Wo die einen feiern, andere ihren Schlaf suchen, sind auf engem Raum soziale Konflikte unausweichlich. Das spiegelt sich beispielsweise im Westpark oder auf der Möllerbrücke, mit begleitenden Themen wie notorische Vermüllung. – Das freilich ist nicht die ganze Wahrheit. Zum Gesamtgeschehen gehören ebenso besondere Bedürfnisse junger Menschen: freie Selbsterfahrung, was Ausprobieren, auch oder gerade, weil die Alten Regelbrüche nicht so prickelnd finden. – Zwischen „informalen“, nicht-organisierten Jugendszenen, Anwohner:innen, Ordnungskräften und auch inmitten des Nachtlebens befindet sich das Handlungsfeld eines ambitionierten Dortmunder Pilotprojektes, angestoßen vom neuen Nachtbeauftragten der Stadt, Christoph („Chris“) Stemann.
Fragen ums „Amsterdamer Modell“ in einem „ABöOAB“ – bitte?
Der sollte in dieser Woche, Dienstag, 10. Mai, im ABöOAB das „Amsterdamer Modell“ vorstellen. – Bahnhof? Der Reihe nach. – Zunächst die monströse Abkürzung. Sie steht für einen Ausschuss (erstes A), beigeordnet dem Dortmunder Stadtrat, der sich wesentlich mit zwei gewichtigen Arten von Anliegen befasst. ___STEADY_PAYWALL___
Die eine geht von Bürger:innen der Stadt aus, richtet sich an Politik wie Verwaltung und betrifft deren Anregungen (zweites A) oder Beschwerden (zweites B) zum Leben in Dortmund. Die andere bezeichnet eine Aufgabe und ein zentrales Motiv staatlich-kommunalen Handelns; hier der Dienst am Bürger, sprich „Bürgerdienste“ (erstes B), dort die „öffentliche Ordnung“ (öO), die gewahrt bleiben möge. Daher „ABöOAB“.
In dem Fachgremium sollte also erwähntes „Amsterdamer Modell“ Thema werden. Ein Missverständnis, wie sich schnell herausstellte. Beruhend auf der falschen Annahme, mit gleichnamigem Konzept wolle die Stadt einen Blick auf jugendliche Freiflächen-, Platz-, Parkkulturen werfen. Das will sie zwar durchaus – doch Dortmund hat einen eigenen Plan für Möllerbrücke, Westpark & Co. Zuständig dafür: der erste städtische „Nachtbeauftragte“, Christoph Stemann.
Potentieller Ansprechpartner für organisierte wie nicht-organisierte Kulturszene
Seine Stelle wurde vor etwa zehn Monaten bei der Dortmunder Wirtschaftsförderung eingerichtet. In seinem „früheren Leben“ war Chris Veranstalter/Eventmanager, DJ und in dieser Rolle als „Firestarter“ weit über die Region hinaus bekannt. Jetzt ist er städtischer „Nachtbeauftragter“, um die entsprechende Kulturszene zu beleben. Die sich nach Sonnenuntergang entfaltet und eine Großstadt nicht nur schmückt, sondern ebenso der Prosperität dienlich ist.
Doch neben einer jeden etablierten Szene, in der das persönliche Erlebnis mit Kosten verbunden ist, entstehen weniger organisierte Subkulturen. Milieus informeller Ansammlungen von Jugendlichen etwa, gebunden an Orte mit Freiflächen, zu bestimmten Zeiten. Wie an der Möllerbrücke im Kreuzviertel, im Westpark, ums Dortmunder U.
Auch darum sollten sich „Nachtbürgermeister“ kümmern, wie sie anfangs offiziell genannt wurden. In der Bundesrepublik gibt es sie seit Sommer 2018, erstmals in Mannheim. Nach Amsterdam 2003, in der Folge New York, London, Zürich, u.a. Es dauert hierzulande halt ein wenig, bis der Groschen fällt. Doch seither ziehen andere Kommunen wie Dortmund nach.
Das war hier im Spätsommer letzten Jahres: Seither kümmert sich Christoph Stemann, nennen wir in fortan Chris, nicht nur um die organisierte Dortmunder Club- und Veranstaltungsszene, sondern ist Ansprechpartner für alle, die gerne feiern. Ebenso wie für potentiell genervte Anwohner:innen und natürlich für manche kommunale Akteure, die von Berufswegen auch nach Anbruch der Dunkelheit unterwegs sind.
