Junge (7) aus Kabul wurde im Klinikum Dortmund erfolgreich operiert

Ausreise im letzten Moment: „In Afghanistan wäre ihm nur die Amputation geblieben“ 

Zekrya, Pflegemutter Selda Keskin und Dr. Kathrin Rosery (Oberärztin in der Klinik für Orthopädie des Klinikums Dortmund) nach der Operation.
Zekrya, Pflegemutter Selda Keskin und Dr. Kathrin Rosery (Oberärztin in der Klinik für Orthopädie des Klinikums) nach der OP. Foto: Annika Haarhaus für das Klinikum Dortmund

Sein Bein ist mittlerweile geschient und er sitzt lächelnd auf der Behandlungsliege. Pflegemutter Selda Keskin ist immer an seiner Seite. Auch nachts, wenn er absichtlich wach bleibt und versucht, sie so zu beschützen – aus Angst vor feindlichen Flugzeugen, Bomben und Schüssen. Und das, obwohl er mehrere tausend Kilometer weit weg ist, und in Sicherheit. Doch die Zeit in Afghanistan hat den siebenjährigen Zekrya tief geprägt.

Mit einem der letzten Linienflüge hat Zekrya es noch nach Deutschland geschafft

Unter anderem wegen einer angeborenen Schienbein-Fehlbildung, wodurch ein Bein elf Zentimeter kürzer war als das andere, sollte der Junge im Klinikum Dortmund operiert werden. Doch kurz vor dem Abflug verschärfte sich die Situation in Afghanistan. Die islamistische Terrorgruppe der Taliban übernahm immer mehr Teile des Landes und blockierte die Ausreise. Mit einem der letzten Linienflüge hat Zekrya es noch nach Deutschland geschafft. Im Klinikum wurde seine Fehlbildung erfolgreich operiert, mindestens ein weiterer Eingriff steht jedoch noch aus. Wie seine Zukunft danach aussieht und ob er wieder zurück zu seiner Familie kann, ist jedoch ungewiss.

In sich gekehrt, ängstlich und immer auf der Hut: So habe Pflegemutter Selda Keskin den Siebenjährigen am Anfang erlebt. Mittlerweile hat Zekrya aber Vertrauen geschöpft und erzählt ihr von seinen Erlebnissen in Afghanistan. Doch nicht wie die meisten anderen Kinder es tun würden – denn der Siebenjährige ist fast komplett taub. Er verständigt sich per Gebärdensprache. Die hat seine Pflegemutter extra für ihn gelernt.

„Man kann sich kaum vorstellen, was Zekrya schon miterleben musste, in welche Situationen er geraten ist, wie viel Angst er hatte. Zum Beispiel hat er erzählt, dass in seiner Nähe mehrere Granaten explodiert sind – die Narben der Splitter sieht man an seinen kompletten Beinen“, erzählt Keskin. „Das alles hat ihn sehr schnell erwachsen werden lassen, und das erst mit sieben Jahren.“ In Kabul wohnt der Junge mit seiner großen Familie auf engem Raum. „Selbst in ruhigeren Phasen ist dort immer jemand von ihnen wach, achtet auf den Himmel, auf mögliche Flugzeuge, die Sprengkörper abwerfen oder auf ungewöhnliche Geräusche“, so die Pflegemutter.

Es war für Rettung im letzten Augenblick, seine letzte Chance auf ein anderes Leben

Zekrya vor der Operation: Er hatte einen Längenunterschied von Elf Zentimetern bei seinen Beinen und zudem einen Klumpfuß.
Zekrya vor der Operation: Er hatte einen Längenunterschied von Elf Zentimetern bei seinen Beinen und zudem einen Klumpfuß. Foto: Annika Haarhaus für das Klinikum Dortmund

Wegen der schlechten medizinischen Versorgung in Afghanistan ist Zekryas Fehlbildung nicht behandelt worden – dort wäre ihm nur die Amputation geblieben.

„Deswegen hat er damit einfach weitergelebt und sogar Fußball gespielt. Und das trotz der elf Zentimeter Längenunterschied der Beine. Zudem hatte er einen Klumpfuß und konnte deswegen nur auf der Fußaußenseite laufen“, erklärt Dr. Katrin Rosery, Oberärztin in der Klinik für Orthopädie des Klinikums Dortmund. Gemeinsam mit Oberarzt Dr. Matthias Manig hat sie den Jungen operiert.

Damit der Siebenjährige wieder ganz normal laufen kann, wurde zunächst der rechte und damit kürzere Schienbeinknochen des Jungen in der Mitte durchtrennt, um ihn dann mithilfe eines äußeren Fixateurs zu verlängern. Im Anschlusswurde der Klumpfuß des Jungen begradigt.

