Von Alexander Völkel
„Mir ist das hier sicherer, bevor ich irgendwo draußen draufgehe“, sagt Paul (Name geändert). Mit „das“ meint der gepflegt aussehende Mitdreißiger seinen Drogenkonsum. Er wollte sich „mal eben“ im „Kick“ – so heißt der Drogenkonsumraum im Schatten des Gesundheitsamtes in der Dortmunder City – die nächste Dosis Heroin verabreichen.
Schätzung: In Dortmund gibt es 4000 bis 5000 opiat-abhängige Menschen
Unruhig tritt Paul von einem auf den anderen Fuß. Dienstags ist es hier immer besonders voll. Er muss warten, bis ein Platz im Konsumraum für ihn frei ist und er sich unter Aufsicht seine nächste Dosis Heroin verabreichen kann. Paul möchte das nicht in der Öffentlichkeit oder auf einer Toilette machen. „Es ist mir peinlich, wenn mich dabei einer stört.“
Die Drogenabhängigen sind sehr unterschiedlich – und auch sehr unterschiedlich durch ihre Suchterkrankung beeinträchtigt. „4000 bis 5000 opiat-abhängige Menschen gibt es in Dortmund“, schätzt Dr. Thomas Lenders. Der Mediziner ist Leiter des sozialpsychiatrischen Dienstes des Gesundheitsamtes und damit auch für den Drogenkonsumraum zuständig.
Der größte Teil der opiat-abhängigen Menschen nimmt Heroin. 1500 von ihnen sind in der von Krankenkassen finanzierten Methadon-Behandlung. Unter ärztlicher Aufsicht bekommen sie ihre tägliche Opiat-Dosis in Sirupform.
Der entscheidende Vorteil: Die Sterblichkeit von Abhängigen sinkt ebenso wie die Kriminalitäts- und Prostitutionsrate. Die Menschen können so versuchen, wieder einem geordneten Tagesablauf und auch einer Arbeit nachzugehen, ohne sich um den nächsten Schuss kümmern zu müssen.
Substitution: Methadon bekommen nur die Süchtigen, die 0,0 Promille aufweisen
Allerdings gibt es auch Hürden: Methadon bekommen nur die Süchtigen, die 0,0 Promille aufweisen. Für viele Süchtige ist es überhaupt schon eine Herausforderung, täglich bei ihrem Hausarzt – es gibt 30 bis 40 Praxen in Dortmund – oder in der Methadon-Ambulanz des Sozial-Psychiatrischen Dienstes in der Bornstraße aufzulaufen.
0,0 Promille? Paul gehört nicht dazu. Er steht mit einer Flasche Bier vor dem „Kick“. Seine Drogen hat er schon auf dem Schwarzmarkt beschafft – wie alle Konsumenten hier. Denn sie kommen hierher nur zum Konsumieren. Der Handel oder die Weitergabe von Drogen ist strikt verboten.
Paul ist einer von 700 Klienten, die regelmäßig in der von der Aids-Hilfe betriebenen Drogenhilfeinrichtung auflaufen. „Wir sind keine Anlaufstelle für Erst- oder Gelegenheitskonsumenten“, verdeutlicht deren Leiter Jan Sosna. 68 Prozent der Klienten, mit denen die Aidshilfe hier zu tun hat, sind älter als 36 Jahre.
Wieso gerade 36 Jahre? „Früher war es unvorstellbar, dass die Patienten älter werden“, verdeutlicht Dr. Lenders. Daher hatte man bei der statistischen Erfassung diese Grenze gewählt. Die Systematik wurde mittlerweile geändert: Es gibt nun differenziertere Zahlen.
200 bis 300 Menschen kommen täglich in die Einrichtung in der Dortmunder City
40 Prozent der PatientInnen im Kick sind zwischen 36 und 45 Jahren alt, 20 Prozent 46 bis 55 Jahre und acht Prozent sogar 55 Jahre oder älter. Viele sind seit Jahrzehnten drauf. Doch meistens nicht nur auf Heroin: Oft kommen noch Kokain, Alkohol, Benzodiazepine und alles, was die Hausapotheke gerade hergibt – hinzu.
Dass die Menschen trotzdem älter werden, liegt auch an der Arbeit der Aids-Hilfe und des Gesundheitsamtes. 200 bis 300 Menschen kommen täglich (!) in die Einrichtung am Eisenmarkt.