Local Crews zur Ansprache von jungen Menschen in öffentlichen Räumen?
Zum Anforderungsprofil seiner Tätigkeit gehört der Kontakt zu politischen Gremien. In den Fachausschuss ist er gekommen, um zu einer älteren Anfrage von Bündnis 90/Die Grünen und CDU wegen des gerade „im Feld“ angelaufenen Projekts Stellung zu nehmen. Die beiden Fraktionen hatten Klärungsbedarf angemeldet.
Und zwar zu den Plänen von Stadtspitze/Wirtschaftsförderung, wie die Anfrage erläutert, wonach die „Umsetzung des Amsterdamer Modells mit sogenannten ‚Local Crews‘ zur Ansprache von Menschen auf öffentlichen Plätzen wie dem Westpark, der Möllerbrücke und dem Dortmunder U“ vorangetrieben werden solle. Also im Rahmen des Dortmunder Pilotprojektes, das nicht mit dem „Amsterdamer Modell“ zu verwechseln ist.
„Grundsätzlich heißen wir es gut“, machen die in Vertretung zeichnenden Autor:innen in der Anfrage klar, „wenn Überlegungen zur ‚Befriedung‘ der Nutzung des öffentlichen Raums getätigt werden“. Doch es bleiben offene Fragen. Die betreffen unter anderem maßgebliche Gründe seitens der Stadt für „eine Festlegung auf das Amsterdamer Modell“ und, ob auch „andere Modelle in Erwägung gezogen worden“ seien (wie „Awareness-Teams” in Wien oder das der Parkläufer*innen in Berlin)?
Sind Jugendliche in der Öffentlichkeit die besondere Problemgruppe?
Was sich zugegebenerweise etwas langweilig anhört, zumindest weniger politisch denn eher sozialwissenschaftlich orientiert. Das eigentlich Spannende ist die sich daran in besagtem Ausschuss entzündende Diskussion. Sie verläuft zwischen zwei Polen.
Den einen Pol bildet das Selbstverständis des Pilotprojektes. Der Ansatz zielt mit breiter Perspektive auf das Problem, wie eine Annäherung an das städtische Nachtleben jenseits der etablierten Clubszene möglich sein könnte – unter Einschluss aller maßgeblichen Akteure und Wahrung von deren Interessen.
Dagegen fokussiert sich die grün-christdemokratische Nachfrage eher auf eine Gruppe unter allen Beteiligten, die offenbar als Kernproblem wahrgenommen wird. Das sind feiernde Jugendliche in der Öffentlichkeit, um deren „Befriedung“ es letztendlich geht, weil es andere stört, was sie treiben. Weniger freundlich ausgedrückt: Wie endlich für Ruhe und Ordnung gesorgt werden kann. So zumindest könnte die Anfrage im Kern gelesen werden.
In der Ausschuss-Diskussion spielte diese Sichtweise nun insofern eine Rolle, als sie Teil einiger interessanter Nachfragen wurde, allerdings aus anderer Perspektivik.
Typische Konflikte – wo viele Menschen auf engem Raum zusammenleben
Was Chris zum neuen Pilotprojekt „informales Nachtleben“ dem Ausschuss vermittelt, das gerade rechtzeitig zur warmen Jahreszeit an bekannten Dortmunder Hotspots startet, ergibt ein komplexes Bild. Am unkompliziertesten ist es noch, die Bezeichnungfrage aufzuklären: mit einem „Amsterdamer Modell“ habe sein Ansatz inhaltlich kaum etwas zu tun, bedeutet der Nachtbeauftragte. Bei dem sei es eher um touristische Zielgruppen gegangen.
Der Problemhorizont, der sich mit dem Dortmunder Projekt aufspannt, reicht weiter, soll es zumindest. Sicher, anlassbezogen, wenn etwa lokale Beschwerden gesammelt würden, liegen im Union- oder Kreuzviertel die Ursachen häufig bei Ansammlungen von jungen Leuten, aus deren Kreis heraus es zu Verhaltensweisen kommt, die den legitimen Erwartungen von Nachbarschaften zuwiderlaufen: Ruhestörung, Vermüllung, etc. Was also niemand wirklich braucht.
Doch wer braucht was, was nicht? Hier einen vernünftigen Interessenausgleich aller herzustellen, die an potentiell heraufbeschworenen Konflikten mittelbar oder unmittelbar beteiligt sind – das ist wohl Kerngedanke für die Projektintervention. Mit der in der Tat alle Beteiligten gemeint sind. Keine Gruppe weniger.
