„Cuxhavener Appell“: Kommunen im Strukturwandel fordern strukturelle Entlastungen und Tilgung von Altschulden

Das parteiübergreifende Aktionsbündnis „Für die Würde unserer Städte“ fordert einen Kurswechsel.
Das parteiübergreifende Aktionsbündnis „Für die Würde unserer Städte“ fordert einen Kurswechsel.

Eine Regel besagt: „Wer die Musik bestellt, der muss sie auch bezahlen.“ In der Politik heißt diese Regel „Konnexitätsprinzip“. Im Klartext: Wenn der Bund oder das Land etwas beschließen, was finanzielle Auswirkungen auf Kommunen hat, müssen sie auch für die Kosten aufkommen. Doch von dieser Regel hat sich die Politik zu häufig entfernt. Die Folge: Die Kommunen werden von den Lasten der Kosten erdrückt. 71 Städte aus acht Bundesländern – sie vertreten immerhin neun Millionen EinwohnerInnen – haben sich nun mit einem Appell an Bund und Länder gewandt.

Sozialausgaben machen bei Städten im Strukturwandel rund 50 Prozent der Haushaltsausgaben aus

Die Oberbürgermeister und Finanzchefs des bundesweit agierenden und parteiübergreifenden Aktionsbündnisses „Für die Würde unserer Städte“ haben den „Cuxhavener Appell“ beschlossen. Das Papier enthält zahlreiche Vorschläge, die dabei helfen sollen, die Kommunen strukturell zu entlasten und gerade den vom Strukturwandel gebeutelten Städten und Gemeinden beim Abbau von Altschulden zu helfen. Denn viele Kommunen ächzen unter Altschulden, die größtenteils durch gestiegene Sozialausgaben entstanden sind.

Die Stadt Dortmund beteiligt sich an dem Aufruf, auch wenn sie sich eigentlich scheut, sich als „arme Kommune“ zu bezeichnen. Doch anders als beispielsweise beim NRW-Stärkungspakt geht es hier nicht darum, die kommunale Selbstverwaltung aufzugeben. Hier sollen grundsätzlichere Probleme angegangen werden. 

Was hat sich in den beteiligten – wie auch vielen anderen – Kommunen verändert? Waren noch vor 20 bis 30 Jahren ein Viertel bis 35 Prozent der kommunalen Haushalte für Sozialausgaben bestimmt, liegen die Ausgaben für soziale Transferleistungen mittlerweile bei rund 50 Prozent. Kosten, die die Kommunen vor allem vom Bund aufgebürdet bekommen haben. Aber gerade auch bei der Flüchtlingsthematik hat das Land gehörigen Anteil daran, dass die Kommunen über Gebühr belastet werden.

Dortmund muss rund 200 Millionen Euro pro Jahr an umlagefähigen Kosten tragen

Kämmerer Jörg Stüdemann (li.) und OB Ullrich Sierau (re.) bekommen den Bescheid von Regierungspräsident Hans-Josef Vogel. Foto: Stadt Dortmund/ Gaye Suse Kromer
Dortmund verfügt zwar über einen genehmigten Haushalt. Doch die Altschulden und Liquiditätskredite sind kaum zu reduzieren. Foto: Gaye Suse Kromer/ Stadt Dortmund

Allein in Dortmund fallen pro Jahr rund 200 Millionen Euro an Kosten an, die eigentlich auch von einer übergeordneten Stelle finanziert werden könnten bzw. müssten, rechnet Jörg Stüdemann, Stadtdirektor und Kämmerer, vor. Mehr als 100.000 Menschen in Dortmund – also jede/r sechste EinwohnerIn – ist auf irgendeine Weise auf Transferzahlungen angewiesen.

Der mit Abstand größte Posten sind die Kosten für Unterkünfte, rund 150 Millionen Euro, die die Stadt Dortmund für Menschen in der Grundsicherung (zum Beispiel Hartz IV), für RentnerInnen oder für Flüchtlinge übernehmen muss.

Die vollständige Finanzierung der Hilfen zum Lebensunterhalt durch den Bund nach dem Sozialgesetzbuch XII würde eine Entlastung von 13 Millionen Euro in Dortmund ausmachen.

Außerdem gibt es Lücken bei der gesetzlichen Krankenversicherung. Weil diese vom Bund nicht geschlossen wurden, bezahlt Dortmund rund 18 Millionen Euro für die Versorgung von Menschen ohne Krankenversicherung.

