Seit mehr als 20 Jahren kümmern sich die AWO-Tochter dobeq, Grünbau und der Werkhof mit unterschiedlichen Angeboten wie dem „Kontakt- und Beratungsverbund Dortmund“ (KUBDO) erfolgreich um schulmüde und schulverweigernde Jugendliche. Es ist eine schwierige, aber auch eine sehr wichtige Arbeit, bei dem sich die Einrichtungen große Expertise erarbeitet haben. Diese Erfahrungen sind jetzt in ein Siegel geflossen, mit denen seit dem neuen Schuljahr die ausgezeichnet werden sollen, die sich besonders in ihrer Arbeit gegen Schulmüdigkeit hervor tun und auch präventiv dagegen tätig werden.
Schulmüdigkeit und Schulverweigerung hat viele Gründe
Schulmüdigkeit und Schulverweigerung sind komplexe Themen. Es gibt sehr unterschiedliche Gründe dafür – einen Schulwechsel, Umzüge, Trennungen, Suchterkrankungen, Todesfälle und andere familiäre Probleme, aber auch Mobbingerfahrungen, Streit mit den Lehrer*innen oder Probleme beim Distanzunterricht während der Corona-Zeit.
Die Gründe sind so vielfältig wie die Jugendlichen selbst, die bei der dobeq im Blücherbunker ankommen, weiß Projektbereichsleiterin Katrin Meyersieck. Wenn sie bei der dobeq ankommen, haben sie schon einen großen Schritt gemacht, macht die Sozialarbeiterin deutlich. Denn ist das Problem erkannt, dann kann – und das ist der größere Schritt – am Problem gearbeitet werden.
Wiedereingliederung in den Schulbetrieb als Ziel
Der Kontakt- und Beratungsverbund hilft Schüler*innen, Familien, Bezugspersonen und Schulen dabei, vorzeitige Schulabbrüche zu verhindern, Schulmüdigkeit zu vermeiden, neue Lernmotivation zu schaffen, bei der Wiedereingliederung in den Schulalltag zu helfen und auch dabei, berufliche Perspektiven nach der Schulpflicht zu entwickeln.
Doch dafür müssen die Ursachen erst mal erkannt und angegangen werden. So wie bei Jeremy, der seiner Klassenlehrerin aufgefallen war. Eigentlich war und ist er immer in der Schule gewesen. Immer pünktlich, immer da. Aber mitgearbeitet hat er nicht und – was natürlich noch auffälliger war – hat immer gestört.
„Ich mag meine Lehrerin nicht und sie mag mich nicht“, erzählt der 15-Jährige, der eigentlich im zehnten Schulbesuchsjahr ist, aber die achte Klasse besucht hat. „Sie mag dich. Sie hat dir geholfen, ist aber streng“, ergänzt Meyersieck. Der 15-jährige Förderschüler nickt. „Sie hatte keine Geduld, ich bin immer rausgeflogen“, berichtet er von seinem früheren Schulalltag.
Nach langer Schulverweigerung braucht es wieder eine Tagesstruktur
Das liegt nun eine Weile hinter ihm. Jeremy hat einen der knappen Plätze im Programm ergattert. Im Blücherbunker gefällt es ihm besser als in der Schule. „Hier sind nicht so viele Kinder und wir haben auch mal früher Feierabend. Hier geht es von 8.30 bis 12 Uhr“, berichtet er von der Tagesstruktur im Programm. Wobei der frühere Feierabend eigentlich nicht seine Motivation ist, denn Jeremy ist meist schon um 7.30 Uhr in der Blücherstraße – also eine Stunde früher als nötig.
„Keinen Bock alleine zu Hause oder mit dem Stiefvater. Da fahre ich lieber mit der Bahn mit meinem Bruder.“ Hier macht er – anders als früher in der Schule – seine Arbeitsblätter und freut sich auf das Musikprojekt, wo er Keyboard spielt. Da macht er mit. „Er ist ein total zuverlässiger Typ, der alles regelt. Wenn er etwas zusagt, ist er auch da“, weiß die Sozialarbeiterin.
Das klingt leichter, als es im Alltag ist. Er musste die Grenzen ausloten und Bewegung tut ihm gut. „Du hast dich spitzenmäßig gemacht“, gibt Meyersieck ihm Zuspruch und Bestätigung; Dinge, die er früher kaum erfahren hat. Erfolge werden herausgestellt, aber auch die Einhaltung von Regeln eingefordert.
