In der vergangenen Woche waren Claudia Roth, Bundestagsvizepräsidentin, und Markus Kurth, Mitglied des Bundestages und Experte für Sozialpolitik, in Dortmund. Die beiden Politiker*innen von Bündnis 90/Die Grünen besuchten das BVB-Fanprojekt in der Dudenstraße, um über „soziale Verantwortung“ im Sport zu diskutieren. Der Wahlkampf beginnt – und Nordstadtblogger nutzte die Gelegenheit für ein Hintergrundgespräch.
Politik anders denken: Von der Unhintergehbarkeit eines Paradigmenwechsels
Nordstadtblogger: Im Vorfeld hatten wir uns überlegt: Wie stellt man jetzt sinnvoll Fragen mit einem Bezug auf Dortmund, die man aus Berlin beantworten kann?
Claudia Roth (lächelt): Ich antworte halt oder auch nicht …
Nordstadtblogger: Es spiegelt sich ja einiges. Hier in Dortmund, das ist ja nicht der Hort der Glückseligen. Ich würde zunächst gern aus dem Dreieck Ökologie, Ökonomie, Soziales fragen. Das anhand zwei verschiedener Themen.
Das eine wird in Dortmund gerade häufig diskutiert: die Innenstädte – zumindest – autofreier zu machen. Da geht es unter anderem um den Umbau des Walls, wo gerade nur Autos herumfahren, zu einem Radwall.
Es gibt da verschiedene Planentwürfe. Wie dem auch sei: Fakt ist wohl offenbar, dass eine Verkehrswende nur zulasten des motorisierten Individualverkehrs gehen kann. Dann gibt es von bestimmter Seite Einwände, dergestalt: „Ja, wenn die Autos nicht mehr in die Innenstadt können …!“ Also: Standortlogik und so weiter. Was sagen Sie dazu? ___STEADY_PAYWALL___
Claudia Roth: Das ist eine alte Geschichte. Erstens wäre es gut, wenn wir eine Verkehrspolitik hätten in unserem Land, die nicht nur autofixiert ist. Ich komme vom Land, aus dem Schwäbischen. Ich weiß, wenn Du da kein Auto hast, dann bist Du verratzt. Es geht nicht darum, Autos abzuschaffen oder zu verbieten, überhaupt nicht. Aber sehr viele Menschen in unserem Land haben kein Auto oder wollen kein Auto mehr, sondern eine andere Mobilität. Auf die muss man auch mal zugehen, sie ins Visier, in den Fokus nehmen und Angebote machen.
Übrigens hat gerade die Covid-Pandemie in vielen Städten europaweit dazu geführt, dass ein anderer Verkehr ausgebaut worden ist, mit einer besseren Infrastruktur für den Fahrradverkehr zum Beispiel. Das ist das eine: die Verbreitung der Einsicht, dass Mobilität mehr ist als das Auto.
Und das Auto mit der alten Technologie, da führt kein Weg dran vorbei, die Zeit der Verbrenner, sie ist vorbei. Öl, Gas, Kohle, das ist letztes Jahrhundert. Wir müssen in eine neue Zeit rein gehen. Das heißt, auch das Auto der Zukunft – eigentlich schon der Gegenwart – sieht anders aus als das klassische Verbrenner-Auto.
Zweitens: Diese Debatte, die kenne ich aus so vielen Städten. Dass gesagt wird: „Dann bricht uns ja der Einzelhandel und die Gastronomie weg, dann kommt niemand mehr.“ Tatsache ist, dass in Städten – ich weiß das am Beispiel Aachen – in denen es ausprobiert wurde, genau das Gegenteil passiert ist. Dort sagen die Einzelhändler:
„Die Leute sind nicht mehr so gestresst, die suchen keinen Parkplatz mehr, die kommen anders hin.“ Dann brauchst Du natürlich andere Angebote, Du brauchst barrierefreie öffentliche Verkehrsmittel, Busse, Shuttles, gute Rad- und Fußwege, also ein kreatives System. Es sind ja jetzt nicht alle so mobil …
Nordstadtblogger: … man kann die Städte attraktiver gestalten …
Claudia Roth: … man kann die Städte viel, viel attraktiver gestalten. Ich komme ja aus Augsburg. Die wichtige große Straße, die Maximilianstraße, die wird wegen COVID zum Beispiel am Wochenende gesperrt. Es gibt endlich Platz für Bewegung, für Gemeinschaft und Begegnung – und die Gastronomie ist zufrieden, die Einzelhändler sind zufrieden, die Leute auch. Man läuft anders, man begegnet sich anders, es hat was, der Stress geht nach unten. Und ich glaube, wegen der Zukunft der Innenstädte und aus ökologischen Gründen: Da muss die Verkehrspolitik ihren Beitrag leisten.
