Von Gerd Wüsthoff
Hunderte DortmunderInnen leben die Erinnerung an den Schrecken des Holocaust, der vor 80 Jahren – in der Nacht des 9. November 1938 – sein Ausmaß warnend zeigte. Die hässliche Fratze des Fremdenhasses und Antisemitismus begannen aber schon früher. Langsam, zuerst subtil, zog das Nazi-Regime die Schrauben der antijüdischen Repression und Verfolgung an, damit sich das Volk der Deutschen besser daran gewöhnen konnte. Am Ende war man abgestumpft und wollte es nicht mehr sehen, schaute weg, und doch wusste jeder oder ahnte, was in den Vernichtungslagern geschah. Sechs Millionen Menschen jüdischen Glaubens, darunter mehr als eine Million Kinder, wurden ermordet.
Die Pogromnacht war der erste schrecklichen Höhepunkt antisemitisch motivierter Verbrechen des Nazi-Regimes
„Es sind Tage wie diese, wo jeder auf der richtigen Seite stehen will“, sagt Bürgermeister Manfred Sauer am Beginn seiner Ansprache am Nachmittag in Dorstfeld. Der Tag des Gedenkens begann in Dorstfeld am jüdischen Mahnmal. „Es ist richtig, dass Sätze gesagt werden, wie: ,Wir akzeptieren nicht, wenn Juden auf beschämende Weise beleidigt werden‘, ,Der Staat muss mit allen Mitteln des Rechtsstaats einschreiten‘ oder ,Wir werden Antisemitismus niemals dulden‘“, sagt Sauer. „Es ist richtig, dass solche Sätze gesprochen werden. Mann muss sich nur vorstellen, wie ungeheuerlich das Gegenteil wäre.“
Sauer bezeichnet die Pogromnacht als ersten schrecklichen Höhepunkt antisemitisch motivierter Verbrechen des Nazi-Regimes seit deren Machtübernahme. „Es muss vielmehr für immer daran erinnern, wohin es führt, wenn radikales Gedankengift sich in unsere Gesellschaft einschleicht“, erklärt Sauer. Leider flammt der nationalsozialistische Spuk wieder auf. Die rechte Terrorgruppe „Revolution Chemnitz“ verschickte ein Gründungsdokument mit dem Ziel: (Zitat) „… etwas zu bewegen und die Geschichte Deutschlands zu ändern“, weiter hieß es dort, dass dies nicht gewaltfrei und mit Opfern verbunden sein würde.
Sauer ging auch auf die im Deutschen Bundestag vertretene Partei der (Zitat) „Äffchen“ ein, die mit permanenten, verbalen Grenzüberschreitungen und Diffamierungen, Fremdenhass und Antisemitismus schürten. „Gerade in diesem Stadtteil stellt sich die Frage zu unserem Leidwesen ja immer wieder. Nach einer historischen Erfahrung wie der Pogromnacht ist es zwar illusorisch zu glauben, man könnte rassistisches, völkisches und nationalistisches Denken alleine durch Argumente entkräften – und doch müssen wir es versuchen“, appelliert Sauer. „Das bedeutet ARBEIT; bedeutet tägliches Engagement, Gespräch und Information.“
Nur einen Stein- oder auch Böllerwurf vom Gedenkort entfernt wohnen solche Feinde der Demokratie. Hier setzte auch die unbequeme Ansprache von Rabbiner Baruch Babaev an, am Nachmittag in Dorstfeld und im Foyer der Oper. „Die 1920 von knapp über 60 Personen gegründete Nazipartei hat Millionen Menschen infiziert. Menschen, die dann im Namen des Gesetzes gemordet haben“, erinnert Babaev eindringlich.
„Der heutige, auch unterschwellige Antisemitismus wird feinfühlig in den jüdischen Gemeinden wahrgenommen“
Deutschland, das Land der Dichter, Denker, Wissenschaftler und Komponisten hatte dank der Nazis das Licht der Humanität ausgeknipst und wurde zum Land der Richter und Henker. 1945 wurde Deutschland, wie auch die Welt, befreit. „Befreit von den Nazis, aber nicht vom Antisemitismus“, sagt Babaev bitter. Im Foyer der Oper wird Babaev mahnender und unbequem: „Die Nacht des 9. November ist als Pogromnacht in die Geschichte eingegangen. Nachbarn wurden zu Mördern. Und alles aus alten Vorurteilen, die weit zurückreichen“, sagt er dem versammelten Auditorium.
