Beim Selbstversuch die eigenen Grenzen kennenlernen: Demenzsimulator im Christinenstift Dortmund vorgestellt

Murmeln in kleine Behälter umfüllen – durch einen Spiegel betrachtet gar nicht so leicht. Fotos: Karsten Wickern

Von Lisa König

„Die Teilnehmer werden eigene Grenzen erfahren, Unbehagen empfinden und das eigene Unvermögen erleben.“ Nicht unbedingt ein Termin, zu dem man freiwillig gehen würde. Die Ankündigung stammt vom Christinenstift, einem Alten- und Pflegeheim in der Dortmunder City. Drei Tage lang gab es in dem Pflegeheim die Möglichkeit, einen sogenannten „Demenzsimulator“  auszuprobieren. An mehreren Stationen konnten sich die TeilnehmerInnen dort durch verschiedene Aufgaben in die Welt von Demenzerkrankten hineinversetzen.

Murmeln sortieren – Was nach einem Kinderspiel klingt kann sehr kompliziert werden

Nach endlosem Probieren können die Stationen ganz schön frustrierend werden.

Trotz der subtilen Hinweise in der Ankündigung  bin ich eher mit dem Gedanken angekommen: „Naja, so schwer kann das schon nicht sein.“ Und die erste Station verlief auch noch ganz gut für mich. Meine Begleiterin bei diesem Erlebnis, Beate Winterberg, lobte mich als eine der Besten bislang. Sie arbeitet im Christinenstift in der Leitung des Sozialtherapeutischen Dienstes.

Doch dieses Hochgefühl vergeht direkt wieder. Bei der zweiten Station habe ich die Aufgabe, mehrere Murmeln mit einem Löffel aus einer Glasschale zu nehmen und in kleine Behälter zu werfen. So weit, so simpel. Es gibt eine bestimmte Reihenfolge, an die man sich halten soll. Das werde ich mir schon merken können. „So, und nun setzen sie sich hin und blicken nur in diesen Spiegel.“ Okay, man sieht also alles nur spiegelverkehrt. Nicht gerade was ich gewohnt bin, aber mit logischem Denken sollte das ja machbar sein. Pustekuchen! Ich mühe mich die ersten Minuten allein damit ab, überhaupt mal eine Murmel auf den Löffel zu bekommen. In der Glasschale rollen sie herum wie verrückt und rutschen immer wieder von dem Löffel herunter. Ich bin in solchen Dingen eigentlich recht geschickt, deshalb habe ich den Ehrgeiz, es richtig zu machen.

Aber nachdem ich mühsam vielleicht drei der zehn Murmeln sicher untergebracht habe, gebe ich auf. Zerknirscht frage ich einen anderen Teilnehmer, wie lange er gebraucht hat, um alle Murmeln in die Behälter zu bringen. „Alle Murmeln? Ich habe grade mal zwei geschafft und das hat schon ewig gedauert.“ Und dann klickt es in meinem Kopf. Obwohl ich wusste, dass das Projekt dazu da ist, die Teilnehmer an ihre Grenzen zu bringen, war es mir trotzdem kurz peinlich, dass ich so schlecht war. „Wahrscheinlich haben die anderen das viel besser hinbekommen“, war mein erster Gedanke. „Wie dumm ich mich angestellt habe, muss richtig lächerlich ausgesehen haben“, der zweite. Und das bei einer Tätigkeit, die für meinen Alltag vollkommen irrelevant ist. Wen interessiert es, ob ich spiegelverkehrt Murmeln in kleine Behälter füllen kann?

Beim Leben mit Demenz werden alltägliche Situationen zu richtigen Herausforderungen

Ein Teilnehmer erfährt am eigenen Körper, wie schwierig es ein kann, sich richtig anzuziehen.

Für Menschen mit Demenz ist es ein ganz ähnliches Gefühl, wenn sie die durch ihre Krankheit geschaffenen Grenzen kennenlernen. Zwar sehen sie nicht alles spiegelverkehrt. Aber die Dinge sind eben nicht mehr so wie gewohnt.  Aktivitäten, die ihnen früher leicht fielen, sind zu echten Herausforderungen geworden. Und das sind nicht selten Dinge aus ihrem täglichen Leben.