Stufenweise wird an der schulischen Rückführung gearbeitet. Deshalb ist Jeremy zwei Tage in der Schule und drei Tage im Bunker. „Ich wäre auch dieses Jahr schon wieder in die Schule gegangen, aber das wollen die Lehrer nicht, weil sie Angst haben, dass ich in den alten Modus zurückfalle“, berichtet der 15-Jährige ganz offen. „Und hier mache ich auch die Arbeitsblätter und mache mit.“ Sogar einen Berufswunsch hat der 15-Jährige schon: „In den Straßenbau – eine Arbeit draußen und mit viel Bewegung.“
Stress mit der Schule, dem Amt und der Polizei sind häufig
Einen Berufswunsch hat Summer noch nicht. Das muss man als 13-Jährige auch noch nicht haben. Doch von einem Schulabschluss war sie meilenweit entfernt. Die Probleme begannen nach dem Wechsel von der Grund- auf die Realschule. Dort kam sie nicht klar. Eine große Klasse, Stress mit den Lehrkräften und Mitschüler*innen, Panikattacken.
Daher hat sie zwei Jahre lang immer wieder – teils wochenlang – die Schule geschwänzt und sich mit Freund*innen getroffen. Das sorgte natürlich für Stress mit den Eltern. Die Bußgelder für fehlenden Schulbesuch häuften sich, auch die Besuche der Polizei.
Denn die Teenies bauten „jede Menge Mist“: Sachbeschädigungen, Ruhestörungen. Schlimmeres wäre nur eine Frage der Zeit gewesen. Doch dann gab es mehrere Termine mit Eltern und Schule, die der Kontakt- und Beratungsverbund vermittelt hatte.
Die 13-Jährige wechselte nach den Osterferien ins Projekt. Auch für sie ist die intimere Atmosphäre wichtig. „Hier gibt es weniger Kinder. Es ist nicht so stressig.“ Sie hat schneller Fuß fassen können als Jeremy und geht nun drei Tage in die Schule. Allerdings eine neue Schule, kürzerer Schulweg, mehr Unterstützung, eine Förder- statt eine Realschule. Im Bunker macht sie auch im Musikprojekt mit, spielt E-Gitarre und Bass. „Dabei wollte ich am Anfang gar nicht“, räumt sie ein. Doch sie hat im Projekt Fuß gefasst, der Stress zu Hause ist auch weniger geworden.
Die gute Arbeit des Kontakt- und Beratungsverbundes läuft seit 2001
Darauf warten viele Schüler*innen. Doch Plätze im Programm sind knapp. „Der Kontakt- und Beratungsverbund besteht seit 2001. Die Beratungsstelle kümmert sich um Schüler*innen ab dem 7. Schulbesuchsjahr bis zum Ende der allgemeinen Schulpflicht“, berichtet Oliver Uzunkol, Sozialarbeiter bei Grünbau.
KUBDO vermittelt in die verschiedenen Projekte, zum Beispiel in die Lernwerkstatt Multimedia für die Zehntklässler*innen, in das Programm „Train to Return“ für die Jüngeren oder zum Programm Übergang Schule und Beruf. „Wir arbeiten oft auch schulbegleitend, wenn sie noch keine Verweigerer sind. Dann ist vorrangig, den Schulbesuch zu stabilisieren“, so Uzunkol.
„Bei Verweigerern geht es darum, wieder eine Tagesstruktur anzubieten, die bei vielen verloren gegangen ist. Teils sind sie zwei Jahre nicht zur Schule gegangen. Da ist nicht nur die Schul-, sondern auch die Tagesstruktur verloren gegangen“, erklärt Guido Ehm, Fachanleiter für EDV und Medien bei der dobeq.
„Wir bieten einen festen Rahmen an, an den sie sich halten können und sollen. Dabei arbeiten wir sehr kleinschrittig, führen Gespräche über Defizite, legen gemeinsam Ziele fest, gerade um bei den Großen die Struktur zu verfestigen.“
Niederschwillige Hilfen: Dann arbeiten viele Familien mit
„Dabei ist Transparenz wichtig, was sie dürfen und was nicht. Wir bieten einen Ruhepol und arbeiten ohne Druck“, ergänzt Corinna Skocki, Sozialarbeiterin bei der dobeq. „Die Beratungsstelle arbeitet niederschwellig und ist für die Jugendlichen freiwillig – wir sind nicht vom Amt und nicht von der Schule.“
Daher werden sie als Ansprechpartner*innen außerhalb der Schule akzeptiert, weiß Oliver Uzunkol. Das wirkt sich positiv aus: „Man merkt auch, dass die Situation zu Hause entspannter ist, wenn die Jugendlichen strukturell ankommen und dies auch nach Hause tragen.“
Die Familie kann Teil des Problems oder der Lösung sein. „Manche Eltern arbeiten gut mit, andere verweigern sich“, so Uzunkol „80 Prozent arbeiten sehr gut mit und sind froh, dass der Druck abgenommen hat“, ergänzt Corinna Skocki.
