Zunehmender Bürokratiestress, der sich mit der angekündigten elektronischen Patientenakte nicht reduziert. Dies kritisieren am Tag der Zahngesundheit die geladenen Podiumsgäste im Bürgerhaus der Stadt Dortmund.
Zunehmende Digitalisierung überfordert viele Fachkräfte
„Die starken Umstellungen in Sachen Digitalisierung und neu zu erlernenden Fähigkeiten, stellt die Fachkräfte vor große Hürden“, erklärt Dr. Sabine Wagner, Zahnärztin und Vorsitzende der Vertreterversammlung der kassenzahnärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe (KZVWL). Sie leitete durch die Diskussion mit Zahnärzte, Ärzten Vertreter:innen der CDU, Linke und der Grünen, sowie ein Apotheker und die Patientenfürsprecherin des Marienhospitals in Hombruch.
Mit Wagners Impulsvortrag startet die Diskussionsrunde. Besonders ältere Mitarbeiter:innen hätten Probleme mit der Digitalisierung betont auch Apotheker Schaefer. Alle Anwesenden sind sich einig, dass die Zeit, die für digitale Dokumentationen der Behandlungen verwendet wird, anders genutzt werden könne. Zum Beispiel in der Behandlung von Patient:innen.
Die Attraktivität der Assistenzberufe würden durch die zunehmenden Nebenaufgaben verringert „[…] und das in Zeiten des Fachkräftemangels“ beklagt sich Wagner. Besonders durch die fürs kommende Jahr geplante elektronische Patientenakte, erhöhe sich die Verwaltungsarbeit deutlich.
Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA)
Die elektronische Patientenakte soll ab dem 15. Januar nächsten Jahres in Deutschland etabliert werden. Die anwesenden Medizinier sehen jedoch noch starkes Verbesserungspotential in der Patientenakte.
Die Übertragung der Befunde aus den Praxis-Verwaltungssystemen in die Patientenakte sei mangelhaft geregelt. Es würde zu weiterer Verwaltungsarbeit führen.
„Wir stehen auf jeden Fall nicht gegen die Digitalisierung, es muss nur sinnhaft sein“ erläutert Dr. Dr. Michael Bartling, Zahnarzt und stellvertretender Vorsitzender der Bezirksstelle Dortmund. Ihm graut es vor hunderten schlecht beschrifteten PDF-Dokumenten in der ePA.
Negativ bewerten einige Anwesenden ebenfalls, dass die Patient:innen den genauen Inhalt der ePA frei auswählen können. „Der Patient entscheidet was da draufkommt, solange der Patient das entscheidet, kann ich damit nichts anfangen“, so Dr. Prosper Rodewyk, Leiter der Bezirksstellle der kassenärztlichen Vereinigung Westfalen Lippe (KVWL) in Dortmund.
Sonja Lemke aus dem Rat der Stadt Dortmund und der Fraktion die Linke widerspricht: Das Selbstbestimmungsrecht sei sinnvoll. Zusätzlich gäbe es wenig Unterschied zu der momentanen Situation. Ärzt:innen hätten auch momentan keinen genauen Überblick über alle Behandlungen der Patient:innen.
Nächster Kritikpunkt: Datensicherung. Laut Zahnarzt Dr. Walter würden die Daten in pseudonymisierter und nicht anonymisiert zur Verfügung stehen. Zugriff darauf hätte die Forschung und bis jetzt noch nicht festgelegte andere Institutionen. Anscheinend wäre durch die Pseudonymisierung eine Identifikation der Patient:innen nicht sonderlich schwierig. Die Podiumsgäste erklären, dass dies vielen Patien:innen nicht klar wäre. Es läge an den Krankenkassen darüber zu informieren. „Die Krankenkassen sind dieser Aufklärungspflicht in keinster Weise nachgekommen“ meint Walter.
Kritik an der Digitalisierungspolitik der Ampelkoalition
„Die nächste Bundesregierung wird einen nie dagewesenen Bürokratieabbau machen müssen“ erklärt Dr. Stefan Wallmeyer, Facharzt und Mitglied der CDU Dortmund. Insgesamt kritisieren alle Podiumsgäste, dass politischen Entscheidungen in dieser Hinsicht ohne wirkliche Absprache mit den betroffenen Praxen getroffen worden sein. Auch aus dem Publikum ist der Unmut zu hören „Man will die Expertise von Experten einfach nicht haben“ beschwert sich ein Zuschauer.
Auch die Wahlergebnisse in Brandenburg und Thüringen werden kurz angesprochen. Konsens ist: Man sei unzufrieden mit der Situation, die Politik mache momentan keine gute Figur, was sich in en jüngsten Wahlergebnissen zeige. Das Plenum ist sich einig, dass Veränderungen für eine Verbesserung der Gesamtsituation von der Politik kommen müsse.
