Der Vorgang „Erzwingungshaft für Obdachlose“ schlägt hohe Wellen – und hatte ein erstes politisches Nachspiel. Im Sozialausschuss der Stadt Dortmund wollten mehrere Parteien Klarheit. Aber das wurde vertagt. Denn der Ausschuss ist nicht zuständig – die Sozialverwaltung konnte auf die zahlreichen Fragen keine Antwort geben. Zuständig ist der Bürgerdienste-Ausschuss. Dort soll dann statt Sozialdezernentin Birgit Zoerner der eigentlich zuständige Ordnungsdezernent Norbert Dahmen Rede und Antwort stehen. Doch der stellt vorab klar: „Für das bloße Campieren bekommt von uns niemand ein Knöllchen.“
20 statt 200 Euro: corona-bedingte Bußgelder fallen für Obdachlose niedriger aus
Klar ist mittlerweile, dass sich der Fall komplizierter darstellt, als der Beschluss des Amtsgerichts, welcher ohne weiteres als „Klatsche“ für die Stadt und den Antrag auf Erzwingungshaft verstanden werden kann, auf den ersten Blick meinen lässt. Denn die Bußgelder sind nicht erlassen worden, weil der Betroffene als Obdachloser in der Innenstadt campiert, sondern eine Vielzahl von Verstößen angesammelt hat. ___STEADY_PAYWALL___
„Seit 2018 werden keinerlei Verwarn- oder Bußgelder mehr wegen Obdachlosigkeit ausgesprochen“, stellt Dahmen auf Nachfrage von Nordstadtblogger klar. Zudem seien Verstöße gegen die Coronaschutzverordnung – das Land sah im ersten Lockdown dafür Geldbußen von 200 Euro vor – im Falle von Obdachlosen anders behandelt worden. Das Ordnungsamt hätte in solchen Fällen lediglich ein Bußgeld von 20 Euro verfügt – auch rückwirkend, wenn diese eigentlich schon rechtskräftig gewesen seien.
Seit Sommer 2020 verfährt die Bußgeldstelle so, dass wegen coronabedingter Ordnungswidrigkeiten (Verstöße gegen Ansammlungsverbote oder die Verletzung der Maskenpflicht) nicht die vorgesehenen Bußgelder von bis zu 200 Euro, sondern lediglich in Höhe von 20 Euro festgesetzt werden. Diese geänderte Vorgehensweise hatte Dahmen im Sommer 2020 dem Rat mitgeteilt. Die Bußgeldstelle geht seither entsprechend vor, soweit sie bei corona-bedingten Ordnungswidrigkeiten von einer Obdachlosigkeit des jeweiligen Beschuldigten erfährt.
Der Betroffene war für die Ordnungsbehörde kein Unbekannter
Doch warum sind im konkreten Fall die Bußgelder so eskaliert, so dass am Ende eine Forderung von 7325 Euro anliefen? Die Verhandlung vor dem Amtsgericht offenbart, dass von April bis Mai 2020 der Betroffene allein sieben Mal wegen Verstoßes gegen das coronabedingte Ansammlungsverbot aufgefallen war. Die festgesetzten Bußgelder haben sich bei jedem Wiederholungsfall entsprechend erhöht.
Das liegt nach Ansicht der Stadt daran, dass zum Zeitpunkt der Vorfälle der Betroffene nicht obdachlos und auch nicht mittellos gewesen sei. Er habe eine Meldeadresse gehabt, wo er und auch Familienangehörige gelebt hätten.
Der Betroffene war für die Ordnungsbehörden kein Unbekannter: Bereits vor Beginn der Pandemie sind gegen ihn Bußgeldbescheide wegen Drogenkonsums im öffentlichen Raum, illegaler Abfallbeseitigung und aggressivem Betteln ergangen. Ab Mai 2020 ergingen weitere Bußgeldbescheide wegen Drogenkonsums, illegaler Abfallentsorgung, Verstoß gegen das Nichtraucherschutzgesetz sowie wegen eines weiteren Verstoßes gegen das Ansammlungsverbot.
Auch nach Antrag auf Erzwingungshaft gab es 23 weitere Ordnungswidrigkeiten
Insgesamt beliefen sich die in diesem Zeitraum festgesetzten Bußgelder auf 7.325 Euro, die dann zur Beantragung des Erzwingungshaftantrags führten. Es gab zu dem Zeitpunkt Anhaltspunkte – unter anderem durch einen Gerichtsvollzieher -, dass der Betroffene zudem nicht völlig mittellos gewesen sei.
Im Zeitraum, der nach dem Erzwingungshaftantrag lag, soll der Betroffene bei der Begehung von 23 weiteren Ordnungswidrigkeiten – hauptsächlich öffentlicher Drogenkonsum, öffentliches Urinieren, aggressives Betteln – aufgefallen sein. Auch in den Auseinandersetzungen um die Bußgelder habe der Betroffene lediglich um Zahlungsaufschub gebeten, weil er „nicht ausreichend leistungsfähig“ sei – entsprechende Schreiben kamen von seiner damaligen Meldeadresse.
Daher habe man zu dem Zeitpunkt des Antrags auf Erzwingungshaft bei der Bußgeldstelle auch nichts von einer zwischenzeitlich eingetretenen möglichen Obdachlosigkeit gewusst. Denn einen Austausch zwischen Bußgeldstelle und Sozialverwaltung gebe es aus gutem Grund nicht. Daher seien die Forderungen in die Vollstreckung gegangen.
