Experiment soll in Kindergärten und Kitas zum Einsatz kommen
TU-Wissenschaftlerin erforscht das Verlernen bei Kindern mit einem „Candy Mountain“
Das Extinktionslernen ist ein wichtiger Prozess im Gehirn. Die Doktorandin Julie Poirier erforscht an der Fakultät Rehabilitationswissenschaften der Technischen Universität Dortmund, wie Kinder ihr Wissen verlernen und lässt sie dafür Schokolade aus einer Süßigkeiten-Mine „heraussprengen“. Ab März soll das Experiment in Kindergärten und Kitas zum Einsatz kommen.
Aus einem Berg voller Zuckerstangen, weißer und rosa Bonbons führt ein Fließband zu einer kleinen Schatzkiste. Ein gelbes Licht leuchtet an der bunten Wand. Die dreijährige Jette drückt auf einen roten Auslöser, worauf ein Klingeln ertönt. Nun fällt aus dem Süßigkeitenberg ein Schokobonbon auf das Fließband und landet kurz darauf in der Schatzkiste. Jette strahlt und drückt gleich noch einmal auf den Knopf. Bei jedem vierten Mal kommen solche Schokolinsen aus dem Berg heraus.
Was wie eine Szene aus dem Schlaraffenland klingt, ist ein Teilexperiment der Studie „Wie lernen und verlernen Kinder?“ an der Fakultät Rehabilitationswissenschaften der TU Dortmund in Zusammenarbeit mit der Ruhr-Universität Bochum (RUB). Mit der „Candy Mountain“-Apparatur, einem etwa 1×1 Meter großen Kasten, forscht Doktorandin Julie Poirier zum Thema Extinktionslernen, also dem Prozess des Umlernens. Denn die Fähigkeit, erlernte Verhaltensweisen anzupassen oder gegebenenfalls komplett zu verlernen, ist ebenso wichtig wie das Lernen selbst – gerade für Kinder: So erlernen sie ihrem Alter angemessene Verhaltensweisen.
Grundsätzlich vergisst das Gehirn altes Wissen nicht, sondern hemmt bloß dessen Abruf, wofür zusätzliche Energie benötigt wird. „Beispielsweise fällt es einem Erwachsenen oft schwer, von einem Android-Smartphone zu einem Apple-Gerät zu wechseln, dabei die alte Bedienung zu verlernen und sich an die neue zu gewöhnen“, erklärt Poirier.
Im „Candy Mountain“-Apparat erlischt nun das gelbe Lämpchen, ein rotes Licht leuchtet auf. Jette drückt auf den Knopf, aber nichts passiert: Der Berg spuckt keine weiteren Süßigkeiten aus. Das Mädchen begreift nach einer Weile und wartet ab. Da springt das Licht-Signal wieder auf gelb. Jette erinnert sich daran, dass es vorher Süßigkeiten gab, als das gelbe Lämpchen leuchtete. Sie versucht es erneut – doch diesmal passiert nichts: Egal, wie oft sie auf den Knopf drückt, der „Candy Mountain“ gibt keine Schokolade mehr her. Irgendwann versteht sie, dass ihre Schatztruhe nicht weiter gefüllt wird. Der Versuch ist vorbei.
„Bereits Erlerntes wird beim Extinktionslernen im Gehirn nicht etwa gelöscht oder überschrieben, sondern abhängig vom Kontext gehemmt“, sagt Poirier. Im „Candy Mountain“-Versuch gibt es zunächst zwei solcher Kontexte: Leuchtet das gelbe Lämpchen, gibt es Süßes. Leuchtet das rote Lämpchen, gibt es nichts. Im dritten Durchgang wird das Kind wieder in den ersten Kontext versetzt und soll so dazu gebracht werden, das in der roten Phase verlernte Verhalten erneut zu zeigen. Poirier und ihr Team messen nun, wie lange das Kind auf den Auslöser drückt und hofft, dass die Mine wieder Schokobonbons herausgibt. Aus dieser Dauer können nun Rückschlüsse auf den Einfluss des Kontexts auf das Lernen und Verlernen bei Kindern dieser Altersgruppe gezogen werden.
Poiriers experimentelle Reihe ist Teil des Sonderforschungsbereichs 1280 „Extinktionslernen“ der RUB. Die Ergebnisse können neue Erkenntnisse für die Gestaltung des Schulunterrichts oder bestimmter Therapien liefern, zum Beispiel für die Konfrontationstherapie. Dabei werden Menschen mit ihren Ängsten konfrontiert, die sie „verlernen“ sollen.
Derzeit werden bei der Konfrontationstherapie bei Kindern dieselben Methoden verwendet wie für Erwachsene. „Bisherige Forschungen deuten darauf hin, dass zum Beispiel Jugendliche im Extinktionslernen deutlich schlechter sind als Erwachsene“, sagt Poirier. „Auch bei Kindern nimmt man an, dass sie abhängig von ihren Möglichkeiten zur Selbstkontrolle darin schlechter sind.“ Das Extinktionslernen ist in der Altersgruppe von Kindern bis 12 Jahren bislang nur in Teilbereichen erforscht worden. Diese Wissenslücke soll mit dem „Candy Mountain“-Versuch weiter geschlossen werden. Hilfreich für die Experimente ist, dass die jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmer das Gefühl haben, zu spielen, anstatt in einem Labor zu sein. „Und der Versuchsaufbau als Mine, aus der die Kinder Süßes heraussprengen können, ist außerdem auch ein schöner Bezug zum Ruhrgebiet mit seiner Bergbau-Vergangenheit“, sagt Poirier mit einem Augenzwinkern.
Für Jette nimmt das Experiment doch noch ein gutes Ende: Das Mädchen darf alle Schokolinsen, die in der Schatztruhe gelandet sind, behalten. Anschließend darf sie sich noch eine kleine Belohnung aussuchen und erhält einen Forscher-Pass für Kinder.
Derzeit befindet sich der „Candy Mountain“-Versuchsaufbau noch in der Pilotierung. Ab März soll der süße Berg dann auch in Kindergärten und Kitas zum Einsatz kommen. Teilnehmer werden noch gesucht, interessierte Eltern oder Kitas können sich per E-Mail anmelden: next.studie.fk13@tu-dortmund.de.