Im Jahr 2020 durfte sich das Museum Ostwall im Dortmunder U über eine großzügige Schenkung freuen: Dr. Susannah Cremer-Bermbach, Tochter des Künstlers Siegfried Cremer, übergab dem MO eine Auswahl von Arbeiten ihres 2015 verstorbenen Vaters, der sowohl als Sammler als auch als Künstler tätig war. Bereits seit 1990 befinden sich Werke aus der Sammlung Cremer als Dauerleihgaben im Museum Ostwall. Von 1991 bis 1999 kaufte das Museum diese Leihgaben nach und nach an. Vom 11. Februar bis 3. April 2022 zeigt nun die Ausstellung „die kleinen dinge“ im MO_Schaufenster die Wechselwirkung zwischen den gesammelten Objekten und dem eigenen kreativen Schaffen Siegfried Cremers. Eine offizielle Eröffnung findet coronabedingt nicht statt. Am heutigen Donnerstag, 10. Februar 2022, stehen Regina Selter (stellv. Direktorin des MO) und Kuratorin Natalie Calkozan von 18 bis 20 Uhr im MO_Schaufenster für Fragen und Gespräche zur Verfügung.
Untersuchung des Alltagslebens und mögliche Handlungsweisen
Das umfangreiche Konvolut der Sammlung vereint Werke des Nouveau Réalisme, der Konkreten Poesie, des Fluxus, der Pop Art und Zero. Sie bildet seit jeher ein Herzstück der Sammlung des MO. Immer wieder sind Objekte der Sammlung Cremer wichtiger Bestandteil von Sammlungspräsentationen und Schaufenster-Ausstellungen.
Zuletzt war es das mannigfaltige Konvolut an Arbeiten der Konkreten Poesie, auf das die Kuratorinnen der Ausstellung „Print Print Print – Visuelle Poesie und typografisches Element“ im Jahr 2020 zurückgriffen.
Und auch in der Sammlungspräsentation „Fast wie im echten Leben“ (2017 bis 2019) wurden Objekte aus der Sammlung Cremer präsentiert. Seine gesammelten Werke haben eines gemein: Sie untersuchen das Alltagsleben und thematisieren mögliche Handlungsweisen.
Ausgewählte Werke des Künstlers in Kombination mit gesammelten Arbeiten
Die Schaufenster-Ausstellung „die kleinen dinge“ zeigt ausgewählte Werke des Künstlers Sigfried Cremers aus der aktuellen Schenkung in Kombination mit Arbeiten, die ihn als Sammler interessiert und inspiriert haben.
Dass Siegfried Cremer selbst ausgebildeter Restaurator war, erklärt seine sensibilisierte Wahrnehmung für Materialien aller Art. Er begeisterte sich für die Avantgardekunst der 1960er-Jahre und insbesondere für den Nouveau Réalisme, dem es nicht um die realistische Abbildung der Wirklichkeit ging, sondern um die materiellen Stoffe der Welt, um die alltäglichen Dinge, die zum Medium ihrer Kunst wurden.
Als Künstler wiederum fand Cremer vor allem im Umfeld von ZERO mit seinen Arbeiten eine eigenständige Position innerhalb der Avantgarde der damaligen Zeit.
Cremers Arbeiten werden ab Mitte der 50er-Jahre von bildhauerischem Denken geprägt
Als Restaurator im Kaiser Wilhelm-Museum in Krefeld war sein Arbeitsumfeld in den 1950er-Jahren geprägt durch zeitgenössische Kunst:
Werke der kinetischen Kunst, bei denen Bewegung ein integraler ästhetischer Bestandteil darstellt; Werke des Informel und des Tachismus, die Empfindungen durch spontanes Auftragen von Farbe auf Leinwand ausdrücken; Werke also, die mit traditionellen, kunsthistorischen Begriffen erst einmal nicht zu fassen waren.
Und so verabschiedet sich auch der Künstler Cremer Mitte der 50er-Jahre von der figurativen Darstellung. Ein bildhauerisches Denken bestimmt seine Arbeiten in den kommenden Jahren. Die Linie wird der Farbe vorgezogen; der Raum der Fläche. Und auch die Farbpalette konzentrierte sich im Wesentlichen auf Weiß-, Schwarz- und Grautöne.