Babaev machte deutlich, dass das Christentum aus dem Judentum hervorging, und sich in der Abgrenzung immer tiefer in frühe antisemitische Vorurteile verstrickte, die zur Ausgrenzung und frühen Verfolgungen führten. „Was im 20. Jahrhundert, nach der Befreiung durch die Französische Revolution als Gerede begann, wurde ab 1933 zu Gesetzen. Diese führten zur Pogromnacht als erstem Höhepunkt und schließlich zur Shoa“, mahnt Babaev.
„Die Saat des ideologischen Hasses war aber in der Welt. Der heutige, auch unterschwellige Antisemitismus wird feinfühlig in den jüdischen Gemeinden wahrgenommen“, erschreckt Babaev seine ZuhörerInnen, und führt die antijüdischen Übergriffe in Chemnitz an, wie auch den Terroranschlag und die elf Toten in der Synagoge in Pittsburg. „Das Gift ist in der Welt!“
So unbequem die Rede von Babaev in Dorstfeld und im Foyer auch war, so versöhnlich endete er: „Noch nie konnten sich Juden in Deutschland so sicher fühlen wie heute, weil die Gesellschaft Haltung zeigt!“
Antisemitismus und Fremdenhass bedrohen die allgemeine Freiheit und die Demokratie“
Auch Hanna Sperling, Vorsitzende des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe, mahnte, warnte und war unbequem wie Babaev. Doch wie der Rabbiner war sie am Ende der Rede versöhnlich, und betonte ebenfalls das Gefühl der Sicherheit der Juden in Deutschland. Sperling forderte aber auch eine klarere politische Haltung der Bundesrepublik gegenüber Staaten, die den Antisemitismus zur Staatsdoktrin gemacht haben. „Antisemitismus und Fremdenhass bedrohen die allgemeine Freiheit und die Demokratie.“
„Den Antisemitismus gibt es in vielfältigen Formen“, sagt Sperling. Sie führt hier die zum Teil antisemitisch geführte Kritik am Staat Israel, den Juden in aller Welt als Sicherheitsgarantie wahrnehmen. „Auch wenn es in Israel einiges zu kritisieren gibt, auch durch uns, so wird diese Kritik antisemitisch, delegitimierend für Israel geführt. Nicht der Politiker wie sonst, Trump, Orban, Erdogan und andere, sondern ,Israel‘ heißt es dann“, ist der bittere Ruf von Sperling. „Die Delegitimierung Israels bedeutet nichts anderes als einen neuerlichen Genozid, den an den Juden in Israel!“
Für Sperling zeigt sich das Sicherheitsempfinden der Juden in Deutschland darin, dass in den letzten Jahren etwa 50.000 Juden aus Frankreich nach Israel emigriert sind, in „das Land ihrer Rückversicherung.“ Sperling führt mit Genugtuung die Demonstrationen der BürgerInnen in Deutschland an, in denen sie sich gegen Fremdenhass und Antisemitismus laut zur Wehr setzen.
Lob für den Einsatz der Mehrheit der BürgerInnen gegen Islamfeindlichkeit, Fremdenhass und Antisemitismus.
Sperling begrüßte ausdrücklich den Einsatz der Mehrheit der BürgerInnen in Deutschland gegen Islamfeindlichkeit, Fremdenhass und Antisemitismus. „Wenn wir nun 80 Jahre zurückschauen, dann um zu verhindern, dass es sich wiederholt. Nur wünsche ich mir mehr Empathie für die Sicherheit der jüdischen Mitbürger und den Staat Israel. Wir vertrauen aber in Deutschland, in die Rechtsstaatlichkeit, unser Leben in Dortmund. Das Leben in Deutschland ist sicher! Tun wir alles dafür, damit es so bleibt“, schließt Sperling.
Wie seine Vorredner war auch Dr. Rafael Seligmann, Journalist, Publizist und Autor, zuweilen unbequem und mahnend, zugleich aber auch versöhnlich.
„Der 9. November ist so etwas wie ein Schicksalstag in der deutschen Geschichte. An diesem Tag wurde 1918 die Deutsche Republik ausgerufen, fünf Jahre später aber putschten Ludendorff (der Begründer der Dolchstoßlegende) und Hitler (untalentierter Postkartenmaler) in München gegen die Republik und versagten noch, um 1933 doch an die Macht zu kommen. 1938 jedoch zeigten die Nazis die hässliche Fratze des Regimes und markierten den Einstieg in den Holocaust. Und 1989 befreite sich Ostdeutschland in der bislang einzigen friedlichen Revolution von der kommunistischen Diktatur.“
„Israels Sicherheit ist deutsche Staatsdoktrin“, wiederholt Seligmann die Aussage von Bundeskanzlerin Merkel. „Doch richtet sich die Politik Deutschlands danach?“ fragt der Redner in das Auditorium. Und gibt gleichsam fordernd seine Antwort. „Der Vertrag mit dem Iran ist grundsätzlich richtig. Damit das Regime keine Atomwaffen baut. Aber dieser Vertrag beinhaltet mit keiner Silbe das Existenzrecht Israels, nicht einmal das Existenzrecht aller Staaten in der Region.“
Appell: „Das Opfer-Gedenken am 9. November muss eine Lehre zur Menschlichkeit sein“
Seligmann provoziert mit seiner Frage, ob Trump in seiner Einschätzung des Iran-Atomvertrags richtig liegen könnte. Denn Iran unterstützt die Kriege im Jemen, Syrien und unterstützt die Hisbollah im Libanon. „Kommt erst mit dem Fressen die Moral?“ ruft Seligmann provozierend in das Auditorium. „Gute Moralpolitik ist gute Realpolitik!“ ist seine anklagende Antwort.
