Deutschland und der NSU-Komplex: „Strukturelle Lücke in der Erinnerungslandschaft“ bleibt vorerst

Stiftung und Dokumentationszentrum wurden nicht mehr beschlossen

Forderungen nach Konsequenzen und einer wirklichen Aufklärung des NSU-Komplexes gibt es seit Jahren. Paulina Bermúdez | Nordstadtblogger

Noch zum Jahresbeginn 2025 begrüßte der Ausschuss für Inneres und Heimat einhellig den Gesetzenwurf von SPD und Grünen für die Errichtung einer Stiftung und einen „Verbund von NSU-Dokumentationszentren“. Nur im „alten“ Bundestag wurde das Gesetz nicht mehr verabschiedet und daher muss darüber im neuen Bundestag abgestimmt werden.

Neue Wege der historisch-politischen Wissensvermittlung als ein Ziel

„Die Stiftung ,Gedenken und Dokumentation NSU-Komplex‘ soll der Vorlage zufolge die kritische Aufarbeitung des NSU-Komplexes, eingebettet in die Geschichte des Rechtsterrorismus nach 1945, fördern, neue Wege der historisch-politischen Wissensvermittlung im gesamten Themenkomplex erarbeiten und das Gedenken an die Opfer und Überlebenden des NSU-Komplexes im kollektiven Gedächtnis der Gesamtgesellschaft verankern. Der NSU-Komplex stehe wie kein anderer für die Entwicklung des Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945“, hieß es dazu noch im Januar 2025 im Bundestag.

Gedenken an Mehmet Kubaşık, der in seinem Kiosk an der Mallinckrodtstraße vom NSU erschossen wurde.

Und weiter: „Die rechte Gewalt, rechtsextremistische Anschläge und die Geschichte des Rechtsterrorismus auf deutschem Staatsgebiet einschließlich demjenigen der ehemaligen DDR seit 1945 sind nach wie vor nicht im kollektiven Gedächtnis verankert.“

Das gelte insbesondere auch für die Geschichte der 1990er-Jahre in den ostdeutschen Bundesländern, „die als sogenannte ,Baseballschläger‘-Jahre mitsamt dem ,Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit‘ zur Entstehung des NSU beigetragen haben“. Hier bestehe eine strukturelle Lücke in der Erinnerungslandschaft der Bundesrepublik und in der historisch-politischen Bildung, begründete man laut Bundestagsverwaltung die Initiative.

Doch umgesetzt wurde das nicht. Alle nicht vom „alten“ Bundestag beschlossenen Initiativen werden quasi wieder auf Null gesetzt. „Die neue Regierung müsste sich für ein NSU-Dokumentationszentrum in Berlin einsetzen. Wir sind gespannt, ob es klappt bzw. wann sie sich damit auseinander setzen wollen“, kommentierte Ali Şirin vom Dortmunder Bündnis „Tag der Solidarität – Kein Schlussstrich“ den aktuellen Status nach der Bundestagswahl.

Bundeszentrale für politische Bildung appelliert an die Parteien

Ende 2023 hatte die Bundeszentrale für politische Bildung die Familien der NSU-Opfer nach Berlin eingeladen. Im Anschluss wurde für das Vorhaben ein Gutachten erstellt. Eine Lücke in der Erinnerungslandschaft sollte geschlossen werden: mit einer Stiftung Gedenken und Dokumentation NSU-Komplex. Thomas Krüger (BPB) formulierte bei der Ausschusssitzung Anfang 2025 einen Appell: „Es wäre ein gutes Zeichen, gerade in diesen Zeiten des Wahlkampfs, wenn sich die demokratischen Parteien klar zu dieser Erinnerungsarbeit bekennen“. Zu einer Verabschiedung des Gesetzes kam es nicht mehr.

Der Dortmunder Mehmet Kubaşık war das achte Opfer des rechtsextremen NSU. Foto: Paulina Bermúdez

Prof. Dr. Sabine Hess, Gutachterin von der Uni Göttingen, sprach von einem ersten Lernort, der rassistische Gewalt, insbesondere mit Blick auf die Einwanderungsgesellschaft, in den Mittelpunkt rücke. Geplant sei ein „innovatives digitales wie analoges Vermittlungsprogramm“.

