Junge Frauen und Männer mit bunten Haaren und großen Hunden in Innenstädten; hätten offenbar gern Kleingeld in die aufgestellte Büchse – ein Stereotyp, das keine Details kennt. Was es gibt, sind entwurzelte Jugendliche ohne Wohnung, deren Geschichte bedrückt. Sie haben mit der Gesellschaft gebrochen; häufig, weil da fortgesetzt was richtig falsch lief, wo sie hätten beschützt werden müssen: bei ihren Eltern, in ihrem häuslichen Umfeld. Haben sich befreit, und jetzt sind sie da, hier, heute – vermutlich ohne je irgendwo angekommen zu sein. Was sagen die Akteure in Dortmund, praktisch gesehen?
Nach langen Vorgeschichten familiärer Deprivation: junge Menschen brechen mit der Gesellschaft
Bis zum Ende der letzten Woche gastierte im Dortmunder Hauptbahnhof am Südausgang die Wanderausstellung „Entkoppelt“. Sie zeigt eine Reihe junger Menschen, die auf der Straße gelebt – „Platte gemacht“ – haben, oder es noch immer tun. Inmitten der Gesellschaft und doch außerhalb von ihr. Denn sie haben mit ihr gebrochen. Sie sind unter uns, doch es gibt kaum noch ein Band zu ihnen.
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Der Grund: sie bewegen sich in subkulturellen Nischennetzwerken, quer zu dem, was wir kennen. Ihr Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen ist riesengroß, weil sie häufig schlechte Erfahrungen gemacht haben. Insbesondere mit der Jugendhilfe, mit der sie fast immer früh in Berührung kamen, sofern die Ursachen ihrer Flucht aus dem System kaum ohne gravierende Problematiken im Elternhaus fassbar sind.
Gemeinsam dürfte den meisten eine familiäre Situation gewesen sein, in der es Gewalt, Ausgrenzung, Vernachlässigung, Missbrauch o.ä. gab. Durch den konsequenten Bruch mit allem aber, was für sie an die Vergangenheit erinnert, bleiben ihnen Zugänge zum herkömmlichen Sozialsystem versperrt. Sie wollen keine Hilfe aus Angst, in ihr altes Leben zurückgedrängt zu werden, dem sie gerade noch entkamen.
„Die“ – mit den bunten Haaren und großen Hunden: ausgestiegen, ohne angekommen zu sein
Das hat Konsequenzen: Sind NormalbürgerInnen etwa krank, werden die Behandlungskosten eines Arztbesuchs in der Regel von der Krankenkasse übernommen. Die obdachlosen oder wohnungslosen Jugendlichen, von denen die Rede ist, sind aber fast nie krankenversichert; sie müssen sich irgendwie auf eigene Faust durchschlagen. Schule, Ausbildung, feste Einkünfte etc.? – Natürlich Fehlanzeige.
Solche jungen Leute leben mitten unter uns in einer Lage von „Entkopplung“: ohne ein Band zu staatlichen Hilfssystemen, allein auf sich gestellt, bestenfalls verbunden mit einigen FreundInnen. Mit bunten Haaren und großen Hunden: ausgestiegen, ohne je irgendwo angekommen zu sein. Und vielleicht wollen viele gar nichts anderes, als ohne jene Welt, die ihnen so weh tat, leben; vielleicht nur suchen, ohne gefunden zu werden.
Zwanzig Heranwachsende aus dem ganzen Bundesgebiet erzählen in der Ausstellung der Deutschen Bahn Stiftung von sich, geben dem Bruch mit der Gesellschaft und ihrer Geschichte ein Gesicht. Sie alle kennen die Straße, das ruppige Leben für diesen einen Tag, hier und jetzt, weil Du nicht weißt, was morgen sein wird. – Kein unbedingt wünschenswertes Leben, auch für sie nicht, aber manchmal alternativlos. Scheinbar.