„Es ist einfach nicht hinnehmbar, wenn der Vorsitzende dieser Rechtspopulistischen Partei die zwölf Jahre des Nazi-Terrors in Deutschland und Europa als ,Fliegenschiss in 1.000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte‘ bezeichnet“, bezieht Seligmann klar Stellung zur „AfD“. „Oder wenn ein anderer AfD-Funktionär das Holocaust-Denkmal als ein ,Mahnmal der Schande‘ verunglimpft. Oder wenn sich nicht deutlicher gegen die antisemitischen Bestrebungen in Polen, Ungarn und in der Türkei gewehrt wird.“
„Das Opfer-Gedenken am 9. November ist ein Meilenstein der Geschichte. Es mahnt, nichts einfach hinzunehmen. Es aber nicht als Ritual erstarren zu lassen. Es muss eine Lehre zur Menschlichkeit sein“, schließt Seligmann eindringlich.
Würdiges Gedenken wurde von zahlreichen Jugendlichen gestaltet – Auch MigrantInnen nehmen sich des Gedenkens an
Für die Zukunft zuversichtlich stimmt, dass auf dem Wilhelmplatz in Dorstfeld zahlreiche Schulen und Aktionsbündnisse ihre Stände aufgebaut hatten, in denen sie ihre Erinnerungs- und Vergangenheits- (Geschichts) Arbeiten präsentierten. Die SchülerInnen spiegelten das wunderbare multikulturelle Miteinander, das Dortmund ausmacht. Und viele Jugendliche mit unterschiedlichstem Migrationshintergrund. Die Gedenkfeier leiteten vier SchülerInnen der Martin-Luther-King Gesamtschule mit der Wiedergabe der Lebensläufe von Opfern der Nazis, die zuvor BürgerInnen von Dorstfeld waren, ein.
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Multikulturelles Forum (Pressemitteilung)
Antisemitismus mit Jugendlichen thematisieren: Fachforum des Multikulturellen Forums mit dem Respekt-Büro am 15.11.2018 im Dietrich-Keuning-Haus
Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert hat viele Varianten und ist nicht mit dem Ende des Nationalsozialismus aus Deutschland verschwunden. Zwar wird nicht mehr vom „ewigen Juden“ gesprochen, aber mit Begriffen wie „Zionisten“ oder „Israel-Kritik“ werden genauso die alten antisemitischen Vorurteile und Vorstellungen vom „Juden“ als dem absolut Bösen transportiert. Verbreitet ist zudem auch die Gleichsetzung des jüdischen Staats mit dem NS-Staat als absolutem Täter oder die Gleichsetzung von „Juden damals“ und „Deutschen heute“ als absolutem Opfer. Und im Kontext des Nahost-Konfliktes kommen Argumentationen oft vordergründig mit einer Menschenrechts-, Antirassismus- und Antiglobalisierungsrhetorik daher, so dass ihr antisemitischer
Inhalt nicht immer sofort zu erkennen ist.
Lassen sich hier Wissenslücken noch vergleichsweise einfach beheben, so stellen emotionale Verbindungen oder Identitätskonstruktionen von Bildungsteilnehmenden, aber auch von Lehrenden die vielleicht größte Herausforderung dar. In der Praxis kann so eine sehr emotionale Dynamik der Konfrontation entstehen, welche die angestrebte Befähigung zum Perspektivwechsel stark blockieren kann. Das Bildungspersonal steht vor der Herausforderung, kompetent mit den Widersprüchlichkeiten, Uneindeutigkeiten und Brüchen von Identitätskonstellationen in modernen Migrationsgesellschaften umzugehen. Der Soziologe Wolfgang Stendal spricht in diesem Zusammenhang von einem notwendigen Wandel von einer „belehrend-moralisierenden Bildungspraxis“ hin zu einer „dialogisch-reflexiven Erkenntnishaltung“ der Lehrenden, welchen es aktuell zu bewältigen gelte.