Da ist ein für bevölkerungsreiche Zentren typischer, häufig eher jugendlicher Nachtschwarm, jenseits der Kulturindustrie. Treffpunkt sind öffentliche Orte. Plätze, umgeben von Anwohnerschaften mit weit gestreuten Bedürfnissen, auch dem nach Nachtruhe. In dieser spannungsgeladenen Grundkonstellation daher, drittens, und mit von der Partie: präsente Ordnungskräfte verschiedener Couleur, beauftragt, den sozialen Frieden zu wahren, wenn’s knistert im Gebälk. – Wie nun alle Motive, Interessen, Erwartungen unter einen Hut bringen?
Wieso einen Nachtbeauftragten – angesiedelt bei der Dortmunder Wirtschaftsförderung?
Auch damit beschäftigt sich Chris, doch es gehört eigentlich nicht zum Kerngeschäft als Dortmunder Nachtbeauftragter. Innerhalb der städtischen Verwaltungsstruktur ist seine Stelle der Wirtschaftsförderung zugeordnet. Nicht ohne Grund: „Das organisierte Nachtleben zu begleiten“, darin bestünde in erster Linie seine Aufgabe, sagt er. Mithin zu fördern, was Wirtschaftszweig ist.
Sofort regt sich im Ausschuss ein Verdachtsmoment: Also eine Organisation des Nachtlebens auf rein kommerzieller Schiene? Das möchte Uwe Martinschledde von der Fraktion Die Linke+ wissen.
Ordnungsdezernent Norbert Dahmen hat gleichsam entwaffnende Worte parat, die auch frei nach Robert Lembke hätten formuliert werden können: Welches Schweinderl Sie denn gerne hätten: geballte Ordnungsmacht oder schnöden Kapitalverkehr?
Ursprünglich, ja, erläutert er, bei Einrichtung der Stelle, da sei angedacht worden, sie bei sich, also beim Ordnungsdienst einzurichten. Doch gab’s die Überlegung, dass gerade der Nachtbeauftragte sich um nicht-organisiertes Leben kümmern solle. Dort Vertrauter ist, indem er Menschen aus der Szene auf einer „emotionalen Ebene“ erreicht.
Was sich schwieriger gestaltet, agiert ein Nachtbeauftragter mit formaler Rückendeckung aus dem Dahmen-Dezernat. Denn alle ecken bei Ordnungsinstanzen mal an, wenn auch nur mit einem „Knöllchen“, und hegen daher aus einer Logik von „Sippenhaft“ gewisse Ressentiments.
Demgegenüber wirkt die Wirtschaftsförderung eher neutral und kommunales Prosperieren, auch übers Nachtleben, ist ja durchaus wünschenswert. Mit anderen Worten, könnte suggeriert werden: Es geht eigentlich „um Kohle“, während sozialer Unfriede an Rändern – so durch nicht-organisierte Ansammlungen in öffentlichen Räumen – beim Füllen der Stadtkasse kontraproduktiv wirkt: bringt nichts ein – außer Ärger.
Dortmunder Pilotprojekt fixiert nicht-organisiertes Nachtleben in westlicher Innenstadt
Konzeptionell ist das angelaufene Dortmunder Pilotprojekt nicht eindimensional. Sein Fokus liegt auf Spannungsverhältnissen im öffentlichen Raum, wo Jugend Ausdruck sucht. Informell und schwerpunktmäßig in der westlichen Innenstadt – mit bekannten Anziehungspunkten wie Möllerbrücke, Westpark oder dem Dortmunder U.
Wo sich – auch in Ermangelung anderer Möglichkeiten – vorwiegend jüngere Leute treffen, „um sich auszuprobieren“, wie Chris sagt. Was nicht immer von allen gerne gesehen wird, die umliegend heimisch sind. Denn Alltag und Feiern sind wie sich hassende Zwillinge.
Seit über sechs Monaten beschäftigt er sich mit der Gemengelage an den Hotspots, hat mit allen Parteien gesprochen. Die Quintessenz nach ersten Kontakten, stellt er fest: Eine große Toleranz seitens der Anwohner:innen, nächtliches Leben, seine Notwendigkeit anzuerkennen, aber auch eine große Bereitschaft bei jungen Menschen, „die sich mitgenommen fühlen, Regeln einzuhalten“.