Es gibt viel zu wenig Plätze für Schulmüde und Verweigerer:innen
Das Problem: Die Arbeit ist gefühlt ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Beratungsstelle hat Kontakt zu rund 250 Schulmüden und Schulverweigernden im Jahr. Doch die Lernwerkstatt Multimedia bei der dobeq als Ersatz für den Besuch der zehnten Klasse hat nur 14 Plätze – die Schüler*innen können maximal ein Jahr bleiben.
Bei „Train to Return“ für die Jüngeren gibt es jeweils sieben Plätze bei der dobeq und bei Grünbau und die wurden erst im Frühjahr von insgesamt zehn auf 14 Plätze erhöht – ein Ergebnis der Bekämpfung von Corona-Folgen.
Die Plätze sind viel zu wenig, wissen die Aktiven im Team, auch wenn es keine genauen Statistiken gibt. Denn die Schulen müssen ihren schulmüden Jugendlichen nicht melden. Zwar braucht nicht jede*r Schulmüde einen Platz – „ansonsten wäre der Bedarf noch größer und wir könnten noch mehr Plätze gebrauchen“, weiß Katrin Meyersieck. Und auch nicht jede*r braucht ein Jahr. „Aber wir haben auch Jugendliche, die den Bedarf haben, aber bei uns nicht ankommen, weil die Plätze fehlen“, bedauert Ehm.
Stadt und Bezirksregierung fehlen verlässliche Zahlen
„Zur Messbarkeit der tatsächlichen Größe des Problems fehlt es an einer verlässlichen und systematischen Erfassung von schulabsentem Verhalten, z.B. von Fehlzeiten. Über die Anzahl eingeleiteter Ordnungswidrigkeitsverfahren lässt sich lediglich ein vager Eindruck von der Größe des Problems erkennen“, berichtet Dr. Claudia Schauerte von der Schulpsychologischen Beratungsstelle.
Nach § 41 Abs. 3 Schulgesetz NRW (SchulG) sind Lehrer:innen sowie Schulleiter:innen verpflichtet, Schulpflichtige, die ihre Schulpflicht nicht erfüllen, zum regelmäßigen Schulbesuch anzuhalten und Eltern sowie an der beruflichen Bildung verantwortlich Mitwirkenden einzuwirken.
Diese Aufgabe könne nur erfüllt werden, wenn Fehlzeiten von Schüler:innen sorgfältig erfasst und dokumentiert würden. „Dabei ist zu berücksichtigen, dass jede unentschuldigte Fehlzeit einer schulischen Reaktion bedarf, wobei je nach den Umständen im Einzelfall niedrigschwellige pädagogische Maßnahmen ausreichen können.“
Doch die Praxis sah häufig anders aus: „In einigen Fällen konnte festgestellt werden, dass Fehlzeiten erst am Ende des Schulhalbjahres und ausschließlich zum Zwecke des Ausweises auf dem Zeugnis gesichtet wurden“, heißt es dazu aus der Schulpsychologische Beratungsstelle.
707 Bußgeldbescheide gegen Schüler:innen und 608 Geldstrafen gegen Eltern
„Vor diesem Hintergrund wurden die Schulen 2019 durch die Bezirksregierung noch einmal gebeten, Verfahrensabläufe bei der Dokumentation von und dem Umgang mit Fehlzeiten in der von ihnen geleiteten Schule zu überprüfen und erforderlichenfalls bedarfsgerechte Strukturen zu schaffen“, heißt es dazu weiter von der Beratungsstelle.
Entscheidet sich die Schule bei Fehlzeiten für die Einleitung eines Ordnungswidrigkeitsverfahren, wird die Schulaufsicht informiert. „Es wurden seit 2019 in Dortmund wegen Schulabsentismus 707 Bußgeldbescheide an Schüler:innen verhängt“, berichtet Ursula Kissel, Pressesprecherin der Bezirksregierung Arnsberg.
Doch auch gegen Familien gibt es Strafen: Seit 2019 wurden etwa 608 Bußgeldbescheide gegen Familien in Dortmund verhängt. „Gegen Familien, also gegen Eltern, werden Bußgelder verhängt, wenn die Schüler:innen das 14. Lebensjahr noch nicht erreicht haben, die Eltern die Schüler:innen an keiner Schule angemeldet haben, die Fehltage eine Ferienverletzung darstellen oder Eltern Ihre Kinder nicht an den Schulveranstaltungen teilnehmen lassen“, so Kissel.
