Zu besprechen ist noch einiges. Aufregende, wütende Debatten stehen an, wenn sich am Mittwoch, 5. März, der Humanwirtschaftliche Diskussionskreis in der Auslandsgesellschaft trifft. Zu wenig Zeit blieb beim letzten Mal für die Debatte nach dem Vortrag von FH-Professor Heinz-Michael Winkel. Das Thema: Führt die Kriegsführung im Internet in den Überwachungsstaat?
Der Cyberwar im Internet
Kriegsführung und Internet – wie hängt das zusammen? Der Cyberwar, erklärt Winkels, sei als Ganzes zu sehen. Auf der einen Seite der militärische Bereich, mit ferngesteuerten Einsätzen, mit Aufklärung auf Basis von Informationstechnik. Auf der anderen Seite der Krieg in und mit der Informationstechnik selbst. Industriespionage, Ausspähen von Regierungen, Bevölkerungen. Wer die Kompetenz zum einen hat, hat sie auch für das andere. Das, zeigte Winkels Vortrag, ist der Zusammenhang im Cyberwar. Entscheidend ist die technische Kompetenz in der modernen Aufklärung.
Und da ist er auch schon angerissen, der wunde Punkt des Vortragenden. Denn Heinz-Michael Winkels versteht die Welt nicht mehr, so hat es den Anschein. Jene Welt, die er als Experte für Datenverarbeitung doch so genau kennt, wie kaum ein anderer. „Ich dachte vor zwölf Jahren“, erzählt Winkels, „dass ich über das Thema nicht mehr reden werde.“ Seinerzeit hatte Winkels den Glauben an die Politik verloren. Zwei Jahre hatte er sich den Mund fusselig geredet. Für das Thema Cyberwar, so seine Empfehlung, müsste eine Kernkompetenz in Deutschland geschaffen werden.
Berater der Bundeswehr
Winkels war im Jahr 2000 Mitglied einer Kommission, die die Bundeswehr bei ihrer Restrukturierung beriet. In seinem Bericht hob er Sicherheitsdefizite in der Informationstechnik hervor. Die Amerikaner hatten schon seit 1992 intensiv im IT-Bereich geforscht. Acht Jahre Vorsprung galt es aufzuholen, auch um weniger anfällig zu sein für Spionage und für Abhöraktionen befreundeter Dienste. Deren Aktivitäten in Deutschland und gegen die deutsche Industrie sind spätestens seit 1998 öffentlich. Winkels hielt seinen Vortrag seinerzeit vor Parlamentariern, redete mit Generälen, Staatssekretären. Es passiert nichts. Gar nichts. Ernüchterung. „Wenn’s keiner hören will, hat es auch keinen Sinn“, sagte sich Winkels und legte das Thema Cyberwar für sich zu den Akten.
Mit Snowdens Enthüllungen packte es Winkels erneut
Dort blieb es, bis NSA-Insider Edward Snowden mit seinen Enthüllungen die Bühne der Welt betrat. Mit jedem Detail aus dem Fundus des Whistleblowers muss es Heinz-Michael Winkels ein Stück mehr gepackt haben. Er taucht wieder ein ins Thema, saugt jede Information auf. Erschreckt sich manchmal über das Ausmaß der Spitzelei gegen Regierungen und Bevölkerungen. Die schreckliche Erkenntnis: „Es ist alles eingetreten, was ich vor 12 Jahren beschrieben habe.“ Genau deswegen könne jetzt kein Politiker behaupten, er hätte von nichts gewusst. Denn Winkels, er hatte es gesagt. Jetzt spricht er wieder. In der Nordstadt zuletzt, dort, wo ihm zugehört wird. Der Vortrag ist aktualisiert, angewachsen auf weit über 100 Folien.
Computerviren und Big Data
Winkels versucht alles anzureißen. Die geballte Ladung Fakten, die Idee, dass alles zusammenhängt, wird dem Publikum ungeschminkt vor Augen geführt. Ferngesteuerte Militäreinsätze. Industrie-Sabotage mit Hilfe von Computerviren. Abhören von Regierungen. Big Data. Dieses exakte Bild, das „Datenkraken“ wie Facebook oder Google von uns allen besitzen. „Wir können uns dem kaum entziehen“, sagt Winkels. Googles Ziel sei es, das Verhalten ganzer Bevölkerungsgruppen vorhersehen zu können. Um jedem maßgeschneidert das anbieten zu können, was er braucht. Gerne auch, wenn er davon noch gar nicht wusste.
Wer nicht berechenbar sein möchte, müsste auf moderne Technik verzichten. Nicht nur auf Suchmaschinen und soziale Netzwerke und den bequemen Bildschirm-Einkauf. Feinde, so klingt es, lauern überall. Auch offline. Überall, wo wir Geräte mit elektromagnetischer Strahlung benutzen, sind Angriffspunkte. Computer, Tastatur wie Bildschirm. Handy. Tablet. Navi.
Geht mich nichts an?
Wie sich alles nach und nach vermischt, die Interessen von Wirtschaft, Politik, Militär, legt Winkels schonungslos offen bei seinem Parforce-Ritt. Geht mich nichts an? Winkels erinnert an die Wahl Obamas zur zweiten Amtszeit. Das Datenanalyseteam, das unentschlossene Wähler bei Facebook aufspürte, um ihnen zur Beeinflussung Wahlhelfer direkt nach Hause zu schicken. Leidet da nicht die Demokratie? In Italien wurden unter Berlusconi politische Gegner mithilfe von klassischen Spionagetechniken diffamiert. Vorratsdatenspeicherung in Deutschland. Winkels: „Ich erzähle Ihnen nur, was alles schon passiert ist.“
Ist Deutschland überhaupt ein souveräner Staat, wenn befreundete Dienste tatsächlich nicht gegen bestehendes Recht verstoßen, indem sie das Land ausspionieren? „Das ist bekannt. Seit Jahren“, erbost sich Winkels. Doch es wird verdrängt. Winkels versteht die Welt nicht mehr, die gespielte Ahnungslosigkeit macht ihm zu schaffen. Er redet sich so richtig in Rage. Wieder bei der politischen Klasse angekommen, ringt er mitunter nach Luft. Vor Erregung. „Das Internet ist für uns alle Neuland“, zitiert er Kanzlerin Angela Merkel schließlich amüsiert darüber, veräppelt worden zu sein. Das müsse er noch loswerden, heißt es immer wieder aus Winkels Mund.
Die Hoffnung bleibt
Ohne eine Minute zu langweilen vergehen rund drei Stunden. Aus dem Publikum fragt am Ende jemand, ob Winkels noch Hoffnung hätte. „Ja“, antwortet er, „weil es noch Leute wie Sie gibt, die sich für diese Dinge interessieren.“ Es ist spät geworden.
Am Mittwoch, 5. März, um 19 Uhr wird die Debatte weitergehen. Der Humanwirtschaftliche Diskussionskreis trifft sich in der Auslandsgesellschaft, Steinstraße. Weitere Themen: „Gentechnik“ sowie „Weltwirtschaft und Psychopathen“ .
Andreas Graw