„Manchmal kommt man morgens in ein Zimmer und der Bewohner sagt ganz stolz: „Schauen sie mal, ich habe mich schon ganz allein angezogen.“  Dann sagt man ihm besser nicht direkt, dass die Knopfleiste völlig schräg zugeknöpft ist“, erklärt Winterberg. „Man lässt ihn lieber erstmal frühstücken und sich über den kleinen Erfolg freuen. Und dann kann man später immer noch sagen: „Kommen sie mal mit, wir schauen uns das nochmal genauer an.“

Wenn den BewohnerInnen etwas nicht mehr gelingt, könne das sehr deprimierend sein. Manche reagieren aggressiv oder verweigern das Essen. Andere kämpfen mit Depressionen oder ziehen sich völlig zurück. Und der Bewegungsdrang, den viele Demenzerkrankte haben, resultiere aus dem Gefühl, der Situation nicht gewachsen zu sein. Beate Winterberg: „Sie kennen sich plötzlich nicht mehr aus oder bekommen Sachen nicht mehr hin. Dann ist der erste Instinkt: einfach nur weg! An einen Ort, an den sie sich hoffentlich besser erinnern.“

21-Jähriger entwickelte Simulator, um sich in Demenzerkrankte hineinzuversetzen

Der Demenzsimulator im Christinenstift geht auf das Projekt „Hands on Dementia“ zurück, das der heute 21- jährige Student Leon Maluck entwickelt hat. Durch sein Freiwilliges Soziales Jahr in einer psychiatrischen Klinik hat er sich nicht nur für ein Psychologiestudium entschieden. Mit  Hilfe von Freunden, Familie und beruflich engagierten Fachleuten begann er außerdem mit der Arbeit an „Hands-on Dementia“.

Das Projekt hat zum Ziel, Menschen ohne Demenzerkrankung einen Einblick in den Alltag von Erkrankten zu geben und so für mehr Verständnis zu sorgen. Besonders für Angehörige und Pflegekräfte kann das sehr wichtig sein. „Je länger man schon in seinem Beruf arbeitet, desto eher verliert man das Verständnis für die Betroffenen“, verrät Beate Winterberg, die seit 23 Jahren im Christinenstift in Dortmund arbeitet. „Wenn ich diesen Parcours mache, habe ich bestimmte Menschen im Kopf. Dann verstehe ich, warum sie sich so verhalten. Manchmal können sie es nicht mehr anders oder haben aufgegeben.“

Die Simulation besteht aus insgesamt 13 Stationen, die unterschiedliche Bereiche der Krankheit widerspiegeln. Dazu gehören zum Beispiel Aufgaben zur Orientierung, Hand-Augen-Koordination und Merkfähigkeit. Es kommt ganz auf den Teilnehmenden an, welche Stationen einen besonderen Eindruck hinterlassen.

Es gibt kein richtig oder falsch, solange man beim gleichen Ziel ankommt

Beate Winterberg (Leitung Sozialtherapeutischer Dienst) erklärt die einzelnen Stationen.

Bei mir gehörte dazu eine Station, bei der es um Orientierung ging. Zuerst sollte ich mir eine Karte mit einem eingezeichneten Weg anschauen. „Diesen Weg sind sie früher immer zum See gelaufen. Versuchen sie, ihn sich möglichst genau einzuprägen.“ Etwa eine Minute lang starre ich auf die Karte und als Beate Winterberg mir das Original wegnimmt, bin ich zuversichtlich. Ich habe mir mit ein paar Eselsbrücken den Weg ziemlich gut eingeprägt.

„So, nun zeichnen sie den Weg soweit es geht nach.“ Sie hält mir eine noch unausgefüllte Karte hin. Ich schnappe mir den Stift und lege los. An ein oder zwei Stellen bin ich unsicher, aber insgesamt habe ich ein gutes Gefühl. Als ich fertig bin, drückt mir Frau Winterberg eine Schablone in die Hand. „Die können sie über ihre Karte legen, um Abweichungen zu sehen.“

Ich bin verwirrt. Und auch ein wenig enttäuscht. Die Schablone stimmt fast nirgendwo mit meiner Zeichnung überein. Peinlich berührt blicke ich hoch. Nach einem kurzen Schweigen erlöst mich Beate Winterberg: „So, und nun legen sie die Schablone mal auf das Original.“ Ich folge der Anweisung und bin erneut sehr verwirrt. Sie stimmt auch nicht mit dem Original überein! „Was sie hierbei sehen sollen: Es gibt kein richtig oder falsch. Bei allen Versionen kommen sie am gleichen Ziel an. Ist doch egal, ob Frau Meyer drei Mal ums Haus läuft und dann erst den Weg zum Eingang findet.“

Mein erster Impuls als ich das höre: Ha, ich hatte also doch Recht! Dann die Erkenntnis: Darum geht es hier gar nicht. Warum muss es unbedingt der schnellste Weg sein? Wenn ich dort ankomme, wo ich hin will, ist alles okay. Diese Erfahrung zeigt mir auch: niemand mag es, sich mit seinen Schwächen auseinander zu setzen. Aber wenn man sie sich eingesteht, ist es oft gar nicht so schlimm wie gedacht.

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