Erster Einsatz „im Feld“: Teams am vergangenen Wochenende unterwegs
Der Projektaufbau wirkt filigran. Er basiert auf drei Säulen, bestehend, erstens, aus dem Präventions-/Deeskalationsteam im öffentlichen Raum; das sind die Dortmund Guides vor Ort.
Nach gründlicher Vorbereitung waren sie am vergangenen Wochenende erstmalig „im Feld“, d.h. unter jungen Leuten auf den betreffenden Flächen unterwegs. Die sollen nun, zweitens, bespielt und drittens räumlich adäquat gestaltet werden.
Das Dortmunder U, Nachtbeauftragter und Ordnungsamt stellten „eine Kernarbeitsgruppe dar“, um zu schauen, wie ein interdisziplinär besetztes Team aufgestellt werde könne, erläutert Chris. Wissenschaftlich begleitet wird die Projektdurchführung von Sozialwissenschaftler:innen der FH Dortmund.
Während seiner Präsentation zeigt er Momentaufnahmen aus den bisherigen Projektphasen: vom Kick Off-Workshop, den Schulungsräumen in der Kampstraße, Fotos aus dem Westpark vom letzten Wochenende, darunter sein „Highlight“, wie er sagt.
Verpackter Müll im Westpark: kleine Maßnahme – merklicher Erfolg
Darauf ist Müll abgebildet, säuberlich in Beuteln abgestellt, von einzelnen Gruppen aus dem Westpark, die das Team zuvor angesprochen hatte.
Denn es sei schon oft so, erklärt Chris mit leicht bissigem Unterton, „dass sich die Kids vom SUV der Mama zur Fridays For Future-Demo fahren lassen und dann aber am Abend den Westpark komplett füllen“, sprich: beim feucht-fröhlichen Grillen vollmüllen.
Doch es gibt Hoffnung: Eine kleine Maßnahme habe ja bereits nach einem Tag gegriffen, stellt er fest. „Das macht Mut.“ – Alle Erfahrungen im Feld sollen dokumentiert werden. Nach den ersten Einsätzen am letzten Freitag und Samstag ist gleich ein Tagebuch für alle Projektbeteiligten angelegt worden.
Darin nachzulesen: Wer wo war, welche besonderen Vorkommnisse es gegeben habe, usw. Da könne sich der Herr Dahmen, sagt er Richtung Ordnungsdezernet, quasi beim Frühstück und per Link gleich darüber informieren, was in der Nacht zuvor passiert sei.
Junges Leben braucht eigene Erfahrungen, statt von den Alten nur zu hören, was nicht geht!
Solche Ausführungen zum Pilotprojekt kommen in dem Fachausschuss für Ordnung an. Um Problemdimensionen an den genannten Hotspots in der Innenstadt-West weiß hier eh jeder und findet vermutlich gut, dass überhaupt was passiert.
Was einigen zu kurz kommt, ist offenbar, der Jugend und ihren Interessen eine stärkere Stimme zu geben.
Zumindest bei einer gewissen Sensibilität gegenüber den Untiefen staatlich-paternalistischer Gängelung eines in frühen Jahren allzu menschlichen Hangs, dem wir alle irgendwie erlagen: mehr erleben zu wollen, als eine altkluge Welt voller Ordnungsregeln zu bieten hatte.
Fatma Karacakurtoglu (Fraktion Linke+), seit geraumer Zeit ehrenamtlich in migrantischen Communities unterwegs, umkreist das Thema mit eigenen Erfahrungen. Sie berichtet: Dort seien ihr auch Videos gezeigt worden, „wie es bei denen aussah“, wenn gefeiert wurde. Mit der anschließenden Frage, zur bundesrepublikanischen Wirklichkeit: Wieso es denn hier nicht solche Partys gäbe?
Jugendliche Ausgelassenheit zunehmend als Randerscheinung disqualifiert?
Die so aufgestoßene Debatte beinhaltet normative wie deskriptive Komponenten, die, wie immer, wenn es um Politik geht, alles andere als trennscharf sein wollen. Was in ihren Augen grundsätzlich anders sein sollte, das ist, so die Sprecherin von Linke+, dass mehr Jugendlichkeit „in unserer Gesellschaft wieder ihren Platz“ finden müsse. Und fragt: Wo das denn konkret möglich sei?
Auch in Dortmund herrscht offenbar ein (ob nun wahrer oder nur wahrgenommener) Mangel an Gelegenheiten für junge Menschen, worin sich deren besondere Lebensgefühle über die angebotenen Standard-Events hinaus spiegeln könnten.