Alternativen zu einem Leben auf der Straße, oder: helfende Hände wollen gewollt sein
Die überwiegende Mehrzahl von ihnen hält sich in Ballungsräumen auf. Warum sollte dies in einem Oberzentrum wie Dortmund nicht so sein? Es gibt diese jungen Frauen und Männer selbstverständlich auch hier in der Stadt, selbst wenn ihr Erscheinungsbild so manchen OrdnungsliebhaberInnen nicht gefallen mag. Aber eine freie Gesellschaft wird ihren Lebensstil, soweit keine gesetzlichen Regelungen betroffen sind, akzeptieren wollen.
Was sie hingegen und zusätzlich tun kann – und muss: den jungen Menschen ohne festen Boden unter den Füßen zwanglose Angebote machen, andere Lebensweisen aufzeigen. Denn zu einer dauerhaften Existenz in Wohnungslosigkeit, fernab der Gemeinschaft, sollte es zumindest Alternativen geben. Eine helfende Hand, wo sie gewollt ist.
Aus diesem Grund hat das Jugendberufshaus (JBH) in Dortmund die nun nach Dresden weitergezogene Ausstellung zum Anlass genommen, auf zweierlei hinzuweisen: Erstens, dass es solche Schicksale auch vor Ort, hier in unserer Stadt gibt. Zweitens, dass relevante kommunale Akteure daran arbeiten, den Jugendlichen andere Perspektiven zu verschaffen, als jene, welche sich ihnen überschaubar auf der Straße bieten.
Jugendberufshaus bietet niederschwellige Hilfen: aufsuchende Sozialarbeit bei „Entkoppelten“
Im JBH können nämlich nicht nur die verschiedensten Hilfsangebote zur beruflichen Integration an Jugendliche gerichtet werden, die auf ihre je konkreten Bedürfnisse hin zugeschnitten sind. Sondern das Netzwerk im und um den Zusammenschluss von Jobcenter, Arbeitsagentur und Jugendamt setzt parallel an vorgelagerten Bedürfnissen an: dort, wo es wie bei den „Entkoppelten“ zunächst an fast allem fehlt und die Qualifizierung für einen Beruf allenfalls Fernziel sein kann.
Erreicht werden soll vor allem, die Lebenssituationen junger Aussteiger zu stabilisieren. Es geht um Grundlegendes: beispielsweise um Unterstützung bei der Einrichtung einer Postadresse oder der Wohnungssuche; um die Begleitung zu Behörden oder Hilfen beim Schriftverkehr mit Ämtern. Möglich ist eine psychologische Betreuung genauso wie Geldleistungen zum Lebensunterhalt, ohne dass damit gleich die üblichen Auflagen verbunden wären.
Kurzum: es soll für jene, die vollständig den Kontakt zu öffentlichen Angebotsstrukturen verloren haben, behutsam an der Entwicklung erweiterter Zukunftsperspektiven gearbeitet werden, die ohne Berührung mit dem beargwöhnten System definitiv verschlossen blieben.
Projekt unter dem Dach des JBH: „Dock 16“ – StreetworkerInnen arbeiten für neues Vertrauen
Verfolgt werden diese strategischen Ziele unter anderem mit „Dock 16“ (§ 16h SGB II) – einem im September letzten Jahres unter dem Dach des JBH angelaufenen, niederschwelligen Projekt, das sich speziell an entwurzelte Jugendliche und junge Erwachsene unter 25 Jahre richtet. Es funktioniert anfangs nach dem Prinzip aufsuchender Jugendarbeit.
Entsprechend zart verlaufen erste Kontaktversuche, gleichermaßen bescheiden sind erste Absichten: die Jugendlichen einfach ab und zu dort zu treffen, wo sie sich aufhalten. Vier StreetworkerInnen sind seitdem über den Träger GrünBau in Dortmund unterwegs, suchen regelmäßig Treffpunkte auf. Knüpften im ersten halben Jahr Kontakte, verstanden Zeiten, Gewohnheiten, Abläufe bei den jungen Leuten.
Sich in lockerer Atmosphäre kennenlernen und außerhalb des institutionellen Rahmens des JBH wieder Vertrauen gewinnen, das irgendwann verloren ging oder nie da war; andere soziale Bindungen aufbauen, verlässliche Beziehungen knüpfen – das ist zuallererst der Handlungshorizont der SozialarbeiterInnen vor Ort. Was sie brauchen: einen langen Atem, viel Geduld und Verständnis, um Misstrauen und Distanz langsam abzubauen.