Akzente werden gelegentlich in leuchtendem Rot gesetzt. Zwei Hauptstränge kristallisieren sich Ende der 50er-Jahre im künstlerischen Schaffen Cremers heraus: die formale und materielle Reduktion, die sich bis in die 70er Jahre hinein erstreckt, auf der einen und die Fokussierung materialästhetischer Aspekte, die Ende der 70er-Jahre wieder zunehmend wichtig wird, auf der anderen Seite.
In den 1960er-Jahren spielt das Hineinwirken in den Raum eine immer wichtigere Rolle. Kinetische Objekte aus schwarz und weiß bemaltem Holz oder aus gebogenem Draht entstehen und greifen den Strang formaler und materieller Reduktion auf.
Aber auch das Recyceln und Dekontextualisieren von alltäglichen Dingen findet immer wieder Eingang in den Schaffensprozess Cremers. So entstehen 1963 Wandreliefs und freistehende Objekte aus Eierpappen und -schachteln.
Die beiläufige Wertschätzung des Moments
Zwanzig Jahre später rückte Draht als Werkstoff erneut in den Vordergrund – als Material, das durch alltägliche, maschinelle Vorgänge in eine unverwechselbare Form gefunden hat. Bei den „Unbeabsichtigt entstanden Skulpturen“ aus dem Jahr 1983 handelt es sich um Bündelungen von Baustahl, die zum Transportieren von Armierungseisen für Betonbauten verwendet und nach Ankunft am Verwendungsort mit einer Zange zerschnitten und gelöst werden.
Cremer hat diese funktionslos gewordenen Reste auf Großbaustellen eingesammelt, von Rost befreit, geölt und für viele dieser Objekte eigene Sockel hergestellt. Diese schwungvoll, bizarren Formen, die wie Lebewesen anmuten, wirken dabei wie Gegenstücke zu Cremers feingliedrigen Drahtplastiken aus den 1960er Jahren.
Es ist die Wertschätzung der kleinen Dinge, die ganz beiläufig an uns vorüber ziehen, uns vielleicht für den Bruchteil einer Sekunde an etwas erinnern und dann wieder aus unserer Wahrnehmung verschwinden, die sich durch das Werk von Cremer zieht. Auch in den sogenannten „Fossilienbildern“ wird dies deutlich:
Aus Abfall, den er bei Spaziergängen gefunden hatte, fertigte er Collagen an – seine „Zivilisationsfossilien“ führen uns unsere Wegwerfgesellschaft vor Augen. In diesem Kontext haben die Werke Cremers keineswegs an Aktualität verloren.
„die kleinen Dinge“ ist bis zum 3. April 2022 im MO_Schaufenster zu sehen
Die Ausstellung „die kleinen dinge“ zeigt die Wechselwirkung zwischen den gesammelten Objekten und dem eigenen kreativen Schaffen Cremers.
Sei es die Konzentration auf intensive Farbigkeit, die einen Alltagsgegenstand zu einem Farberlebnis werden lässt (siehe Cremers „Eierkartons“ und Yves Kleins „Schwamm“), das Collagieren und Decollagieren von Materialresten (Cremers „Fossilienbild“ und Jacques de la Villeglés „Plakatabriss“) oder das Recyceln von Gegenständen zu etwas Neuem, sowie die Pressspanplatte, eine Zusammenarbeit von Siegfried Cremer und Günther Uecker, die als Unterlage zum Verschweißen von Nägeln diente und dann selbst zum benagelten Kunstwerk wurde.
Siegfried Cremer, geboren 1929 in Dortmund, absolvierte nach einer Bildhauerlehre und einer Ausbildung in Bildhauerei und Malerei an der Werkkunstschule in Münster auch eine Ausbildung als Restaurator und war anschließend in diesem Beruf am Kaiser Wilhelm-Museum Krefeld tätig.
Zwischen 1957 und 1973 baute er eine umfangreiche Kunstsammlung der Avantgarde der 50er- und 60er-Jahre auf. Er leitete das Restaurierungsatelier der Staatsgalerie Stuttgart und war von 1977 bis 1994 Professor für Maltechnik an der Kunstakademie Düsseldorf. Siegfried Cremer starb 2015 in Stuttgart.
Weitere Informationen:
„die kleinen dinge“. Der Künstler und Sammler Siegfried Cremer
11. Februar – 3. April 2022
Museum Ostwall im Dortmunder U, Leonie-Reygers-Terrasse, 44137 Dortmund (MO-Schaufenster, Ebene: 5)