Und das ist nicht alles. Ich war gestern in Gelsenkirchen. Dort haben sie ein Riesenproblem, weil ganz viel zubetoniert ist, da ist so eine Hitze, dass sie sich fragen: „Wie kriegen wir das runter, wie kriegen wir Abkühlung in die Stadt.“ Mehr Stadtgrün, weniger Flächenversiegelung – wir müssen unsere Städte ganz anders entwickeln. Eine attraktive Innenstadtpolitik ist zentral wichtig. Und in Dortmund, in der Fußgängerzone …
Nordstadtblogger: … Brückstraße …
Claudia Roth: Ne, nicht die Brückstraße.
Nordstadtblogger: Osten …
Claudia Roth: Hellweg! Es ist ja nicht so, dass da erst seit einem Jahr keine Autos mehr fahren. Und da gab es auch früher schon gute Geschäfte. Es muss eben ein Mix sein aus Verkehrspolitik, Stadtentwicklung, Grünflächen… Und auch bei der Mobilität. Hier muss man Angebote machen, auf die man sich verlassen kann, die funktionieren, die bezahlbar sind …
Nordstadtblogger: … ÖPNV …
Claudia Roth: … wo man sich anguckt: Wer kann sich den leisten und wer nicht? Für wen muss ich Preise reduzieren, für wen mache ich es kostenlos?
Soziale Fragen im Zusammenhang mit einer neuen ökologischen Politik
Nordstadtblogger: Kommen wir dann doch einmal auf diese sozialen Aspekte; zweiter Themenkomplex, angelagert an einen ökologischen Wandel: Geht Hartz IV im Bioladen?
Claudia Roth: Hartz IV wollen wir überwinden. Denn bei der Losung „Fordern und Fördern“, da ist das Fördern über die Zeit weggefallen. Wir wollen, dass die Agenturen echte Arbeitsagenturen werden und nicht die Verwaltung von Elend und von Arbeitslosigkeit.
Wir wollen den Regelsatz erhöhen. Und wir wollen eine Kindergrundsicherung, die nicht angerechnet wird. Das verrückte bei Hartz IV ist ja, dass ganz viel angerechnet wird, sodass die Betroffenen dieses Mehr am Ende gar nicht erreicht. Wir wollen raus aus dieser abwertenden und demütigenden Spirale.
Nordstadtblogger: Wollen Sie die Sanktionen ganz abschaffen?
Claudia Roth: Ja.
Nordstadtblogger: Also eine Art Grundsicherung?
Claudia Roth: Wir reformieren die Grundsicherung umfassend zur Garantiesicherung, die verlässlich vor Armut schützt – und zwar auf Augenhöhe, ohne Stigmatisierung und Sanktionen.
Nordstadtblogger: Wie wollen sie das im Weiteren abfedern? Wenn Leute ALG II beziehen, sind sie ja relativ schlecht gestellt und eine ökologische Wende, eine Klimawende, hat ja vielfältige Konsequenzen. Sie impliziert etwa ein Ende der Massentierhaltung, Fleisch würde teurer …
Claudia Roth: Das kommt ja ganz oft, dass gesagt wird: „Die Grünen, die können das leicht sagen, aber Klimaschutz muss man sich leisten können!“– Es darf natürlich nicht eine Frage vom Geldbeutel sein. Sondern wir brauchen insgesamt eine Umverteilung in unserer Gesellschaft. Eine Umverteilung, damit es nicht so weiter geht, wie wir es bei COVID erlebt haben. Die Reichen sind immer reicher geworden, alle anderen ärmer.
Wir wollen zum Beispiel die Einnahmen, die durch den nationalen CO2-Preis entstehen, direkt eins zu eins an die Bürger*innen zurückgeben. Und zwar an jeden einzelnen, durch ein transparentes Energiegeld. Also wenn eine Familie fünf Personen hat, zwei Eltern, drei Kinder, kriegt jeder etwas zurück. Auch die Familien, die viel Energie verbrauchen.
