Müssen wir über Homosexualität überhaupt noch reden? Ist das nicht mittlerweile alltäglich und akzeptiert? „Mitnichten“, findet Franz Müntefering. „Noch nicht überall ist das akzeptiert und normal, dass man homosexuell ist. Und es gibt immer auch Gruppen, die hinter das zurückwollen, was wir erkämpft haben“, warnt der frühere SPD-Bundesminister. „Da muss man rechtzeitig deutlich machen, dass man da nicht mehr dran rütteln oder es zurückdrehen kann.“
Zusammenarbeit von SeniorInnenarbeit und Homosexuellenverbänden
Müntefering war zu Gast beim Auftakt der Reihe „Stadtgespräche – Was im Alter wichtig ist“ im Dortmunder Rathaus.
Der frühere Arbeits- und Sozialminister ist heute Vorsitzender der „Bundesarbeitsgemeinschaft Senioren“, Vater einer lesbischen Tochter und Träger der Kompass-Nadel des „Schwulen Netzwerks NRW“. Insofern war er der richtige Gesprächspartner, um auf das Thema Homosexualität im Alter einzugehen.
Die neue Reihe „Stadtgespräche“ will im Zusammenspiel von Vertretern der SeniorInnenarbeit und von Homosexuellenverbänden ein doppeltes Tabu-Thema aufbrechen: „Lesben und Schwule werden nicht alt. Alles über 30 ist jahrelang in der Szene nicht sichtbar gewesen“, erklärt Frank Siekmann, Vorstandsmitglied von SLADO, dem Dachverband der Schwulen, Lesben- und Transidenten-Vereine in Dortmund, bei der Eröffnung der gut besuchten Auftaktveranstaltung.
Individualität darf auch im Alter nicht verloren gehen
Doch braucht es überhaupt eine „kultursensible Annäherung“ an das Thema? Ist Pflege nicht für alle gleich – unabhängig von ihrer sexuellen Ausrichtung?
Auch hier vertritt Müntefering eine klare Position: „Wir müssen endlich begreifen, dass die Alten nicht einfach eine amorphe Masse sind und sehr unterschiedlich älter werden.“
Natürlich spielten ethnische, politische, religiöse oder sexuelle Ausrichtungen auch im Alter noch eine Rolle. „Individualität geht nicht weg und die Menschen sollen sie auch im Alter leben können“, forderte der beliebte SPD-Politiker.
Gerade mit Blick auf heute 70-jährige Homosexuelle sei der sensible Umgang wichtig. „Sie haben erlebt, dass es nicht einfach und nicht selbstverständlich war, sich zu bekennen. Auch in der Bundesrepubik wurden noch 50.000 Männer durch den Paragraphen 175 kriminalisiert und verurteilt – viele sind heute ja noch da“, erinnerte Müntefering.
„Kultursensible Annäherung“: Viele Homosexuelle waren Leidtragende
Für sie sei ein Bekenntnis zu ihrer Sexualität eine besondere Herausforderung. „Nicht überall gibt es die notwendige Sensibilität zum Umgang damit“, weiß Müntefering.
Zudem seien die Lebensbedingungen sehr unterschiedlich – es mache sehr wohl auch heute noch Unterschiede, ob man in der Großstadt oder auf dem Land lebe. Doch auch die Städte und die Regionen unterschieden sich teils deutlich. „Nach Schema F funktioniert da nicht.“
Doch nicht nur der großen Politik komme hier Verantwortung zu, auch die Kommunen könnten und müssten ihren Teil dazu beitragen. Bei allen sozialräumliches Planungen müssten die Kommunen die Menschen zusammenholen und mit Verbänden, die zu dem jeweiligen Thema aktiv sind, in einen offenen Dialog treten.
Das gelte nicht für die Fragen des Alters. „Für junge Menschen und Familien kann es zu einer großen Last werden, so lange ,Schwul’ oder ,Lesbe’ auch als Schimpfwort genutzt wird.“ Mitunter müssten auch die Eltern mitgenommen und stabilisiert werden: „Man darf sie nicht alleine lassen. Für manche war es eine Katastrophe – auch heute noch.“
Müntefering: „Alles unter 100 Prozent ist keine Gleichstellung.“
Im Alter ändere sich das nicht. Müntefering setzte sich daher vehement dafür ein, eine 100-prozentige Gleichstellung zu erreichen. „Alles unter 100 Prozent ist nicht Gleichstellung.“
Gemeinsam müsse mit Sozialverbänden und Betreibern von Altenheimen gesprochen werden, welche Erfahrungen es bereits gebe.
Es gebe vielfältige Fragestellungen: Wie geht der schwule Bewohner mit dem Haus um und wie das Haus mit ihm. Sagt er es? Weiß das Personal es? Wie gehen die damit um? Macht man da schwer belastende Äußerungen?
Wie schon vor einigen Jahren bei der Frage, wie man mit MigrantInnen in der Pflege umgeht, müsse nun das Thema Homosexualität beleuchtet werden. „Wir müssen sehen, dass da keiner verloren geht. Im Alter ist Vereinsamung ein Problem.“
Kommune und Stadtgesellschaft sind gemeinsam gefordert
Müntefering erinnerte daran, dass es daher auch Netzwerke und Angebote außerhalb von Pflegeeinrichtungen bedürfe. „Wir müssen die Stadtgesellschaft mitnehmen.“
Ein Appell, der auch bei Michael Taranczewski, dem Vorsitzenden des Sozialausschusses, ankam. „Älterwerden in Dortmund ist und bleibt ein Schwerpunktthema der Stadt und des Rates.“ Er begrüßte, dass die „Stadtgespräche“ nun auch diese Facette thematisiere.