„Wir haben morgens und abends an dem Fixateur gedreht und das Bein täglich einen Millimeter länger gemacht“, so Dr. Rosery. „In der Zwischenzeit konnte sich in der Lücke neuer Knochen bilden, sodass die Beine am Ende nahezu gleich lang sind. Der Rest kann mit einer Sohle ausgeglichen werden.“

Bis es soweit ist, bleibt Zekrya bei Selda Keskin und ihrer Familie. Für sie ist der Siebenjährige ein ganz besonderes Pflegekind: „Ich habe schon einige Kinder aus Afghanistan aufgenommen, die im Klinikum operiert wurden“, so Keskin. „Aber bei keinem war es so wie mit Zekrya. Es war für ihn Rettung im letzten Augenblick, seine letzte Chance auf ein ganz anderes Leben. Sonst wäre er dort nicht mehr weggekommen.“

Spenden machten den Transport und die Operation möglich

Mittlerweile kann der junge Patient sich sogar normal verständigen. „Auf dem linken Ohr ist Zekrya leider weiterhin komplett taub“, so Natalja Bolotina, Oberärztin in der HNO-Klinik. „Glücklicherweise konnten wir ihn aber auf dem rechten, schwerhörigen Ohr mit einem Hörgerät versorgen. Zum ersten Mal nach so langer Zeit kann er endlich wieder hören. Das hat uns alle sehr berührt.“ Finanziert wurde das Gerät von der Dortmunder Filiale des Hörakustik-Geschäfts „Geers“.

Damit all dies möglich war, haben die Hilfsorganisationen „Kinder brauchen uns“ e.V. und „Löwenstarke Kinderhilfe“ e.V. Transport und Operation für Zekrya finanziert. In einem letzten Eingriff wird nun noch die Schiene am Bein entfernt – dann kann der Siebenjährige bald ganz normal laufen. Speziell für solche Fälle hat das Klinikum einen Spendenshop eingerichtet, in dem u.a. dazu beigetragen werden kann, dass auch weiteren Kindern aus Krisengebieten eine Operation und damit der Start in ein neues Leben ermöglicht werden kann. Weitere Informationen dazu finden Sie unter: spenden-klinikumdo.de/kinderklinik

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  1. Online-Lesung „Am Ende der Straße – Afghanistan zwischen Hoffnung und Scheitern“ (PM)

    Die Integrationsagentur der AWO Unterbezirk Dortmund lädt ganz herzlich zur Online-Lesung aus dem Buch „Am Ende der Straße – Afghanistan zwischen Hoffnung und Scheitern“ mit dem Autor Wolfgang Bauer ein.

    Die afghanische Ring Road. Eine Straße, die real existiert und dennoch ein Mysterium ist. Der 2200 Kilometer lange kreisförmige Highway verbindet die wichtigsten Städte des Landes. Er versprach Einheit und Aufschwung. Seit sechzig Jahren wird an ihm gebaut, doch fertig ist er noch immer nicht. Korruption und Misswirtschaft haben riesige Summen verschlungen. Nach dem Einmarsch der westlichen Truppen wurde die Straße zu einem blutigen Schlachtfeld.

    Kaum ein deutscher Journalist kennt Afghanistan so gut wie Wolfgang Bauer. Der Zeit-Reporter war viele Male vor Ort, machte die Schicksale der Menschen in preisgekrönten Reportagen anschaulich. Früh warnte er vor einer Rückkehr der Taliban. Im August 2021 wurde einer seiner engsten Mitarbeiter ermordet.

    Nach dem Fall Kabuls kehrt Wolfgang Bauer noch einmal zurück. Er bereist die Ring Road, sucht Orte auf, die er in den letzten 20 Jahren besucht hat – und geht der Frage nach: Warum ist der Westen in Afghanistan gescheitert? Was hat dieses Scheitern mit der milliardenschweren Entwicklungshilfe zu tun? Und wie geht es weiter? Seine Reportage ist eine Parabel über Hoffnung und Scheitern am Hindukusch.

    Wolfgang Bauer, geboren 1970, arbeitet für die Wochenzeitung „Die Zeit“. Für seine Reportagen wurde er u. a. mit dem Theodor-Wolff-Preis und dem Prix Bayeux Calvados-Normandie für Kriegsberichterstattung ausgezeichnet. Sein Buch „Über das Meer“ war ein Bestseller und wurde in zehn Sprachen übersetzt.

    Wann? Mittwoch, 23. November 2022, 19.00 – 20.30 Uhr
    Anmeldung unter j.wenzel@awo-dortmund.de
    Die Zugangsdaten erhalten Sie per E-Mail.
    Die Teilnahme an der Veranstaltung ist kostenfrei.

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