Insgesamt ist das also eine Entlastung. Jetzt ist es ja so, dass finanziell Benachteiligte viel weniger an Energie verbrauchen als die Reicheren, die Wohlhabenderen. Wer mehr Energie verbraucht, muss mit unserem Modell auch tatsächlich mehr Energie bezahlen, aber die anderen werden entlastet. So wird klimafreundliches Verhalten belohnt und es findet ein sozialer Ausgleich im System statt.
Das ist eine Form von Rückgabe, dieses Energiegeld, und auch eine Form von Umverteilung. Aber abgesehen davon: Wir brauchen einen höheren Mindestlohn. Diese 9,50 Euro, das reicht ja vorne und hinten nicht.
Nordstadtblogger: Zwölf Euro?
Claudia Roth: Wir sagen jetzt zwölf, zusammen mit den Gewerkschaften. Ich könnte sagen: „Wir wollen 14 oder 15“ oder sonst was. Aber es muss ja realitätsnah sein, mit einem ersten Schritt von zwölf Euro. Damit wir eben tatsächlich eine Umverteilung hinbekommen. Damit diejenigen sich viel mehr am Gemeinwohl beteiligen, die es sich leisten können. Wir machen auch nicht das, was die Union verspricht: die sagt ja „Steuersenkung“. Wenn man sich das Programm von denen anguckt, dann profitieren aber nur die Besserverdienenden, die Wohlhabenden …
Nordstadtblogger: … Unternehmen im zweistelligen Milliardenbereich.
Claudia Roth: Wir wollen den Grundfreibetrag nach oben setzen, um kleine und mittlere Einkommen zu entlasten, und gleichzeitig für Spitzenverdiener*innen die Einkommenssteuer moderat anheben. Ziel ist, dass alle einen fairen Beitrag leisten. Und bei allen Klimamaßnahmen, etwa eine Hebamme, die sich kein Auto leisten kann, die aber eins braucht, da wollen wir einen Klimafonds auflegen, so dass sie sich ein E-Auto kaufen kann. – Dafür wollen wir aber das alte Dienstwagenprivileg abschaffen und das System neu gestalten. Also: Umverteilung.
Nordstadtblogger: Umverteilung einerseits, aber andererseits wird es ja auch ein bisschen was kosten. Wie soll’s denn finanziert werden?
Claudia Roth: Wir sagen nicht wie die Union: „Wir senken die Steuern. Wir wollen zwar ins Modernisierungszeitalter, wir wollen auch neue Investitionen“, aber sie sagen überhaupt nicht, wie sie es bezahlen wollen.
Das geht vorne und hinten nicht auf. Bislang tragen die obersten 10 Prozent der Einkommen über Steuern und Abgaben relativ weniger bei als die mittleren Einkommen. Wir wollen darum moderate Steuererhöhungen von Besserverdienenden, wir wollen Vermögen und Erbschaften tatsächlich mit in die Verantwortung nehmen, denn die haben ja schließlich auch was vom Gemeinwohl.
Dann wollen wir Steuerschlupflöcher, Steuerhinterziehung, Steuerflucht endlich mal ernsthaft angehen. Und klimaschädliche Subventionen überwinden. Unsere Expertinnen und Experten sagen, das sind ungefähr 15 Milliarden im Jahr, allein durch Begünstigungen für Autos und das Dienstwagenprivileg. Zudem wollen wir in der Schuldenbremse eine Investitionsregel einbauen. Denn diese schwarze Null, dieses Mantra, das geht aktuell tatsächlich immer zulasten von finanziell Benachteiligteren und zulasten vom Klimaschutz.
Nordstadtblogger: Da müsste das Grundgesetz für geändert werden, oder?
Claudia Roth: Wir wollen eine Investitionsregel einbauen, die sagt: Wir bleiben zwar bei dieser Idee, aber es muss auch Investitionen geben, zum Beispiel in Infrastruktur, sonst haben wir gar keine Zukunft. Die Überwindung von Ungleichheit fängt ja schon in der Schule an. Es ist doch irre:
Ich habe gestern mit einer Kandidatin von uns gesprochen, die an einer Schule in Duisburg arbeitet. Sie hat erzählt, dass mitnichten alle Kiddies ein Tablet oder einen Laptop haben. Das heißt, da muss es anfangen: Wir brauchen Investitionen in Schule, in Digitalisierung, in die Infrastruktur, die dem Gemeinwohl nützt. Dafür brauchen wir aber auch Geld.