Durch das Vermitteln und Einüben von Multiperspektivität und Begegnung sowie die Reflexion und den Abbau von Vorurteilen und Ideologien der Ungleichwertigkeit solle langfristig die „Entstehung einer inklusiven Gesellschaft gefördert werden, die für eine plurale Demokratie einsteht und sich aktiv gegen menschenfeindliche Denkmuster und Handlungen stellt“.

In Chemnitz wird ein Dokumentationszentrum zum NSU als Pilotprojekt umgesetzt, als Teil des Kulturhauptstadt-Jahres. Es soll als Modellprojekt für den Standort in Berlin dienen. Aber auch hier ist die Finanzierung nur bis zum Ende des Jahres gesichert.

Aufmerksamkeit für die Perspektiven Betroffener

Die Stiftung sollte laut Vorlage konkrete Maßnahmen umsetzen, die der Stärkung und Unterstützung von Betroffeneninitiativen zugutekommen. Auch Vernetzungsarbeit wurde als Aufgabe genannt. Gamze Kubaşık leistet wichtige Erinnerungsarbeit, unter anderem mit Schulgesprächen über den NSU-Komplex.

Ali Şirin engagiert sich im Dortmunder Bündnis „Tag der Solidarität – Kein Schlussstrich“. Klaus Hartmann | Nordstadtblogger

Ali Şirin betont: Für sie ist langfristig wichtig, einen Raum für diese Erinnerungsarbeit in Dortmund zu bekommen.“ Aktuell erhält das Bündnis für einzelne Veranstaltungen Fördermittel, die punktuell beantragt werden. Aber die Arbeit der Hinterbliebenen ist ehrenamtlich und damit vielfach unbezahlt.

„Die Opfer und ihre Angehörigen verdienen mehr Aufmerksamkeit“, so Ali Şirin. Wichtig sei, auf die migrantischen Kämpfe aufmerksam zu machen, marginalisierte Perspektiven zu thematisieren. Und so auch die Kontinuität von Rassismus, Kolonialismus und Antisemitismus deutlich zu machen: Rassismus ist eine große Gefahr“. In der pluralistischen Gesellschaft sei eine multidirektive Erinnerungskultur und Erinnerungsarbeit notwendig“.

Eine Umsetzung der Pläne erwartet er für 2030. Dabei hieß es offiziell noch in einer Pressemitteilung des Bundesinnenministeriums vom 27. November 2024: „Ein erstes Konzept für eine Ausstellung zum „NSU“ und dessen gesellschaftlichen Bedingungen soll bis Ende des ersten Quartals 2025 ausgearbeitet sein. Darüber hinaus soll eine digitale Plattform bis zum Spätsommer 2025 fertiggestellt sein, auf der in unterschiedlichen Formaten (u.a. Wissensdossiers, Videos) über den „NSU“ und seine Opfer informiert wird. Diese soll zudem der Vernetzung der unterschiedlichen Akteure (insb. Zivilgesellschaft, Opferangehörige) dienen.“

In der kommenden Woche wird erneut in Dortmund an die Bluttaten des NSU erinnert. Foto: Alex Völkel für Nordstadtblogger.de

Veranstaltungshinweise:

  • Erinnerung an die Opfer rechter Gewalt und gegen das Vergessen mit Emiş Gürbüz, Gamze Kubaşık und Ali Sirin: Erinnern heißt Kämpfen – Rassistische Gewalt und unsere Solidarität. Am 3. April 2025, 19 bis 21.15 Uhr, in der Auslandsgesellschaft. Anmeldung erbeten unter veranstaltungen@auslandsgesellschaft.de oder Tel.: 0231 8380019 oder online: auslandsgesellschaft.de/(…)-solidaritaet/
  • Am 4. April dann der 13. Tag der Solidarität – Gedenken an die Opfer des NSU in der Mallinckrodtstraße 190 um 17 Uhr. Anschließend gegen 18 Uhr Kundgebung vor der Auslandsgesellschaft.
  • Quelle: bundestag.de/(…)NSU-Komplex
  • Das schrieb das BMI nach dem Kabinettsbeschluss: LINK

Anm.d.Red.: Haben Sie bis zum Ende gelesen? Nur zur Info: Die Nordstadtblogger arbeiten ehrenamtlich. Wir machen das gern, aber wir freuen uns auch über Unterstützung!

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