Die Bußgeldstelle soll nichts von einer Obdachlosigkeit gewusst haben
„Es kann sein, dass sich zwischenzeitlich die soziale Situation verändert hat“, räumt Dahmen ein. „Aber das ergab sich nicht aus der Aktenlage. Mittlerweile gibt es entsprechende Hinweise, aber das hat uns damals nicht vorgelegen.“
Dann wären die Forderungen zumindest bei den Corona-Verstößen deutlich geringer ausgefallen. Dies werde nun neu betrachtet. Doch sanktionsfrei könne das Verhalten des Beschuldigten nicht bleiben: „Öffentlicher Drogenkonsum und illegale Abfallentsorgung können wir nicht dulden, auch nicht aggressives Betteln oder das Verrichten seiner Notdurft in Hauseingängen“, so Dahmen. „Für das bloße Campieren bekommt von uns niemand ein Knöllchen.“
Daher ist nur die Erzwingungshaft, nicht aber die Bußgeldforderung vom Tisch – auch wenn man bei der Stadt mittlerweile weiß, dass die „Beitreibbarkeit“ schwierig werden würde – selbst wenn es nur noch 1000 Euro wären, würde er nicht zahlen können. Dann bringt auch die Erzwingungshaft nichts. Dahmen will am 15. Februar die Mitglieder des Bürgerdienste-Ausschusses informieren.
Sozialausschuss: „Das ist ein höchst unerfreulicher Umgang“
Alle diese Informationen lagen dem Sozialausschuss – zumindest offiziell – nicht vor. Entsprechend lief die Diskussion. „Das sind aber alles keine Themen des Sozialdezernates und Sozialamtes. Daher fällt die tiefere Betrachtung in die Zuständigkeit des Ordnungsamtes und Ordnungsdezernates“, machte Sozialdezernentin Birgit Zoerner deutlich.
„Das ist ein höchst unerfreulicher Umgang. Wir würden ganz gerne eine Gesprächsrunde initiieren, wo man alle Beteiligten an einen Tisch holt, wo man ein entsprechendes Vorgehen bespricht“, betont Daniela Worth (SPD). Zwar sei das Thema „x-mal durchgekaut, hört man im Rat. Aber es gibt auch neue Ratsmitglieder, die das Vorgehen nicht kennen. Daher sollte es fraktionsübergreifend ein Gespräch geben.“
Petra Dresler-Döhmann (Die Linke+) verwies darauf, dass man eine Erzwingungshaft nur bei entsprechender Bonität beantragen könne. Sie wollte thematisiert haben, wie man damit umgehe, wenn Obdachlose oder Mittellose solche Ordnungswidrigkeiten begingen. Sie begrüßte daher den Vorschlag, sich an einen Tisch zu setzen.
CDU-Politiker unterstellt Medienkampagne gegen Politik und Verwaltung
Daran hatte Thomas Bahr (CDU) kein Interesse: „Wenn die Ordnungsverwaltung vorgeladen werden sollte oder ein Gespräch organisiert – ich finde es überflüssig. Ob wir daran teilnehmen werden, muss man dann mal sehen“, sagte Bahr. Er habe aus der Gremienarbeit mitgenommen, dass „obdachlose Menschen, die am Westenhellweg in einem Zugang liegen, kein Knöllchen bekommen.“
Der konkrete Fall sei medial aufgebauscht: „Das Ergebnis ist, dass jemand, der einen Wohnsitz hat, keine Transferleistungen bezogen hat, sich durch wiederholtes Fehlverhalten auffällig gezeigt hat, trotz Zureden dies nicht hat abstellen können oder wollen und mit Ordnungsgeldern belegt wurde. Als es zur Einziehung kam, war er plötzlich obdachlos und das ist ins Leere gelaufen“, fasste er seinen – in der Verwaltung zusammengetragenen – Wissensstand zusammen.
Bahr machte deutlich, dass man der Medienberichterstattung nicht vertrauen könne, wenn es um Berichterstattung über Obdachlosigkeit gehe. Er unterstellte eine Kampagne, um Politik und Verwaltung als „herzlos und hart“ darstellen zu lassen.
Aufklärungsarbeit soll im Ausschuss für Bürgerdienste stattfinden
Benjamin Beckmann (Grüne) hatte keine Lust, im Sozialausschuss noch länger zu spekulieren. „Wir wissen nicht, was im Einzelfall vorgefallen ist.“ Daher schlug er vor, den Fragenkatalog seiner Fraktion in abgewandelter Form im Bürgerdienste-Ausschuss neu zu stellen.
Damit rannte er bei der Verwaltung offene Türen ein: „Was Herr Beckmann vorgeschlagen hat, ist der richtige Weg. Dafür gibt es ja einen Ort. Die Tatsache, dass wir nicht befasst waren, zeigt ja, dass dies nicht unter die Zuständigkeit der Sozialverwaltung fällt“, so die Sozialdezernentin.
„Aber es gibt ja Zuständigkeiten. Auf Zuruf und Überschriften sich zu empören, ist nicht meine Sache. Ich möchte nachvollziehen können, ob da was schief gelaufen ist und ob man was anderes machen kann. Es ist generell wichtig, im alltäglichen Geschäft einen Sachverhalt aufzuklären, bevor man weiterredet. Aber das ist kein Sachverhalt des Sozialausschusses.“
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