Und alle, die sagen, jetzt senken wir sogar noch die Steuern, die sind ja nun wirklich unseriös. Herr Laschet hat im Sommerinterview gesagt: Steuersenkung „Nein“. Komischerweise steht’s aber im Programm seiner Partei drin. Also: Wat stimmt jetzt?
Deutsche Rüstungsexporte und ihre Bedingungen sollen gesetzlich festgelegt werden
Nordstadtblogger: Anderes Thema, auch immer wieder hier in Dortmund: Friedenspolitik, Atomwaffen, usf.. Da gab’s ja in ihrer Partei, wenn ich das recht in Erinnerung habe, leicht kontroverse Diskussionen, also beispielsweise um Waffenlieferungen …
Claudia Roth: Nö, gibt’s nicht …
Nordstadtblogger: … nö? Ukraine?
Claudia Roth: Ne, Robert Habeck hat sich dazu geäußert und hat von Waffen gesprochen; aber da ging es um das Räumen von Minen. Er hat von Defensivwaffen gesprochen, das war ganz klar …
Nordstadtblogger: … das muss man erst einmal wissen, nicht?
Claudia Roth: Es ging tatsächlich ums Minenräumen, um humanitäre Unterstützung, um gepanzerte Geräte, damit die nicht in die Luft gehen, so was. Aber keine Waffenlieferungen. Wir sagen nicht wie Die Linke: „Grundsätzlich keine Rüstungsexporte“. Das ist nicht durchsetzbar.
Eigentlich haben wir jetzt schon die restriktivsten Rüstungsexportrichtlinien weltweit. Die Betonung liegt auf „eigentlich“! Denn das stimmt nicht mit der Realität überein. Und deswegen muss ein Gesetz her, das festlegt: Wann und wohin können Rüstungsexporte gehen. Die können nicht in Krisenregionen gehen; Ukraine ist eine Krisenregion. In Kriegsregionen sowieso nicht. Und nicht in Länder, wo die Menschenrechte verletzt werden …
Nordstadtblogger: Saudi-Arabien …
Claudia Roth: … und nicht nur durch die Waffen, sondern wo sie insgesamt verletzt sind. Das würde schon einmal ausschließen: Türkei. Das gilt auch für NATO-Mitglieder. Sie können nicht gehen in autoritäre Länder, wie manche afrikanischen Staaten, wo so viel für Waffen ausgegeben wird, dass für wichtige Investitionen gar nichts mehr da ist …
Nordstadtblogger: … für soziale Belange.
Claudia Roth: Wir haben ganz gute Rüstungsexportrichtlinien; ich habe sie vor Jahren mit Rot-Grün mitverhandelt. Aber sie werden nicht eingehalten. Denn dann dürfte man nicht nach Saudi-Arabien, dann dürfte man auch nicht an einen Erdogan liefern, auch wenn die Türkei NATO-Mitglied ist. Deswegen wollen wir ein Rüstungsexportgesetz.
Und da es immer Kooperationsmodelle gibt, also bestimmte Rüstungsgüter beispielsweise gemeinsam aus Deutschland und aus Frankreich kommen, darum muss man eine solche Gesetzgebung natürlich europäisieren. Sonst wird die letzte Schraube in Frankreich eingedreht und dann ist das Gerät plötzlich ein französisches und die deutschen Regeln gelten nicht mehr.
„Ton Steine Scherben“: Das Zeitlose eines Klassikers
Nordstadtblogger: Mal eine ganz andere Frage: Ton Steine Scherben, hören Sie die noch manchmal?
Claudia Roth (lacht): Ja natürlich, dauernd. Vor kurzem war ein ganz großartiges Konzert, eines der ersten, das in Berlin überhaupt wieder stattfinden durfte. Eigentlich geplant im letzten Jahr, 50 Jahre Ton Steine Scherben. Jetzt hat es in diesem Jahr stattgefunden, mit der Family, auch mit Schauspielerinnen und Schauspielern, die mit aufgetreten sind.
Das Großartige an den Scherben und an Rio ist, dass diese Texte und diese Musik so zeitlos sind – dass sie immer noch stimmen. „Mein Name ist Mensch“ stimmt immer noch, wenn ich sehe, wie der Rassismus grassiert …
Nordstadtblogger: „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ … ?