Hilfen aus „einer Hand“: weil junge Menschen nicht analog zu staatlichen Systemen leben können
Was ebenfalls unerlässlich ist, sollen solche Angebote nachhaltig wirksam werden: konzertiertes Handeln unter den Akteuren. Alles andere wäre einigermaßen witzlos. Denn gestrandete junge Menschen ordnen ihr Leben sicher nicht nach den Sozialgesetzbüchern (SGB), sprich: nach den Hilfesystemen verschiedener Rechtskreise, d.h. Zuständigkeiten. Sie aber lediglich hin und her zu reichen, von einer Stelle zur anderen, das wäre bei ihrer Fragilität eher wenig zielführend.
Daher ist zwingend, was seinerzeit, im Jahr 2015, der Grundgedanke bei Gründung des JBH-Dortmund war: Unterstützung „aus einer Hand“ für junge Menschen (beim Übergang von der Schule ins Berufsleben) – hier, um eine Rückkehr in die Gesellschaft – wie auch immer – zu ermöglichen. Letztlich auch, um Ausbildungsfähigkeit zu entwickeln: freizusetzen, was da schlummert, an Interessen, Neugier, Begeisterung, Kraft, doch seit frühen Kindertagen wahrscheinlich nie wirklich sein durfte.
Was aus diesem Grund „eine Hand“ – Team, Netzwerk, multiple Kompetenzen, Ressourcen und ein guter Wille – unter Umständen zu leisten hat, deutete vor einigen Monaten Fallmanagerin Monika Traoré aus dem JBH, die solchen Jugendlichen regelmäßig begegnet, bei einem Gespräch mit NRW-Arbeitsminister Laumann an: „Es gibt diejenigen, die zu Hause Sachen erlebt haben, deren Film wäre auf’m Index.“
Erste zarte Erfolge – doch niemand weiß, wie viele junge Menschen in Dortmund wirklich ausgestiegen sind
Insgesamt seien in der Aufbauphase von „Dock 16“, also in den vergangenen sechs Monaten 370 junge Frauen und Männer angesprochen worden, erklärt Regine Kreickmann, Bereichsleiterin des Jobcenters im JBH, am letzten Tag der Ausstellung im Dortmunder Hauptbahnhof. Auf die Frage nach der geschätzten Zahl (aus staatlicher Sicht) „entkoppelter“ Jugendlicher hat niemand eine Antwort.
Näher wird sich dies in den nächsten Monaten klären lassen, wenn es wärmer wird, ihre Treffpunkte irgendwo in der Öffentlichkeit von Dortmund liegen. Einer von ihnen ist Brian: einer von acht (ehemals) Entwurzelten (der 370 Angesprochenen), die der JBH-Leiterin zufolge „wieder in die Mitte der Gesellschaft zurückkehren“ konnten. Was auch immer das heißen mag.
Immerhin: Brian hat es geschafft, sich von seinem rechtsradikalen, prügelnden Vater zu befreien; da waren mehrere Heimunterbringungen, der Tod der besten Freundin im Hörder Parkhaus Februar 2018. Die Mutter habe er seit 10 Jahren nicht gesehen, suche nach ihr, der Name der Stadt Köln fällt. Nach Obdachlosigkeit wohnt er nun wieder – irgendwo. Es ist nicht alles verständlich in der kurzen Zeit zwischen den Bildern der Ausstellung – doch es kommt deutlich rüber: das JBH ist im Spiel. Damit es auch für ihn, Brian, und die vielen anderen Zukunft geben kann.
Weitere Informationen:
- Dschungel Buch IV. Informationen für obdachlose junge Menschen in Dortmund mit dem Projekt „Dock 16“ (S. 14) und vielem mehr; hier:
- Die Wanderausstellung „Entkoppelt“ ist augenblicklich in Dresden zu sehen (24. März – 2. April). Es folgen: Nürnberg (5. – 14. April), Mannheim (17. – 26. April) und schließlich Aachen (29. April – 8. Mai).
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