Ukrainische Generalkonsulin Iryna Shum über die aktuelle Situation:

Bei allen Verheerungen durch Putins Angriffskrieg gibt es zahlreiche Hoffnungsschimmer

Auch als Zeichen der Solidarität mit der Ukraine diente der Besuch der Generalkonsulin in der Auslandsgesellschaft.
Auch als Zeichen der Solidarität mit der Ukraine diente der Besuch der Generalkonsulin in der Auslandsgesellschaft.

Die ukrainische Generalkonsulin Iryna Shum war zu Gast in der Auslandsgesellschaft und informierte in einer öffentlichen Veranstaltung im vollbesetzten Großen Saal über die aktuelle Situation in der Ukraine. Sie sah neben den Verheerungen durch Putins Krieg auch zahlreiche Hoffnungsschimmer für ihr Land und seine Zukunft als Teil der freien westlichen Zivilisation. Zu dieser Veranstaltung hatte neben der Auslandsgesellschaft auch die Westfälische Kaufmannsgilde e.V. eingeladen.

Iryna Shums Impulse: Ukraine gestern – heute – morgen

Unter dem Motto Ukraine gestern – heute – morgen hielt Frau Shum zunächst einen kurzen Impulsvortrag. Gestern habe die Bevölkerung ein glückliches Leben gehabt, das Land sei durch die gesellschaftlich-demokratischen und wirtschaftlichen Reformen insbesondere seit dem Maidan 2014 auf einem sehr guten Weg gewesen.

Doch dann kam der brutale und völkerrechtswidrige Überfall Putins auf die Ukraine seit dem 24. Februar 2022. Für eine Frau aus dem ostukrainischen Gebiet Donezk, die Frau Shum bei einer Odyssee-Aufführung mit ukrainischen Geflüchteten in Düsseldorf kennengelernt hatte, bedeutete das die zweite Flucht, dieses Mal nach Deutschland.

Eine andere Freundin lebt jetzt auch in Düsseldorf, ihr Mann arbeitete vor dem Krieg als Philosoph, nun kämpft er als Soldat und Kriegsfotograf gegen den russischen Aggressor. Und dies gelte für die gesamte ukrainische Bevölkerung: alle leisteten heute ihren spezifischen Beitrag zum Abwehr- und Überlebenskampf.

Angespannte ökonomische Lage in der Ukraine

Die ukrainische Generalkonsulin Iryna Shum war zu Gast in der Auslandsgesellschaft
Die ukrainische Generalkonsulin Iryna Shum war zu Gast in der Auslandsgesellschaft

Iryna Schum wechselte dann die Ebene und ging, auch mit Blick auf die anwesenden Wirtschaftsvertreter, auf die heutige ökonomische Situation der Ukraine ein: Zwar habe es einen verheerenden ökonomischen Einbruch gegeben, doch nicht so stark wie befürchtet, statt um 50 Prozent sei das Bruttoinlandsprodukt nur um 30 Prozent zurückgegangen.

Über 60 Prozent der Unternehmen produzierten weiter, Firmen seien aus den Kriegsgebieten in der Nord-, Ost- und Südukraine in den Westen des Landes umgezogen, einige auch nach Deutschland, manche davon seien schon wieder zurückgekehrt.

Die Konsulin appellierte eindringlich, auch künftig die Handelsbeziehungen mit ihrem Land aufrechtzuerhalten und auszubauen und dort zu investieren und dafür die Möglichkeiten staatlicher Wirtschaftsförderung zu nutzen, es gebe in ihrem Land 300.000 IT-Fachkräfte.

Städtepartnerschaften als Baustein für die Zukunft

Ein weiteres Feld seien z.B. Städtepartnerschaften, vor 2022 gab es in Deutschland ganze sieben, jetzt seien es schon dreißig, darunter Essen und Duisburg, auch Dortmund bahne jetzt eine mit Shytomyr an.

Auf Landesebene sei NRW am 28. Februar 2023 eine regionale Partnerschaft mit dem Oblast Dnipropetrowsk eingegangen, am 23./24. März werde es in Düsseldorf eine große Wiederaufbaukonferenz geben.

Abschließend ging Iryna Schum auf die Frage ein, wie sie die Chancen für Friedensverhandlungen sehe: erforderlich sei ein gerechter Frieden, der stabil sein müsse, damit es nicht in zwei oder drei Jahren zum nächsten Überfall Russlands kommt.

Gestaltung des Friedens: Nato- und EU-Mitgliedschaft

Im anschließenden Gespräch mit dem Präsidenten der Auslandsgesellschaft, Klaus Wegener, und dem Publikum wurden Iryna Shums Impulse aufgegriffen und weitere Themen mit ihr ausdiskutiert. Einigkeit bestand darin dass es keine Verhandlungsmasse für Friedensverhandlungen gebe,  solange Putin an seinem Ziel der Vernichtung der Ukraine festhalte.

Gut besucht war die Veranstaltung - es gab großen Redebedarf.
Gut besucht war die Veranstaltung – es gab großen Redebedarf.