„Ich könnte keine fünf Locations aufzählen, die für Jugendliche richtig super attraktiv wären in der Nacht. Das finde ich persönlich sehr traurig“, bekennt Fatma Karacakurtoglu.
Jugendliche in der Öffentlichkeit, die würden immer mehr zu einer Randerscheinung. Ob’s nun an der Sicherheit läge, „die wir haben wollen“, versucht sie sich in fragwürdige Stimmen konservativer Provenienz hineinzudenken. Wo feiernde Jugendliche wie im Westpark, wenn nicht als bedrohlich, dann doch eher als Belästigung empfunden würden, statt auch mal „ausgelassen sein zu können“ – gerade auch wegen der Corona-Pandemie: so nachvollziehbar.
Suche nach passenden Locations aus der Not – mit Treffern auch jenseits von Einverständnis
Was in Dortmund fehle, stellt Fraktionskollege Uwe Martinschledde fest, das seien eben die nicht-organisierten Bereiche. Mit Räumen, wo Jugendliche sich sammeln, treffen können – ohne dass es per se ans Portemonnaie geht, versteht sich. Es folgt: Wo das fehlt, beginnt die Suche. Auch gefolgt von Aufschlagtreffern, die ggf. jenseits von Einverständnissen aus der Nachbarschaft liegen. Mit anderen Worten: Willst Du was Cooles erleben, gibt’s eigentlich nur Ärger.
Kompetenzen im Sinne des Pilotprojektes, für einen Ausgleich zum Wohle aller – die sind eigentlich und nur genau deshalb erforderlich, so der weitere Argumentationssinn. Sie fungieren demnach als Kompensation einer an sich behebbaren Mangelsituation für jugendliche Zugänge bezüglich passender, d.h. auf ihre Bedürfnisse abgestimmte Welten eigenen Erlebens. Was mithin fehlt, kann allein in der Objektivität veränderbarer Sachverhalte verortet werden: es bräuchte schlicht ein Mehr an Locations.
Das sieht Chris anders; für ihn liegt im Grunde ein Wahrnehmungsproblem vor. „Locations“ im Sinne eines organisierten Nachtlebens, da gäbe es in Dortmund „so viele neue junge Kollektive und Clubs, von denen man vielleicht nicht weiß, aber die da sind“. Zumal wegen der Pandemie niemand habe schließen müssen. Und resümiert: „Es ist alles nicht so schlecht, wie es ist.“
Ein wichtiges Indiz hierfür – aus seiner Sicht: der empirisch sinkende Altersdurchschnitt in Dortmund. „Das heißt, die jungen Leute, die ziehen hier nicht weg.“ Weil von ihnen die lokale Breite und Attraktivität bestehender Angebote relativ zu denen in anderen Städten bevorzugt wird. Und sie deshalb blieben.
Fragen der Stadtentwicklung: Dezentralisierung braucht kurze, sichere Wege
Was sich im Laufe der Zeit aber bemerkbar gemacht hat, das ist eine Dezentralisierung von Angeboten: in der Stadt, fürs Nachtleben. Alles sei damals zentrierter gewesen, weiß Chris aus eigenen Erfahrungen. Zwischen verschiedenen Quartieren, Kollektiven, Clubs heute, da brauche es kurze Wege. Womit Fragen der Stadtentwicklung aufgeworfen werden. Einschließlich Vernetzung durch einen erschwinglichen ÖPNV, ließe sich hinzufügen.
Strecken zwischen einzelnen Locations müssen darüber hinaus sicher sein. Der Nachtbeauftragte bringt ein Beispiel, das zweier „jungen Mädels“, die morgens um zwei aus dem MOOG, einer „Bar mit Discofeeling“, unten im Dortmunder U, „rausgescheppelt kommen“: die „überlegen sich momentan sehr wohl, ob sie noch die Kampstraße runtergehen …“
Solche Verbindungsflächen sollen mit den Dortmund Guides bespielt werden, die wie ein Wegweiser funktionieren, so der Plan. Im Idealfall ein mobiles Team für die ganze Stadt.
Dass Dortmund in einer internationalen Nightlife Community nicht gerade als das letzte Kuhdorf betrachtet wird, zeigt sich für Chris an der Vergabe von „Stadt nach Acht“, der größten europäischen Nachtleben-Konferenz. Letzten November in Berlin, wird sie in diesem Jahr, am 1. und 2. September nach Dortmund kommen. Die Stadt habe sich gegen andere Zentren wie Zürich, Hamburg, Frankfurt durchgesetzt, berichtet er dem Ausschuss.
