Von Gerd Wüsthoff
Die Erwartungen an die Uraufführung „Das Internat“waren hoch. Regisseur Ersan Mondtag, geboren 1987 in Berlin, gilt als Shooting-Star und „Enfant Terrible“ unter den jungen Theatermachern. Der „Nachwuchsregisseur des Jahres 2016“ war schon zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Das Schauspiel Dortmund kündigte die Uraufführung des Stückes, als die Summe aller Internate an. Der interessierte Zuschauer denkt dabei an „Hanni und Nanni“, „Unterm Rad“ von Hesse, „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ von Musil, den britischen Film „Another Country“, oder auch Harry Potter …
Ersan Mondtag ist sein eigener Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner
In Dortmund hat Mondtag als sein eigener Bühnen- und Kostümbildner ein wahrhaftes Spukschloss gebaut. Dem Zuschauer zeigt sich eine Gothic Interpretation von Hogwarts aus Harry Potter, die sehr an düstere Comics/Mangas oder eher positiv besetzt, die stilbildenden expressionistischen Szenenbilder des deutschen Stummfilms der 1920er Jahre erinnert. Eingerahmt wird das sich drehende Bühnenbild von schwarz und bedrohlich wirkenden Bäumen in eher schemenhaft sinisteren Gestalten, deren Hände blutrot leuchten.
Zinnen ragen in den Himmel, tote Bäume strecken ihre Arme aus, hinter gotischen Bögen geht die Sonne unter. Wie ein begehbares Gemälde des Romantikers Caspar David Friedrich. Nur, es geht darin keineswegs romantisch zu. Man erwartet gleichsam Basil Rathbone im „The Hound of the Baskervilles“.
17 Schüler sind hier kaserniert in Uniformen, wie in einer Militärakademie – ganz ohne Lehrer oder Erzieher. Sind sie auf Exerzitien? wurden sie sich selbst überlassen? Was hat sie in die brutale Selbstverwaltung an Ende von Zeit und Raum verschlagen? Die Bemalung der Kostüme durch Annika Lu Hermann treibt jegliche Individualität aus, es erinnert an die Maskenbilder des expressionistischen deutschen Stummfilm.
Sie geben dafür aber eine diabolisch wirkende Kraft, als wäre es genau ein solcher expressionistischer Stummfilm. Die Kostüme selber erinnern seltsam an die Törleß Verfilmung mit dem jungen Mathieu Carriere. Zugleich wecken die Kostüme und Masken aber auch Erinnerungen an die klassischen Griechischen Dramen und Komödien – deren plakative Masken zeigten dem Zuschauer sofort welcher der damit festgelegten Charaktere auf der Bühne war.
Die Texte der Dramaturgen Alexander Kerlin und Matthias Seier verstärken in ihrer subtilen Gewalt in den ZuschauerInnen ein Gefühl von unentrinnbarer Brutalität, welche aus der Szenerie des sich fast ständig bewegenden Bühnenbildes heraustropft. Untermalt wird das Ganze durch die Musik von T.D. Fink von Finkenstein, welche sich dumpf grollend über die ZuschauerInnen ergießt. Die eingefügten Schreie von Kreaturen aus dem dunkeln eines bedrohlichen Waldes erinnern stark an die Gruselkrimis à la Francis Durbridge, wie sie meisterhaft zu Beginn der 1960er Jahre vom deutschen Fernsehen inszeniert worden waren. Aber auch an B Film Klassiker mit Bela Logosi.
Überdies setzt Mondtag eine Tretmühle in Bewegung. 90 Minuten kreist das Bühnenbild des Internates auf der Drehbühne. Es lässt die BetrachterInnen immer wieder den Speisesaal, den Schlafsaal (erinnert eher anmaßend an ein KZ), eine Außentreppe und die Dusche sehen, in der Gespenster, einem Darth Vader nicht unähnlich, mit roten Augen lauern. Hier waschen sich die Zöglinge nicht nackt, sondern im Body (inklusive Anhängsel aus Stoff, undarstellbar in Puristanistan). Später werden sie im Takt ihre Suppe löffeln oder das Volkslied „Bunt sind schon die Wälder“ anstimmen, was zusehends unheimlich wird, da es Assoziationen an die „Blut und Boden Ideologie“ der Nazis hervorruft.
ZuschauerInnen gruseln sich ratlos ohne Schock vor einem rotierenden Gothic Schloss
„Das Internat“ von Mondtag, am Schauspiel Dortmund, ist ein eher endloser Kreislauf aus Gewalt und Manipulation, der ein wenig an „Herr der Fliegen“ von William Golding erinnert. Denn in diesem Internat des Grauens wird der Außenseiter Philipp Joy Reinhardt als „Junge im Schnee“ gemobbt. Hände schließen sich fester um Peitschen, Jungen lauern mit Waffen in leeren Fensterhöhlen.