Die Konsulin skizzierte, dass zunächst die Erhaltung der ukrainischen Souveränität in ihren international anerkannten Grenzen unabdingbar sei (87 Prozent der Ukrainer:innen seien gegen territoriale Abtretungen, über 90 Prozent für militärische Abwehrstärke) – und langfristig die europäische Integration ihres Landes als Teil der freien Welt.

Der gewünschte Beitritt zur NATO werde sich schwieriger gestalten als der zur EU, weil dafür die Zustimmung jeden einzelnen Mitglieds erforderlich sei. In Bezug auf eine EU-Mitgliedschaft zeigte sich Frau Shum optimistischer, v.a. seit dem Assoziierungsabkommen habe es viele Reformen gegeben, auch bei der Korruptionsbekämpfung, der Lebensstandard sei deutlich gestiegen, die Ukraine wolle keine „Rabatte“, aber auch absolut gleichwertiges EU-Mitglied werden.

Putins Drohungen mit der Atombombe

Intensiv ging es um die psychologische Kriegsführung: Putins Drohungen mit der Atombombe beeindruckten Wegener und einige Gesprächsteilnehmer:innen stärker als Iryna Shum. Sie wies darauf hin, dass die Atombombendrohung bisher eher als psychologische Kriegswaffe gedient habe, um in der Ukraine, aber auch den westlichen Staaten lähmende Angst zu verbreiten und eine Entsolidarisierung mit der Ukraine herbeizuführen.

Gegenmittel seien vor allem Einigkeit, aber auch die deutlichen Warnungen gewesen, dass der Westen bei russischem Atomwaffeneinsatz mit seiner überlegenen Militärkraft nicht-nuklear massiv zurückschlagen werde. Außerdem habe der russische Diktator nach militärischen Misserfolgen im letzten Jahr nicht völlig irrational reagiert, sondern sich teils auch schon zurückgezogen und seine atomare Streitmacht nicht aktiviert.

Aufklärung gegen russische und Putin-freundliche Propagandamaßnahmen

Den russischen Propaganda-Maßnahmen müsse, so Iryna Shum, mit Aufklärung begegnet werden: Gegen Putins Geschichtsklitterungen wie die Krim sei russisch müsse man nicht nur die tatsächliche Geschichte dieser Halbinsel setzen, sondern auch die völkerrechtliche Situation der international anerkannten Grenzen.

Genauso wichtig sei es, auf dem Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Menschen zu bestehen, die nicht unter einer brutalen Diktatur, sondern in demokratischer Freiheit leben möchten. Dazu müsse man nur den Ukrainer:innen selbst im persönlichen Gespräch zuhören oder sie zu Veranstaltungen wie dieser einladen und aufs Podium setzen.

Seit Putins Überfall hätten viele ethnisch-russische Ukrainer:innen sich auf die Seite der Ukraine gestellt und Kontakte zu ihren pro-Putin eingestellten russischen Verwandten abgebrochen. Die Auseinandersetzung mit der Putin-freundlichen Querfront in Deutschland müsse offensiv geführt werden. Dies sei auch ein wichtiger Teil des Zusammenwachsens von Deutschen und Ukrainer:innen, jetzt in Kriegszeiten wie als Basis für eine gemeinsame Gestaltung der Zukunft.

Dankbarkeit der Ukraine für die vielfältige und ungebrochene Unterstützung

Solidarität mit der Ukraine steht an der Fassade der Auslandsgesellschaft,
Solidarität mit der Ukraine steht seit dem vergangenen Frühjahr an der Fassade der Auslandsgesellschaft, Foto: Thomas Engel

Die zahlreichen gemeinsamen Demonstrationen von Deutschen und Ukrainer:innen seit Kriegsausbruch und jetzt wieder zum Jahrestag des 24. Februar würden von den Ukrainern hier und in der Ukraine sehr genau registriert und wertgeschätzt.

Iryna Shum sagte, dass die Ukraine dankbar sei für die vielfältige und ungebrochene Unterstützung im Westen.

Die große Mehrheit habe eben verstanden, dass in der Ukraine heute die westliche Freiheit insgesamt verteidigt werde. Dies werde durch vielfältigen privaten Austausch aber auch institutionelle Zusammenarbeit, neben Städte- z.B. auch Schulpartnerschaften bestärkt, hier seien die deutsch-polnischen Initiativen Vorbild.

Wegener: Putin ist unser Feind, mit dem russischen Volk wird wieder zu reden sein

Klaus Wegner führt mit der Auslandsgesellschaft eine Institution, die derzeit 400 ukrainische Deutschschüler unterrichtet, viele deutsch-ukrainische Initiativen und Veranstaltungen durchführt und in Vorkriegszeiten auch intensiv die Dortmunder Städtepartnerschaft mit Rostow am Don mitgestalten konnte. An ihm lag es, darauf hinzuweisen, dass Putin unser Feind sei, aber nicht das russische Volk, mit dem wieder zu reden sei.

Gabriele Kroll von der Westfälischen Kaufmannsgilde e.V. überreichte Iryna Shum zum Dank und zur Unterstützung ihres Optimismus am Ende ein Modell des geflügelten Dortmunder Nashorns „Gloria“. Die Konsulin bedankte sich unter dem Beifall des Publikums mit einem „Slava Ukraini“, das nichts anderes bedeute als „Glory to Ukraine“.

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