Claudia Roth: … ja, es gibt so manche Dinge, die haben wir auch schon in meiner Scherben-Zeit nicht mehr gespielt. Die waren von 70, 71, da war das der Sound. Aber es gibt so unglaublich viel: „Der Traum ist aus, aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird“. Ich überlege mir vor jeder großen Rede immer erst: Was ist der Sound für diese Rede? Und überlege mir so eine Überschrift; da fällt mir immer ein Scherben-Stück ein.
Moralische Qualitäten in der Politik: Müssen Politiker*innen die besseren Menschen sein?
Nordstadtblogger: Noch eine abschließende Frage. Das geht so ein bisschen in die Richtung, was da jetzt in der letzten Zeit, ich will nicht sagen, an Kampagne, aber was da durch die Presse ging gegenüber ihrer Kandidatin für das höchste Amt im Staate. Sind Politikerinnen und Politiker makellos? Die können doch gar nicht makellos sein. Wäre es nicht viel sinnvoller, anzunehmen: Sie machen genauso Fehler wie wir alle auch und das muss nicht gleich sanktioniert werden? Was muss sich an diesem System ändern?
Claudia Roth (seufzt): Tja, Wahlkampf ist natürlich immer hart, das weiß ich. Bin ja schon lange genug dabei. Aber die Tatsache, dass jetzt Grüne zum ersten Mal so einen Anspruch erheben und in der ersten Liga spielen – das mobilisiert natürlich alle, die auf alles in der Welt vermeiden wollen, dass die Grünen in eine starke Position kommen. Und das sind viele.
Das sind die anderen Parteien, alle miteinander. Jede Partei sieht in den Grünen den Hauptgegner, was uns ja ehrt. Und da sind natürlich auch viele Medienhäuser unterwegs, klar, die aus einer bestimmten Ecke bestimmte Interessen mitverfolgen. Das gehört zum Spannungsverhältnis der Demokratie…
Nordstadtblogger: Was ist an meiner Politik denn schlecht, wenn ich in meinem Lebenslauf einen kleinen Fehler habe?
Claudia Roth: Was an Kriterien jetzt zum Teil angefordert wird, das hat mit dem realen Leben nur noch herzlich wenig zu tun. Das Ziel ist natürlich: Einschüchtern, Verunsichern, von Inhalten ablenken, auch ein Stück weit Rückzug. Das Schlimme ist ja, was dann in den sozialen Netzwerken passiert, an Hass und Hetze, an Bedrohung. Und wenn Dr. Schäuble sagt: „Frauen haben es nicht schwerer heutzutage“, da habe ich mir gedacht, ich muss meinem Kollegen Bundestagspräsidenten die letzten Emails, die bei mir angekommen sind, einfach mal zeigen; die sieht er nämlich erst einmal so nicht …
Nordstadtblogger: Klar, er ist ja auch keine Frau …
Claudia Roth: … deswegen haben Frauen noch einmal eine ganz andere Situation, da kommen auch immer noch diese sexualisierten Gewaltphantasien dazu, und das ist schon heftig. Aber Sie haben völlig recht: Mir sind Politikerinnen und Politiker eher suspekt, die so tun, als wären sie perfekt. Dann kannst Du nur stolpern, und zwar kräftig. Natürlich muss man sich an Regeln halten. Und wenn Du einen Fehler gemacht hast, dann ist es auch richtig, das zu sagen. Das wird jeder verstehen. Nicht rumschwurbeln, sondern sagen: „Blöd gelaufen!“
Natürlich kann man beim UNHCR nicht Mitglied sein. Das heißt, das war wirklich ein Fehler, da hat man nicht aufgepasst. Ihr dann aber zu unterstellen, sie wolle sich damit besonders wichtig machen, das ist einfach absurd. Aber so sind ’se (lacht).
Nordstadtblogger: Danke für das Interview!
[Irgendwann trifft Markus Kurth (MdB) im Hinterhof des Fan-Projekts Dortmund e.V. ein; Claudia Roth musste noch ein kurzes Video drehen, bevor es zum nachfolgenden Pressetermin ging.]
Claudia Roth: Hallo Markus! Markus, der kann Ihnen die ganzen sozialen Fragen beantworten, das ist einer der wichtigsten Sozialpolitiker im Bundestag.