Die Folkwang-Schüler, die hingebungsvoll als Internatskinder agieren, marschieren sogar rückwärts zackig, so als ob sie die Geschichte der Abläufte aus der Rücksicht zeigen wollten. Musik und Klänge von T. D. Finck von Finckenstein, alias Tommy Fincke, geben unbarmherzig den Rhythmus vor, bei dem jeder unweigerlich mitwandern muss.
Regisseur Mondtag bietet ein Speisekarte der Emotionen und Assoziationen. Er rührt die Kunstgeschichte und Elemente des Grusel- und Action-Films mit den Enthüllungen über brutale Heimerziehung zusammen. So findet sich bei allem Neuen auch der klassiche griechische Chor mit seiner hier leider wenig erklärenden Rolle wieder. Er fügt schließlich eine gehörige Prise Edgar Allan Poe und die Grundidee einer sich entwickelnden Gewalt aus dem Kultbuch „Herr der Fliegen“ von William Golding dazu. Alles riecht und fühlt sich nach wohl temperiertem Grusel und Schaudern an, ohne wirklich zu schockieren. Selbst der erste Filmeinspieler, eindeutig verfremdete Pornographik, kommt seltsam sterilisiert über die Leinwand.
Vor zehn, zwanzig oder mehr Jahren hätte „Das Internat“ von Mondtag gut und gerne einen Skandal auslösen können. Sind die ZuschauerInnen abgestumpft durch alltägliche Gewaltdarstellungen in allen Medien? Gefällig aber ist etwas anderes, z.B. launisch daher plätscherdes Boulevard Theater ohne Tiefe.
Die Handlung ist leider dünn wie japanisches Seidenpapier und hinterlässt mehr Fragen als Antworten
„Das Internat“ könnte eine vergiftete Version von Harry Potter oder Törleß sein, wäre es nur mitreißender. Kerlin und Seier, die Dramaturgen, haben den Text verfasst und lassen ein „totes Kind“ – eindrucksvoll gesprochen von Alicja Rosinski – zuerst den Außenseiter und danach als nackte Eva den Rest des Internats zur Freiheit verführen.
Sie zetteln schließlich eine Revolution an. Aber die Handlung ist papierdünn. Und die Rätsel, bei den ZuschauerInnen verursacht, reichen einfach nicht aus, um die Handlung spannend zu machen. Vielleicht ist ja der am Ende getötete „alte Anführer“ das Kind? Will er als Geist, „das tote Kind“, seine eigenen Brutalitäten rächen oder wieder gut machen? In der Art wie „Und ewig grüßt das Murmeltier“? Das sich kreisende Bühnenbild und Anfang und Ende der Performance lassen darauf schließen.
Die am Ende erscheinenden Truppen tauchen ohne Bezug oder Vorankündigung auf. Ein woher, warum oder wieso ist weder erkennbar, noch aus der Handlung erklärbar. Einige aus dem Team hinter dem Stück waren in Internaten – eine persönliche Abarbeitung von persönlichen Traumata?
„Das Internat“ – Eher eine Performance als ein Theaterstück
Ist das überhaupt noch ein Theaterstück? Also klassisches Sprechtheater? Nein, eigentlich ist „Das Internat“ eine Kunstperformance. Es ist eine bittere Abrechnung mit verkorksten Kindheiten, Missbräuchen, Gewalt und Übergriffen, und deren Ende mit einem Knalleffekt.
Von diesem Gesamtkunstwerk muss man sich überwältigen lassen wollen. Das Schauspiel Dortmund hat mit der Uraufführung des Stückes Mut bewiesen. Theater muss nicht immer gefällig sein, seicht belangloses gibt es leider nur zu oft.
Man konnte das eine oder andere Mal leise raunend „Zeitdiebstahl“ hören. So weit kann man es aber nicht sagen. „Das Internat“ ist irgendwie interessant und auf verstörende Weise anregend. Den Sinn muss sich jeder selbst erarbeiten – Eigenarbeit kann schwer sein. Fertig-Futter oder Fast Food ist „Das Internat“ zu keinem Moment.
Die ZuschauerInnen, abgesehen von verhalten jubelnden Mondtag-Fans, spendenten eher freundlichen Applaus. Obgleich das Ensemble fünf Mal auf der Bühne erschien, zum Schluss mit Mondtag selber. Mondtag hätte ruhig mutiger sein dürfen.
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