Das „Kick“ ist allerdings viel mehr als „nur“ ein Drogenkonsumraum. Es gibt ein Kontaktcafé als Aufenthalts- und Ruheort, wo die Besucherinnen und Besucher sich günstig verpflegen, kostenlos benutzte Spritzen austauschen, aber auch sich selbst und ihre Wäsche waschen können.
Die Medizinische Ambulanz bietet kostenlos und ohne Krankenschein Hilfen, Beratung und Behandlungen an. Aber auch die unmittelbare Beratung und Unterstützung bei persönlichen Problemen, im Umgang mit Behörden, bei der Suche nach einem Platz in der Entgiftung oder Substitution und natürlich die Beratung zu „Safer-Use“ und „Safer-Sex“ – also dem gesundheitsbewussten Umgang mit Drogen und Sex.
Kampf gegen Drogen: Der „Dortmunder Weg“ ist eine echte Erfolgsgeschichte
Alle diese Hilfen flankieren den Drogenkonsumraum: Hier gibt es die legale Möglichkeit, illegale Drogen zum konsumieren. Warum braucht es diese Räume überhaupt? Die große offene Drogenszene auf dem Platz von Leeds und der Anstieg der Drogentodesfälle 1989/90 führte zu einem Umdenken.
Der reine Abstinenzvorsatz allein funktionierte nicht. Der „Dortmunder Weg“ beinhaltete daher zur „Vermeidung sozialunverträglicher offener Drogenszenen“ einerseits verstärkte repressive Maßnahmen zu deren Auflösung und andererseits den Aufbau der Drogenhilfe.
Seit 1991 hat der Sozial-Psychiatrische Dienst des Dortmunder Gesundheitsamtes mit dem Aufbau der methadongestützten Behandlung von Abhängigen begonnen.
Im Fall der (Not-) Fälle gibt es direkt Hilfe für die DrogenkonsumentInnen
Der 2002 eröffnete Drogenkonsumraum ist ein weiterer wichtiger Baustein: Die Süchtigen finden hier hygienische Bedingungen, die kostenlose Bereitstellung sämtlicher Konsumutensilien, Soforthilfe in Notsituationen und gesonderte Räume für intravenösen und inhalativen Konsum vor.
Viele Junkies würden sonst in der Öffentlichkeit, auf Toiletten oder in Parkhäusern ihren Schuss setzen. Nicht ohne Grund sind in einer Vielzahl von sanitären Einrichtungen, aber auch Treppen- und Parkhäusern blaue Beleuchtung installiert worden.
Selbst im Rathaus gibt es diese „Anti-Junkie-Beleuchtung“. Dieses Licht soll erschweren, dass Süchtige ihre Venen finden und sich so einen Schuss setzen können.
Der geschützte Rahmen im „Kick“ ist auch Paul wichtig. Seit mehr als zehn Jahren ist er hier Stammgast. Im Fall der Fälle – einer Überdosis oder bei anderen Problemen – weiß er Hilfe an seiner Seite. Kein Verständnis hat er dafür, wenn Leidensgenossen dies in der Öffentlichkeit machen.
„Neulich habe ich einen Knaller gesehen, der hat sich mitten in der U-Bahn-Station Brunnenstraße einen Schuss gesetzt, während die Bahn einfuhr“, berichtet der Mitdreißiger empört. „Das finde ich assi. Das geht gar nicht. Der ist total abgestumpft.“
2015 wurden hier 343.000 Spritzen bzw. Kanülen kostenlos umgetauscht
Oft bleiben dann noch die Spitzen in der Öffentlichkeit liegen. Das ist beim Drogenkonsum im „Kick“ nicht der Fall: 343.000 Spritzen bzw. Kanülen wurden 2015 umgetauscht. 44.863 Konsumvorgänge hat es hier zudem im vergangenen Jahr gegeben.
Immer mehr Süchtige steigen – auch angehalten durch das Team – auf den inhalativen Konsum um. Denn Rauchen ist gesünder. Klingt komisch – ist aber so. Schließlich geht es hier nicht um das Rauchen von Nikotin.
Es bedeutet, dass das Inhalieren von Heroin besser für den Körper ist, als es sich zu spritzen. Denn nach jahrelangem Gebrauch von Nadeln finden viele Süchtige schon keine geeigneten Venen mehr.
Außerdem sind die Spritzen ein Hauptrisiko für eine Reihe von Folgeerkrankungen. Wobei „gesünder“ eindeutig das falsche Wort ist: „Weniger gesundheitsgefährdend“ ist wohl der bessere Begriff – darauf legt Dr. Lenders großen Wert.