Ziel des Fachtages am 15. November 2018 im Dietrich-Keuning-Haus in Dortmund ist es, Lehrer*Innen und pädagogische Fachkräfte aus der Bildungsarbeit zur aktuellen Entwicklung in der antisemitismuskritischen Bildungsarbeit zu informieren. Dazu werden das Multikulturelle Forum, das Respekt-Büro des Dortmunder Jugendamtes sowie ein Referent der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus aktuelle Erscheinungsformen sowie methodische Präventionsmodule präsentieren. Das Fachforum findet zwischen 14 Uhr und 17:30 Uhr statt und ist kostenlos.
Anmeldung an: Iris Müller, Tel.: 0231 288607-37, E-Mail: mueller@multikulti-forum.de
Fachhochschule Dortmund (Pressemitteilung)
Soziale Ungleichheit und Rechtspopulismus – Aktionstag 8 gegen 88:
Warum soziale Gerechtigkeit für den Kampf gegen den Rechtsruck entscheidend ist
Was? Aktionstag gegen Rechtsextremismus
Wann? Dienstag, 13. November, 10.30 – 15.20 Uhr
Wo? Fachhochschule Dortmund, Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften (FB 8), Emil-Figge-Straße 44, Hörsaal U33 (nahe der S-Bahn-Station Dortmund-Universität)
Wichtig: Der Eintritt ist frei.
Selten waren sich Experten so einig in ihrer Diagnose, dass es in Deutschland eine zunehmende Polarisierung zwischen Gewinnern und Verlierern gibt. Die Reichen werden reicher – die Armen ärmer. Menschen in prekären Lebenslagen fühlen sich zunehmend von den etablierten Parteien nicht repräsentiert. Und dieses zugespitzte soziale Spannungsfeld bietet einen Nährboden für rechtspopulistische Bewegungen.
Der Aktionstag 8 gegen 88 am Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften der Fachhochschule Dortmund greift die Frage auf, warum soziale Gerechtigkeit für den Kampf gegen den Rechtsruck entscheidend ist. Zu diesem hochaktuellen Thema konnte der Fachbereich zwei namhafte Referenten gewinnen.
Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer: „Autoritäre Versuchungen“
(Vortrag & Diskussion) 10.40 bis 12.30 UhrWilhelm Heitmeyer (Universität Bielefeld) ist der wohl bekannteste und auch international hoch renommierte Gewalt- und Konfliktforscher. Er warnte bereits 2001 davor, die Globalisierung gehe mit politischen und sozialen Kontrollverlusten einher, die zum Aufstieg des autoritären Kapitalismus, zu Demokratieentleerung und einem Erstarken des Rechtspopulismus führen könnten. Das wollte damals niemand hören, heute hat sich die Analyse bestätigt. Der Vortrag analysiert mit einer internationalen Perspektive die tieferen Ursachen des modernen Rechtspopulismus und dessen Auswirkungen auf die Idee der liberalen Demokratie.
Aktuelles Buch: „Autoritäre Versuchungen.“ Edition Suhrkamp 2018
Prof. Dr. Michael Hartmann: „Wie die Eliten die Demokratie gefährden“
(Vortrag & Diskussion)13.30 bis 15.20 UhrMichael Hartmann (TU Darmstadt) ist in Deutschland insbesondere als Elitenforscher bekannt. Er wirft einen kritischen Blick auf die Rolle der Eliten in Deutschland und fragt, inwieweit die zunehmende Ferne der Eliten zu den Lebensrealitäten breiter Bevölkerungsschichten und einer Politik des „weiter so“ zu einer Gefahr für die Demokratie wird und den Rechtspopulismus beflügelt.
Aktuelles Buch: „Die Abgehobenen. Wie die Eliten die Demokratie gefährden.“ Campus-Verlag 2018
Was bedeutet „8 gegen 88“?
88 ist ein typischer Code der rechtsextremen Szene, der für den achten Buchstaben steht. HH ist die Abkürzung für „Heil Hitler“ und findet sich oft auf rechtsextremen T-Shirts oder Tätowierungen. „8 gegen 88“ bringt zum Ausdruck, dass der Fachbereich 8 (Angewandte Sozialwissenschaften) sich gegen Rechtsextremismus positioniert. Der jährlich stattfindende Aktionstag im November spiegelt die Bedeutung des Themas und die eindeutige Haltung des Fachbereichs dazu wider. Studierende, Hochschulangehörige und die breite Öffentlichkeit haben hier Gelegenheit, sich mit externen Fachkräften und der nötigen Zeit dem Thema zu widmen.