Land hat sich bei den Kosten für Flüchtlinge auf Kosten der Kommunen entlastet

Ein ganz dickes Ei hat die Landesregierung den NRW-Städten ins Nest gelegt: Während in vielen Bundesländern die jeweilige Landesregierung alle Kosten für die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen übernimmt, lässt NRW die Kommunen damit weitestgehend allein. 

Dortmund hat im vergangenen Jahr rund 38 Millionen Euro dafür ausgegeben. 2016 waren es 40 und 2015 sogar 65 Millionen Euro, die nicht vom Land refinanziert wurden. Die Integrationsfolgekosten wie der Bau von Schulen und Kitas für die Kinder unter den 8500 aufgenommenen Menschen sind dabei noch nicht berücksichtigt. 

Der größte Schlag ins Gesicht der NRW-Kommunen kam allerdings vom damaligen NRW-Innenminister Ralf Jäger. Er verfügte, dass das Land für die Kosten der Menschen ohne Bleibeperspektive (sogenannte „Ausreisepflichtige“) nur noch für drei Monate aufkommt. Eigentlich sollten diese Menschen zunächst gar nicht erst auf Kommunen verteilt, sondern direkt aus den Landeseinrichtungen zurückgeführt werden. 

Doch dazu kam es nicht: Stattdessen „räumte“ Jäger die Landesunterkünfte und schickte die Menschen in Kommunen. Für deren Finanzierung müssen nun die Städte und Gemeinden alleine aufkommen. Allein in Dortmund machte das im vergangenen Jahr 20,5 Millionen Euro aus. 

Land spart, während Kommunen bei den Kosten für Flüchtlinge Kredite aufnehmen

Am Sonntag werden in Dortmund drei Flüchtlingszüge erwartet. Der erste Zug brachte 800 Menschen, die im DKH versorgt und dann landesweit verteilt wurden.
Dortmund hat rund 8500 Flüchtlinge aufgenommen. Auf den meisten Kosten blieb die Kommune sitzen.

In Summe waren das in NRW 600 Millionen Euro pro Jahr, die das Land per Ministererlass auf die Kommunen abgewälzt hat. Die damalige Opposition hatte dies scharf kritisiert, aber daran – jetzt selbst in Regierungsverantwortung – nichts geändert.  

Besonders perfide: Einen Einfluss darauf, ob die Menschen wirklich in ihre Heimatländer zurückkehren, haben die Kommunen nicht. Die Beschaffung von Ersatzpapieren obliegt dem Land, die Kontakte über die Rücknahme von Flüchtlingen dem Bund. 

Das Land hätte das Geld dafür, zum Beispiel die Kosten für die Flüchtlinge zu schultern: Denn allein NRW erwartet aus dem Steuereinnahmen einen Mehrertrag von gut 3,5 Milliarden Euro. Zudem hat die Landesregierung rund eine Milliarde Euro weniger ausgegeben, als ursprünglich für Flüchtlinge eingeplant. 

Kommunen machen nun eine Rechnung an Bund und Land auf

Daher machen nun die Kommunen eine Rechnung auf. Sie fordern, dass Bund und Länder umdenken. Sie sollen sich wieder viel stärker an der Übernahme der von ihnen verursachten Kosten beteiligen und so für eine strukturelle Entlastung sorgen, damit die Städte und Gemeinden zumindest nicht deswegen chronisch unterfinanziert sind. 

Denn erst dann, kann man auch über eine Entlastung von Altschulden reden, die die Kommunen – vor allem bei künftig wieder steigenden Zinsen – erdrücken könnten. Bisher wird nur von einer Übernahme des Zinsrisikos gesprochen. Doch die Kommunen möchten, dass Land und Bund sich auch an der Tilgung der Altschulden und Liquiditätskredite beteiligen – vor allem letztere sind durch die immerneuen Belastungen sprunghaft angestiegen.

Knapp 1,581 Milliarden Euro hat allein Dortmund an kurzfristigen Verbindlichkeiten und zahlt bereits dafür 14 Millionen an Zinsen. Doch diese Kredite schweben wie ein Damoklesschwert über den Kommunen. Denn derzeit zahlen die Städte und Gemeinde weniger als ein Prozent an Zinsen. In früheren Jahren lagen die Zinsen jedoch bei rund vier Prozent – damals zahlte Dortmund allein dafür 50 Millionen an Zinsen. Hinzu kommen ja noch die Investitionskredite in Höhe von 860 Millionen Euro – dafür zahlt Dortmund ca. 20 Millionen Euro an Zinsen. 