Die Drogenhilfeeinrichtung ist an sieben Tagen pro Woche geöffnet
Die Erfolge des veränderten Umgangs mit Drogen in Dortmund sind sichtbar. Daher hat auch die Stadt im vergangenen Jahr mehr Geld in die Hand genommen, damit die Aids-Hilfe ihr zeitliches Angebot noch ausbauen konnte.
Mit 38 Stunden Öffnungszeit an sieben Tagen in der Woche ist das „Kick“ gut ausgestattet. Für Paul hat dies aber an diesem Dienstag nicht gereicht.
Dienstags ist es besonders voll, weil dann auch die Angebote der Tafel in Anspruch genommen werden können. Er steht sich die Beine in den Bauch, bis er einen Platz im Konsumraum bekommen kann.
Unruhig tritt er von einem Fuß auf den anderen. Nach 20 Minuten Wartezeit verabschiedet er sich in Richtung City. „Ich kenne einen Ort, wo ich ungestört bin und auch selbst niemanden störe“ sagt er, als er sich schnellen Schrittes verabschiedet. Noch länger auf den Schuss zu warten, hätte er einfach nicht mehr ausgehalten…
HINTERGRUND: Drogentote in Dortmund
- Seit 1990 erfasst das Gesundheitsamt die Zahl der Drogentoten in Dortmund. Ihre Zahl schwankt stark. Allerdings zeichnet sich seit dem Jahr 2007 ein deutlicher Rückgang ab. Waren es 1990 und 1991 noch jeweils 54 Drogentote, waren es 2012 „nur“ fünf und im Jahr 2014 acht Menschen, die an den direkten Folgen des Drogenkonsums gestorben sind.
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Der Drogenhilfe sind allerdings aus den Jahren 2000 bis 2013 noch 123 Drogenabhängige bekannt, die an Suchtfolgeerkrankungen gestorben sind.
- Ihnen gedenken die Nutzerinnen und Nutzer jedes Jahr am 21. Juli mit einer Gedenkfeier im Dortmunder Stadtgarten – ein früherer Treffpunkt der Drogenszene. Sie findet diesen Donnerstag ab 11.30 Uhr statt.
- Alle Dortmunder Drogentoten hatten Heroin konsumiert. Heroinkonsum stellt, insbesondere bei schwankendem Reinheitsgehalt, ein besonders hohes Risiko für eine Überdosis dar. Allerdings konsumierten 70 Prozent der Toten drei und mehr Substanzen.
- Dortmund liegt zwar noch über den Belastungszahlen (Verstorbene pro 100.000 Einwohner) des Bundes und des Landes, der Abstand hat sich aber deutlich verringert und der Verlauf ist deutlich günstiger aus in vergleichbaren Großstädten.
- Der Anteil der weiblichen Drogentoten ist seit 1990 weiter gesunken und liegt damit deutlich unter dem Anteil der Frauen an den Drogenkunsumenten. Das Durchschnittsalter der Verstorbenen in Dortmund ist stetig angestiegen. Lag es 1990 noch bei 29,5 Jahren, ist es 2013 auf 35,3 Jahre angestiegen. Dies entspricht dem Bundestrend.
- Weil die Drogenabhängigen älter werden, nehmen die schweren Suchtfolgeerkrankungen zu. Die Versorgung und Betreuung dieser Klienten stellt eine belastende Herausforderung für das Dortmunder Hilfesystem dar.
- Gestiegen ist übrigens auch der Anteil der Drogentoten mit Migrationshintergrund. Allerdings liegt er trotz der Zunahme auf 18,5 Prozent deutlich unter dem Migrationanteil der Gesamtbevölkerung.
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Kann die kontrollierte Abgabe von Cannabis den Drogenschwarzmarkt in Dortmund austrocknen helfen?
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David Grade
Ein weiterer Schritt in der erfolgreichen Unterstützung von Langzeit-Heroinkonsumenten ist die Abgabe von Diamorphin. Hintergrund: https://www.piratenpartei-nrw.de/politik/drogenpolitik/diamorphin-programm-fur-schwerstabhangige/
In der Nordstadt hat es vor Jahren schon einmal einen entsprechenden Vorstoß der Politik gegeben – abgesägt von der SPD. Vielleicht gelingt es gemeinsam mit den Piraten eine entsprechende Bereitschaft in Dortmund herzustellen. Das hilft den Langzeitkonsumenten, senkt Beschaffungskriminalität und (zer)stört den Heroinhandel krimineller Organisationen – die seit Jahrzehnten von der Prohibitionspolitik der SPD profitieren.