Doch das ist nur die halbe Wahrheit: Denn das Thema der Schulmüdigkeit wird damit nicht erfasst – nachgehalten wird nur die Abwesenheit. „Bei schulmüden Jugendlichen liegt es in der Zuständigkeit der Schulen, mit pädagogischen Maßnahmen erzieherisch einzuwirken“, teilt die Bezirksregierung mit.
Gesamtstädtisches „Netzwerk Schulabsentismus“ gegründet
In Dortmund hat man das Thema auf dem Schirm: „Die Zahl der schulmüden Schüler:innen lässt sich nicht erfassen, wenn sie nicht im Unterricht fehlen“, verdeutlicht Dr. Claudia Schauerte. „Da sich dies um einen Themenkomplex handelt, bei dem neben den Schulen auch andere Akteure involviert sind – Jugendamt, Schulpsychologie, Gesundheitsamt usw. – , gibt es einen Arbeitskreis.
Im vergangenen Jahr startete das gesamtstädtische „Netzwerk Schulabsentismus“ mit dem Ziel, mit den lokalen Playern der Stadt zum Thema Schulabsentismus einen gemeinsam abgestimmten, gesamtstädtischen Handlungsleitfadens für Schulabsentismus zu erarbeiten.
„Es gibt verschiedene Formen von Schulabsentismus. Der ,passive Schulabsentismus’ ist eine Form, die im Vergleich zu den aktiven Formen im Allgemeinen etwas weniger im Fokus ist. Im Austausch im gesamtstädtischen Netzwerk wird dieser jedoch gesehen“, betont die Mitarbeiterin der Schulpsychologischen Beratungsstelle.
Neues Siegel startet: Hilfestellungen und Sensibilisierung
Die Bedarfe könnten sogar noch steigen, wenn die Schulen sich konsequenter der Problematik widmen. „Daher haben wir Handlungsempfehlungen und das Qualitätssiegel entworfen. Wir sensibilisieren für Schulmüdigkeit“, erklärt Katrin Meyersieck. Das Siegel wurde im vergangenen Jahr entwickelt und soll ab dem neuen Schuljahr an zwei Modellschulen vergeben werden.
„Dabei arbeiten wir prinzipiell mit allen weiterführenden Schulformen zusammen“, verdeutlicht Oliver Uzonkol. Denn das Thema Schulmüdigkeit und Schulverweigerung findet sich an allen Schulformen und auch in allen Stadtbezirken. Das Siegel soll künftig Schulen auszeichnen, die sich besonders in Arbeit gegen Schulmüdigkeit hervortun und auch präventiv dagegen tätig werden.
„Die rechtzeitige Meldung ist das größte Anliegen. Das ist das A und O für eine bestmögliche Unterstützung, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist“, wirbt Corinna Skocki für eine größtmögliche Sensibilisierung für das Thema. Dobeq und Grünbau wollen mit zwei Schulen beginnen und das dann in den Folgejahren weiterführen.
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Schwerpunkt auf Fake News und Fake Profile in der ‚Lernwerkstatt Multimedia‘ der dobeq (PM)
Seit über 20 Jahren bietet das Projekt ‚Lernwerkstatt Multimedia‘ der dobeq GmbH Schüler*innen die Möglichkeit, ihre Schulpflicht in einem schulfernen Setting zu erfüllen, mit Blick auf die Lebenswelt der Jugendlichen wird eine Tagestruktur erarbeitet und Lernmotivation wiedergefunden. In diesem Jahr wurde in dem tagesstrukturierendem Angebot der Schwerpunkt auf Fake News und Fake Profile gelegt.
Fakt oder Fake? Diese Frage stellt sich gerade in Krisenzeiten, in denen Nachrichten blitzschnell um die Welt gehen. Reißerische Überschriften polarisieren, sind Gesprächsthema und werden häufig unkritisch weitergetragen. Wie verifiziert man eine Meldung, die bspw. über WhatsApp verbreitet wird? Welche Möglichkeiten werden angeboten, angebliche oder reale Fakten zu unterscheiden?
Die Jugendlichen erstellten einen Podcast und berichteten von ihren Gedanken, Eindrücken und Ängsten zu Beginn der Covid 19 Pandemie Anfang 2020, in der viele Gerüchte und Desinformationen bezüglich Corona herrschten.
Der Podcast wurde gemeinsam mit den Teilnehmer*innen, Eltern, Schulsozialarbeiter*innen und interessierten Fachkräften gebührend in der Premiere Feier am 13.09.2022 gewürdigt. Umrahmt wurde die Premiere von einer umfangreichen Ausstellung, die diverse Denkanstöße gab.