Die Kommunen möchten Teile der Steuermehreinnahmen zur Schuldentilgung haben

Über 1000 Seiten dick - Das ist der Haushaltsplanentwurf für das kommende Jahr.
Fast 2,5 Milliarden Euro an (Alt-) Schulden und Liquiditätskrediten stehen im Dortmunder Haushalt.

Mit 63 Milliarden Euro Steuermehreinnahmen rechnet der Bundesfinanzminister aktuell. „Jetzt die allerbeste Situation, um sich über Entschuldung im Liquiditätsbereich Gedanken zu machen“, begründet Jörg Stüdemann den „Cuxhavener Appell“.

Sie verweisen auf einzelne Bundesländer, die bereits begonnen haben, entsprechende Altschuldenfonds aufzulegen. Niedersachsen und Hessen beispielsweise übernehmen Teile der Altschulden, fassen sie zusammen und verkaufen sie an Investoren. Die Kosten für die Raten übernehmen Land und Kommunen.

Ein ähnliches Verfahren schlagen die 71 beteiligten Kommunen nun auch vor. „Es gibt prosperierende Städte, die das nicht brauchen. Aber in Städten mit Veränderungsproblemen ist ein solches Handeln notwendig“, unterstreicht der Dortmunder Kämmerer. „Die Kommunen müssen sich natürlich auch beteiligen.“ Einseitig parteipolitisch sind die am Appell beteiligten Kommunen nicht gefärbt: Alle Parteien und Konstellationen seien vertreten.

Drittel-Modell: Bund, Länder und Gemeinden sollen sich die Kosten teilen

Die Kommunen schlagen ein Drittel-Modell vor – Bund, Länder und Kommunen sollten sich die Tilgung der Altschulden teilen. Dafür könne ein Teil der Mehreinnahmen aufgewendet werden. Aber auch bisher schon anfallende Kosten – Ausgaben aus dem Einheitslastengesetz (Solidarpakt Ost) auf Bundesebene oder den Stärkungspakt für besonders finanzschwache Kommunen in NRW – laufen in Kürze aus. Die Mittel müssten dann nur anders eingesetzt werden, so dass die Entlastungen ohne finanzielle Mehrbelastungen für die Haushalte möglich seien.

Vor allem der Bund sei gefordert. „Die Bestellkataloge sind teurer gewesen, aber nicht durch Steuereinnahmen und Schlüsselzuweisungen gedeckt gewesen“, macht Stüdemann deutlich. Zumeist säßen die Kommunen nicht am Tisch, wenn Beschlüsse zu ihren Kosten getroffen werden. Das solle sich nun ändern.

Entsprechende Gespräche habe es auf Bundes- und Landesebene bereits gegeben. „Ein mühseliges Geschäft“, räumt der Dortmunder ein. Zudem steht ein Gipfel zu Kommunalfinanzen an. „Es wird keine Lösung von heute auf morgen geben.“ Aber er und seine KollegInnen glauben, dass der Zeitpunkt günstig und gekommen ist.

Kommunalpolitisches Desinteresse spielt den Populisten in die Hände

Kämmerer Jörg Stüdemann zeigt sich optimistisch. Foto: Alex Völkel
Dortmunds Kämmerer Jörg Stüdemann ist optimistisch, dass der neue Kurs finanzierbar ist.

Denn an einer Entlastung geht kein Weg vorbei – schließlich sind die Kommunen der „Ernstfall der Demokratie“, wie das einst Johannes Rau ausdrückte. Sollten die Kommunen unter den Schulden zerbrechen, würden Landes- und BundespolitikerInnen die Quittungen bekommen. Schwarz-Gelb in NRW war 2010 unter anderem am rigiden Kurs gegen die Kommunen gescheitert. 

Allerdings könnten künftige Regierungswechsel von rot-grün und schwarz-gelb passieren, die aber auch den Rechtspopulisten zu weiterem Auftrieb verhelfen könnten. Das könnte vor allem passieren, wenn die Lasten aus der humanitären Zuwanderung nicht gerechter verteilt würden. 

„Kommunalpolitisches Desinteresse oder eine rechtspopulistische Verschlimmerung kann ja nicht im Interesse der regierungsführenden Parteien sein. Wie der Wechsel beim nächsten Mal aussieht, weiß man nicht“, mahnt Stüdemann. Gemeinsam müsse man zu praktikablen Lösungen kommen, die den Menschen in gebeutelten Kommunen eine Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen beschert. Dafür brauche es Geld.

„Für die West-LB wurde unendlich viel Geld ausgegeben. Banken werden als systemrelevant eingestuft, Städte sind es manchmal nicht in der Wahrnehmung der Politik nicht“, kritisiert Stüdemann. Das müsse sich ändern. 

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