Markus Kurth: Oh, danke, danke.
Nordstadtblogger: Aber wir haben keine Zeit mehr, oder?
Markus Kurth: Ein paar Minuten haben wir noch.
Eindimensionalität der Debatte um die Rente in der Bundesrepublik
Nordstadtblogger: Und wir auf alle Fälle noch eine Frage: Bei dieser ganzen Diskussion, wenn es um die Rente geht, da gibt es immer das Argument des demographischen Wandels und so weiter: Immer weniger müssen für immer mehr bezahlen, heißt es. Warum wird in dieser ganzen Diskussion der Gesichtspunkt, dass immer weniger immer mehr produzieren, also die Produktivitätssteigerung nicht gegengerechnet? Weil man es nicht rechnen kann? Weil es zu komplex ist?
Markus Kurth: Ich versuche jedenfalls immer darauf aufmerksam zu machen, dass es um das Niveau des gesellschaftlichen Wohlstands geht, den es zu verteilen gilt. Und dass das entscheidende Verhältnis nicht das zwischen Beitragszahlerinnen und -zahlern auf der einen Seite, zu Rentnerinnen und Rentnern andererseits ist. Das ist natürlich relevant und spielt eine Rolle.
Das Entscheidendere ist aber: Wie groß ist der Anteil, der vom Bruttoinlandsprodukt, also von der Wirtschaftsleistung des Landes, für Rente ausgegeben wird. Und da sehen wir, dass von 2003 an dieser Anteil von damals 11,8 Prozent runtergegangen ist bis 2017 auf ungefähr 9,5 Prozent.
Das heißt also: Wir geben heute für die Rente einen geringeren Anteil von unserem gesellschaftlichen Wohlstand aus, als wir das noch 2003 getan haben, obwohl es mehr Rentnerinnen und Rentner gibt. Daher heißt das auch: Der Anteil pro Rentner ist sogar noch stärker gesunken.
Nordstadtblogger: Ich krieg auch weniger Rente relativ zu dem, was ich vorher verdient habe …
Markus Kurth: Genau. Das zeigt mir, dass es um Verteilungsauseinandersetzungen geht und es auf jeden Fall Spielraum gibt, das Rentenniveau langfristig mindestens stabil zu halten. Ich meine sogar, dass man versuchen muss, es auch wieder anzuheben.
Nordstadtblogger: Ohne das Rentenalter heraufzusetzen …
Markus Kurth: Ohne das Rentenalter heraufzusetzen. Es gibt auch noch verschiedene andere Möglichkeiten. Der Steuerzuschuss ist zwar nicht unbegrenzt, aber da kann man etwas machen. Genauso ist der Beitragssatz durchaus noch mit Spielräumen nach oben versehen, insbesondere gemessen an den Lohnsteigerungen der vergangenen zehn Jahre.
Das geben sogar die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber zu. Qualifizierte Zuwanderung und vor allen Dingen auch Integration von Geflüchteten am Arbeitsmarkt – was gar nicht so schlecht läuft; das wissen viele nicht – das ist auch ein Faktor, der die Rentenversicherung stabil macht.
Dazu kommen eine höhere Frauenerwerbstätigkeit und Einbeziehung der Gruppen, also vor allen Dingen der Selbstständigen und der Abgeordneten als erstes. Wenn man das alles zusammen nimmt, dann hat man eine ausreichende Finanzierungsbasis. Es ist mir wichtig das zu betonen. Man dringt damit häufig leider nicht durch …
Nordstadtblogger: Es ist simplifizierend, was dort gemacht wird, oder? Man sagt, es gibt einen demographischen Wandel …
Markus Kurth: Es wird immer nur auf den demographischen Wandel verwiesen. Es ist alles sehr interessengeleitet. Zum Beispiel von Wirtschaftsinstituten, die sehr arbeitgeber- und wirtschaftsnah sind. Es geht darum, welcher Anteil sozusagen von den Gesamtkosten, auch von den Profiten, auf die Lohnkosten entfallen, dass man eben auch Sozialstaatsleistungen bezahlen kann.
Nordstadtblogger: Ok …
Markus Kurth: Außerdem ist es ja kein Wunder, wenn die Gesellschaft immer älter wird, dass man einen größeren Teil dieses Kuchens für Ältere abgibt. Kein Skandal, finde ich, sondern ganz normal.