„Ich finde es gut, dass es keine interne und geschlossene Veranstaltung ist.“ Wir müssen gemeinsam den Vorurteilen entgegenwirken und die Wünsche und Bedürfnisse aufgreifen. Daher sei der Ansatz der „Stadtgespräche“ unterstützenswert.
Weitere Schulungen für Beschäftigte der Seniorenfach- und Pflegediensten geplant
Organisiert werden sie von einer Dortmunder Initiativgruppe, in der SLADO e.V., KCR e.V., Vielfalt e.V., der Fachdienst für Senioren der Stadt Dortmund, die Landesfachberatung für gleichgeschlechtliche Lebensformen in der offenen SeniorInnenarbeit sowie die Koordinierungsstelle für Lesben, Schwule und Transidente der Stadt Dortmund vertreten sind.
Gemeinsam wollen sie noch mehr Schulungen und Informationsangebote für Beschäftigte der Seniorenfachdienste sowie der Pflegedienste organisieren. „Ich erhoffe mir, dass wir das Tabuthema Altwerden so aufbrechen können“, betonte Frank Siekmann (SLADO).
Über die gemeinsamen Veranstaltungen sollen auch dezentral Menschen angesprochen und Netzwerke gebildet werden. Zwei weitere Termine gibt es schon: Am 23. Juni um 15 Uhr im Wilhelm-Hansmann-Haus geht es um eine Vorsorgevollmacht und am 12. Oktober um 15 Uhr im Eugen-Krautscheidt-Haus um das Thema Pflege.
Mehr zum Thema auf nordstadtblogger.de:
https://www.nordstadtblogger.de/43721
Reader Comments
Thomas Bartel
Als qualifizierter Senioren-Assistent (Plöner Modell) wende ich mich in Hamburg speziell an homosexuelle Männer, die im Alter, durch Krankheit oder Behinderung individuelle Unterstützung wünschen (www.queer-betreut.de). Auf meinen Informationsveranstaltungen für schwule Senioren wurde mir immer wieder darüber berichtet, dass der Umgang mit Homosexualität gerade im Alter besondere Probleme bereitet und sich die Männer ihrem persönlichen Empfinden nach erneut und deutlich stärker ausgegrenzt fühlen. Dem stelle ich mich persönlich wie auch als Fördermitglied der im letzten Jahr gegründeten Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren (BISS) entgegen. Mögen die klaren Worte von Franz Müntefering als Vorsitzender der BAGSO auch in der breiten Öffentlichkeit Gehör finden! Kompliment an die Veranstalter, dieses wichtige Thema auf die Tagesordnung zu setzen. Und Dank an die Nordstadtblogger für die ausführliche Berichterstattung.
Marcel
Danke für den Einblick in diese offensichtlich spannende Veranstaltung! Ich wusste bisher nicht, dass Frank Müntefering so eine gerade (weil aus meiner Sicht richtige) Haltung hat. Super!
SLADO
Stadtgespräche I – was im Alter wichtig ist
Thema: Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht,
Zeit: 23.06.2016, von 15 Uhr bis 17 Uhr,
Ort: Wilhelm Hansmann-Haus, Märkische Straße 21
Die Veranstaltung ist öffentlich und kostenlos. Alle Interessenten sind herzlich willkommen
Carola Urban aus dem Seniorenbüro Hörde wird an diesem Nachmittag über Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung berichten.
Anschließend werden Katja Schmidt vom Verein „Lili Marlene“ Initiative für Trans* Personen, sowie Helga Steinmaier aus der Gruppe „LesbianSummer“ (KCR e.V.) mit den Anwesenden das Gespräch eröffnen und schauen wo die Bedürfnisse der Gäste liegen. Eine gesetzliche Betreuerin für (lesbische) Frauen wird für Fragen zur Verfügung stehen. Moderiert wird die Veranstaltung von Susanne Hildebrandt, Koordinierungsstelle der Stadt für Lesben, Schwule und Transidente.
Ziel ist es nicht nur zu informieren, sondern auch das Kennenlernen der Gäste untereinander zu ermöglichen, was dem Konzept der Landesfachberatung für ältere Lesben und Schwule „Queer im Quartier R“ entspricht. Weitere Stadtgespräche zu den Themen: Pflege und Wohnen werden folgen.
Zum Hintergrund
Alt werden ist auch unter Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Trans*personen ein Tabu. Ältere Homosexuelle kennt die Gesellschaft kaum, denn die meisten sind es noch gewöhnt, lieber unerkannt zu leben, was die Folge jahrzehntelanger Unterdrückung ist. Jetzt, da Lesben und Schwule in die Jahre kommen, die seit den 70er Jahren für gleiche Rechte und gegen Homophobie gekämpft haben, ist selbstbewusstes Altern auch in der „Community“ Thema.
In Dortmund hat sich eine Initiative gebildet, die mit der Reihe „Stadtgespräche“ versucht, Betroffene und Akteur_Innen zu sensibilisieren und zu informieren. SLADO e.V., KCR e. V., Vielfalt e.V., der Fachdienst für Senior_Innen der Stadt Dortmund, die Koordinierungsstelle für Lesben, Schwule und Transidente der Stadt Dortmund sowie die Landesfachberatung „immer dabei – ältere Lesben und Schwule in NRW haben gemeinsam das neue Angebot entwickelt.