am 30. April 1942 in das Ghetto Zamość in Polen deportiert. Sie wurde dort ermordet. Der Todeszeitpunkt und die Todesumstände sind bis heute ungeklärt. Ihre sechs Geschwister und viele ihrer Neffen und Nichten überlebten den Holocaust.
„Finding Bertha“ hieß die Ausstellung, die an der Husener Hauptschule vor der Stolpersteinverlegung für die Jüdin Bertha Wolf veröffentlicht wurde. Unter der Leitung des Geschichtslehrers Haydar Arpalik und mit der Unterstützung der Diplom-Kulturpädagogin Claudia Müller hatte eine Projektgruppe aus engagierten Schüler:innen und Lehrer:innen die Lebensgeschichte Bertha Wolfs recherchiert und in eine Art „inneres Museum“ geformt.
Grundlage ihrer Recherchen war das „Glasbuch“, das die Israel AG der Schule bereits 1997 mit dem Künstler Marcus Kiel erstellt hatte. Das Buch dokumentiert die Schicksale jüdischer Menschen aus Dortmund-Husen.
Besonders interessant für die Teilnehmenden des Projekts war die Anwesenheit der Angehörigen aus den USA, Israel und der Schweiz, die Reden auf Englisch und Hebräisch hielten. Der US-amerikanische Rabbiner Bruce Elder aus Chicago weihte den Stolperstein mit einem jüdischen Gebet, nachdem der Stolperstein-Künstler Gunter Demnig ihn verlegt hatte. Musikalisch begleitet wurde das Verlegen der Stolpersteine von Musiker:innen der Musikschule Dortmund.
Erinnerungskultur zum Greifen nah: 23 neue Stolpersteine für Dortmund
Darüber hinaus erinnern an vier weiteren Orten 17 Stolpersteine an jüdische Familien, die Opfer des Nationalsozialismus wurden. Am Schwanenwall 46 erinnern vier Stolpersteine an die Familie Rosenfeld.
Richard Rosenfeld und seine Ehefrau Rosa Minna Rosenfeld zogen bereits 1936 nach Düsseldorf, wurden 1941 ins Minsker Ghetto deportiert und am 28. Juli 1942 ermordet. Ihr Sohn Hans und ihre Tochter Ruth flohen 1939 nach Großbritannien. Hans war Soldat in der britischen Armee. Er fiel am 23. September 1944 in Arnheim in den Niederlanden.
An der Rheinischen Straße 51 erinnern vier Stolpersteine an die Familie Rosenbaum, die im Zuge der Polenaktion 1938 nach Zbąszyń in Polen ausgewiesen wurden. Leo Rosenbaum, seine Frau Paula Rosenbaum und ihr Sohn Friedrich wurden im besetzten Polen ermordet. Ihrem ältesten Sohn Salomon gelang die Flucht nach Palästina.
An der großen Heimstraße 120 erinnern fünf Stolpersteine an die Familie Middel. Heinrich Middel heiratete Martha Rosenbaum. Für die Ehe mit einer jüdischen Frau wurde er ausgegrenzt und drangsaliert. Seine Frau Martha Middel wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert und am 2. November 1942 ermordet.
Ihre drei Kinder wurden allesamt entrechtet und gedemütigt. Der älteste Sohn Albert musste ab 1944 Zwangsarbeit im Arbeitslager Elben leisten, das später befreit wurde. Seine Schwester Bernhardine floh 1944 in die Niederlande und versteckte sich dort. Sie überlebte. Ihr jüngster Bruder Heinz überlebte ebenfalls.
An der Wenkerstraße 12 erinnern vier Stolpersteine an die Familie Grünewald. Die gesamte Familie wurde 1942 ins Rigaer Ghetto deportiert. Max Grünewald wurde dort ermordet. Seine Frau Hildegard Grünewald und ihre Tochter Ruth wurden ins Konzentrationslager Riga-Strasdenhof deportiert und am 15. Juli 1944 ermordet. Ihre Tochter Hanna Emma wurde 1943 zunächst in das Konzentrationslager Riga-Kaiserwald deportiert und anschließend 1944 im Konzentrationslager Stutthof ermordet.
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Erinnern-inklusiv: Menschen mit Behinderung als Akteure der Erinnerungskultur (PM)
Menschen mit Behinderung als Akteure der Erinnerungskultur stehen im Mittelpunkt beim nächsten Online-Meeting im Rahmen des Projekts „Erinnern-inklusiv“ am Donnerstag, 15. Juni 2023, von 17 bis 19 Uhr. Anmeldungen sind ab sofort möglich.
Referent ist diesmal Robert Parzer. Der Historiker arbeitet bei der Stiftung Denkmal für die er- mordeten Juden Europas an der Konzeption eines Denkmals für die polnischen Opfer des Zweiten Weltkrieges. Seit einigen Jahren beschäftigt er sich wissenschaftlich und publizistisch mit den „Euthanasie“-Morden der Nationalsozialisten. Er betreut die Webseite http://www.gedenkort- t4.eu, auf der laufend Biographien von Orten und Beschreibungen von Orten veröffentlicht werden, an denen in der NS-Zeit Verbrechen verübt wurden.
Er wird die Teilnehmenden für die Frage sensibilisieren, welche Rolle die traumatische Ver- gangenheit für die Emanzipation von Angehörigen marginalisierter Gruppen spielt. Während für viele Juden die Erinnerung an den Holocaust identitätsstiftend ist, nimmt die Erinnerungs- kultur erst langsam Notiz vom potenziellen Gedenkbewusstsein von Menschen mit Behinde- rungen gegenüber der NS-Vernichtungslogik. Was Menschen mit Behinderung den Zugang zur Erinnerung an NS-Unrecht verstellt und welche Rolle die Auseinandersetzung mit der „Ak- tion T4“ für Behindertenrechtsaktivisten spielte, sind Fragen, denen Robert Parzer in seinem Impulsvortrag nachgeht.
Das Online-Meeting am Donnerstag, 15. Juni 2023, von 17 bis 19 Uhr ist offen für alle Interes- sierten und wird simultan übersetzt in die polnische Sprache sowie in die deutsche und polni- sche Gebärdensprache. Die Teilnahme ist dank EU-Förderung unentgeltlich. Den Link zur Anmeldung finden Sie hier: https://t1p.de/m7lrc.
Das deutsch-polnische Partnerschaftsprojekt „Erinnern-inklusiv“ organisiert die IBB gGmbH in Dortmund gemeinsam mit dem Museum Stutthof in Polen und dem Verein Schwarzenberg e.V. in Berlin. Das Projekt wird im Rahmen des EU-Programms „Bürger, Gleichberechtigung, Rech- te und Werte“ gefördert.
Weitere Informationen unter http://www.ibb-d.de.