Jugend ohne Maß? – Von „Befriedung“ und Schreckensbildern besinnungsloser Ausgelassenheit
Doch was haben junge Menschen auf der Möllerbrücke eigentlich mit kommerziell vergifteten Glitzerwelten zu tun? Die es ihrer Ansicht nach vielleicht sind. Wo sie fernab bleiben wollen.
Weshalb fehlen alternative Kulturangebote, Freiflächen, ohne Angst, wenn nicht alle Regeln eingehalten werden?
Was bedeutet „Befriedung“, für die Grüne wie CDU in ihrer Anfrage sich stark machen?
Mit dem Motiv, über enge Regelwerke erhöhten Anpassungsdruck auf Ausweichflächen zu erzeugen, wo sich mangels Alternativen junge Leute ansammeln?
Deren etwaige Ausgelassenheit solle im Grunde „zur Besinnung“ gebracht werden, befürchtet auch Fatma Karacakurtoglu.
Dagegen verwahrt sich der Dortmunder Nachbeauftragte ausdrücklich. Es ginge in dem Projekt darum, dass sich junge Leute „an öffentlichen Plätzen sicherer, gut fühlen“. Da solle nichts geglättet oder unterbunden werden. Ziel sei es nicht, „die Jugendlichen zu vertreiben“, macht er wiederholt deutlich.
Von Ruhe und Ordnung – und dem Puls öffentlichen Lebens
Zweifelsfrei sind Zustände, die beispielsweise mit „Ruhe und Ordnung“ umschrieben werden können, auch Ausdruck eines gesellschaftlichen Bedürfnis; doch können sie nicht exklusiv den Puls öffentlichen Lebens bestimmen – erst recht nicht nach Sonnenuntergang. Sonst ist eine Stadt tot. Darüber sind sich alle im Klaren.
Die Nutzung von Freiflächen spiele in den Überlegungen der Stadt durchaus eine Rolle, informiert Chris: sie müssten jungen Leuten zur Verfügung gestellt werden, wo Bedarf existiert, scheint etwa am Samstagsnachmittag die Sonne.
Das geht freilich nicht bedingungslos, ohne Auflagen. Sicherheit muss gewährleistet sein – und Gemeinverträglichkeit auch. Konkret etwa: dass hinterher wieder sauber gemacht werde. Ebenso müssen die Interessen von Anwohner:innen gewahrt bleiben. Bei allem Spaß, den niemand nehmen will. Gerade hier verstehen sich die Projektträger als Ansprechpartner.
„Wenn es für Kapstadt reicht, ist es vielleicht auch für die Möllerbrücke oder den Westpark geeignet“
Jacques Armel Dsicheu Djine von den Grünen erinnert an die Nachfrage seiner Fraktion, zusammen mit der CDU: Ob man sich nicht auch mit anderen Modellen auseinandersetzt habe, wie beispielsweise erwähnten „Awareness Teams“ aus Wien oder den Berliner Parkläufer:innen. Was deren Nachteile bzw. die Kriterien für die in Dortmund getroffene Entscheidung gewesen seien – also so und nicht anders in dem Projektrahmen zu verfahren?
Im Vorfeld habe ein interner Austausch stattgefunden, mit Vertreter:innen der Kommune, Ordnungsdiensten, dem Jugendamt, sagt Chris; weiterhin war er erst einmal zwei Monate lang in der Szenerie von Betroffenen unterwegs. Anwohner:innen wie Jugendliche hätten sich dadurch wahrgenommen gefühlt. Kriterien, wonach jetzt gearbeitet wird, seien einerseits daraus entstanden.
Der andere Punkt: seine Erfahrungen aus Südafrika. Das war in Kapstadt, Dezember 2009, mit 200.000 Gästen, als für die damalige FIFA-WM die finale Auslosung anstand. Währenddessen seien dann Teams unterwegs gewesen, die den Durchschnitt der Menschen abbildeten, daher auf Augenhöhe Beziehungsarbeit leisten konnten.
Mit Erfolg: Es habe keine Toten gegeben – nicht schlecht, wer die dortigen Verhältnisse kennt. Erfreulich: das damals angeschobene Team sei heute noch in den Townships nachhaltig verankert, die nächtliche Kriminalität dort runtergegangen. „Wo ich mir denke: Hey, wenn es für Kapstadt reicht, ist es vielleicht auch für die Möllerbrücke oder den Westpark geeignet.“
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