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Reaktionen
Kate
Und wenn man sich die heutige Statements zur ePA u.a.vom Bundesgesundheitsminister bei der Bundeskonferenz, welche auf Phoenix ausgestrahlt wurde, angehört hat, dann weiß man: die haben absolut Nichts verstanden und es wird nicht besser.Das sagt jemand, der aus dem eHealth-IT-Bereich kommt.
Elektronische Patientenakte – das Ende der Schweigepflicht? Lesung und Diskussion in Dortmund: Taranta Babu 7.11.2024 (PM)
Zur elektronischen Patientenakte (ePA) gibt es viele offene Fragen: Soll man widersprechen oder nicht? Das müssen derzeit alle gesetzlich Versicherten entscheiden und werden dazu von ihrer Krankenkasse per Brief aufgefordert. Wenn sie nicht reagieren, wird automatisch ab Januar 2025 eine elektronische Patientenakte für sie eingerichtet (Opt-Out- bzw. Widerspruchslösung).
Am 7.11.2024 um 19 Uhr sollen in einer Autorenlesung mit dem Münchener Psychiater Dr. Andreas Meißner im Literatur-Cafè Taranta Babu, Humboldtstraße 44, wichtige Hintergründe beleuchtet werden. Es wird Platz für Fragen und Diskussion geben.
Viel zu wenige Menschen wissen bisher darüber Bescheid und denken, dass die Behandlungsdaten gut geschützt auf der eigenen Gesundheitskarte gespeichert würden, Tatsächlich werden sie aber zentral auf Servern großer Unternehmen wie Bertelsmann-Arvato und IBM gespeichert und sind für Praxen, Apotheken und Krankenhäuser jeweils eine Zeit lang zugänglich, wenn man dort behandelt wurde.
Brisanter ist jedoch, dass die Daten der – nicht nur streng medizinischen – Forschung zur Verfügung gestellt werden und per Europa-Gesetzgebung in den Europäischen Gesundheitsdatenraum wandern, u.a. zum Trainieren von KI. Dies soll nur pseudonymisiert, also rückverfolgbar geschehen.
Es handelt sich hierbei um einen enormen gesellschaftlichen Umbruch, weg von der ärztlich-therapeutischen Schweigepflicht hin zu auch fremder Datenverwertung ohne Einholen einer Zustimmung. Die verschiedenen Leistungserbringer sind verpflichtet, die Daten einzuspeisen. Nur wenn die Patientin / der Patient dem automatischen Anlegen einer elektronischen Patientenakte widersprochen hat, kann dies nicht geschehen.
Andreas Meißner hat schon 2019 mit dem Bündnis für Datenschutz und Schweigepflicht (BfDS) eine erste Bundestagspetition auf den Weg gebracht für die Freiwilligkeit des Anschlusses von Praxen an die Datenautobahn im Gesundheitswesen, genannt Telematik-Infrastruktur. Weitere Petitionen und Aktionen aus diesem Bündnis folgten. Das über die Jahre gesammelte Wissen hat er nun in einem Buch mit dem in der Überschrift genannten Titel für PatientInnen zusammengetragen, das Ende Mai 2024 erschienen ist. Aus diesem Buch wird er lesen und in seinem Vortrag weitere Informationen einbringen.
Zusatz-Informationen:
Die ePA gibt es bereits seit 2021, allerdings als Opt-In-Variante, also per Antrag an die Krankenkasse. Sie wird aber kaum genutzt (nur von ca. 1 % der Versicherten). Daher hat Gesundheitsminister Lauterbach mit seiner Digitalstrategie Gesetze auf den Weg gebracht, um sein Ziel, dass 80 % der Versicherten bis 2026 eine ePA haben sollen, zu erreichen. Dies geschieht durch die Widerpruchslösung in der wohl begründeten Hoffnung, dass viele Menschen den Aufwand des Widerspruchs nicht auf sich nehmen werden.
Das BfDS ist auch Teil des Bündnisses widerspruch-epa.de, in dem sich etliche Initiativen und Netze zusammengeschlossen haben, um kurz und knapp zu informieren und einen Widerspruchs-Generator zur Verfügung zu stellen.
Am 11.10.2024 hat Gesundheitsminister Lauterbach den Big Brother Award für die ePA-Gesetzgebung verliehen bekommen. Dieser „Negativpreis für Datenkraken“ wird von Bürgerrechtsorganisationen wie z.B. Chaos Computer Club und Digitalcourage e.V. ausgelobt. Er soll zum Dialog über die kritischen Aspekte der Digitalisierung einladen. Unter an Datenschutz Interessierten hat diese Preisverleihung für viel Aufmerksamkeit gesorgt. (ogy.de/bigbro+)
Die Lesereise wird Andreas Meißner neben Bielefeld auch nach Dortmund, Köln & Drensteinfurt führen, außerhalb von NRW auch nach Frankfurt und München. Die beteiligten Buchhandlungen melden bereits verstärkte Nachfragen nach Informationen.