Bereits zum dritten Mal kam der „Mayors Summit Against Antisemitism“, zu deutsch: Bürgermeister:innengipfel gegen Antisemitismus, zusammen. In diesem Jahr war Dortmund Gastgeber und Austragungsort der Veranstaltung. Vom 29. November bis zum 1. Dezember kamen zahlreiche Stadtoberhäupter, hauptsächlich aus Europa, aber auch aus anderen Kontinenten zusammen, um in den Austausch zu kommen, Perspektiven aufzuzeigen und Lösungswege zu besprechen.
Angriff der Hamas auf Israel im Fokus der Debatte
Über drei Tage kamen verschiedene (Ober)Bürgermeister:innen aus 20 Ländern, Vertreter:innen von jüdischen Organisationen und Antisemitismusbeauftragte sowie weitere Gäste an verschiedenen Orten in Dortmund, etwa der Kokerei Hansa, Phoenix des lumières oder dem Westfalenstadion, ins Gespräch. Im Fokus stand der Angriff der Hamas auf Israel und der damit verbundene Anstieg von antisemitischen Tendenzen. Als Schirmherr fungierte Dortmunds Oberbürgermeister Thomas Westphal, neben der Stadt waren aber auch das „Combat Antisemitism Movement“ (CAM) und das „Center for Jewish Impact“ (CJW) als Partner beteiligt.
Am Donnerstag (30. November) fand in der jüdischen Gemeinde eine große Diskussionsveranstaltung statt. Einleitende Worte kamen von Avigdor Nosikov: „Antisemitismus ist nicht nur eine Bedrohung für Juden, sondern auch ein Signal, dass eine Gesellschaft krank ist.“ Der Rabbiner berichtete von seiner Flucht aus Russland, kurz nachdem das Land völkerrechtswidrig die Ukraine überfallen hat. Nun ist er in Dortmund angekommen, doch der steigende Antisemitismus in Deutschland und der Welt bereitet ihm große Sorgen.
Auch Oriana Marie Krüger, Director of European Affairs des „Combat Antisemitism Movement“ hielt eine Begrüßungsrede. Kritik äußerte sie am deutschen Bildungssystem: So wurde in ihrer Schulzeit Antisemitismus als vergangenes und nicht als aktuelles Problem dargestellt. Auch israelbezogener Antisemitsmus sei nie ein Teil des Lehrplans gewesen. Krüger wünsche sich, dass Schüler:innen sich diese Dinge nicht selbst beibringen müssen.
Schulen vermitteln zu wenig Bildung über Antisemitismus
Der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitimus, Dr. Felix Klein, machte auf die Wichtigkeit von Antisemitismusbeauftragten aufmerksam. Auch auf Länderebene sei dieses Amt wichtig, da von dort aus die Bildungspolitik bestimmt werde. Deutschland habe aufgrund seiner Geschichte eine besondere Verantwortung Wissen über den Holocaust zu vermitteln.
Probleme im Bereich der Bildung sieht auch Sam Moema. Die gewählte Abgeordnete des London Assembly, dem Londoner Pendant zum Rat der Stadt, berichtete von ihren eigenen Erfahrungen. Sie sei auf eine katholische Schule gegangen, wobei sie das Wort Antisemitismus nur einmal gehört habe. Um solche Tendenzen zu bekämpfen, reiche der schulische Weg aber nicht aus. Es brauche auch einen verstärkten Dialog mit verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen.
Michal Cotler-Wunsh, israelische Sondergesandte für die Bekämpfung von Antisemitismus, ordnete die Dimension der Attacke der Hamas auf Israel ein. Seither seien 10.000 Raketen auf die israelische Zivilbevölkerung gefeuert worden. Der 7. Oktober sei nicht nur ein Anschlag auf das Land Israel, sondern auch ein Angriff auf das Fundament der Demokratie.
„Wir wissen, dass die Polizei jüdisches Leben gerade heute schützen muss“
Eine sicherheitspolitische Sichtweise lieferte Dortmunds Polizeipräsident Gregor Lange: „Das Verhältnis der Dortmunder Polizei zur jüdischen Gemeinschaft beruht nicht allein auf Sicherheit, sondern vielmehr auf persönlichem Kontakt und Vertrauen. Vertrauen, das wir sehr zu schätzen wissen. Wir wissen, dass die Polizei jüdisches Leben gerade heute schützen muss. Unser vertrauensvolles Miteinander zahlt sich in diesen Tagen aus“, so der Polizeipräsident.
In den vergangenen Wochen rückten vermehrt propalästinensische Demonstrationen, oft unter Teilnahme von Menschen mit Migrationsgeschichte, in den Fokus der Medienberichterstattung. In Richtung der islamkritischen Stimmen sagte der 61-Jährige: „Der permanente Dialog auch der Religionsgemeinschaften in Dortmund führte in den vergangenen Jahren zu einem konstruktiven Vertrauensverhältnis. Dabei habe ich den hier in Dortmund gelebten Islam stets als friedfertige Religion wahrgenommen.“
Auch der Ukrainekrieg war Teil der Debatte. Pavlo Vugelman, stellvertretender Bürgermeister von Odessa erzählte den Anwesenden über die Beziehung des russischen und des ukrainischen Volkes. Die Generationen seines Vaters und Großvaters seien Freunde gewesen, hätten die gleichen Filme geschaut. Heute sei die Welt eine völlig andere. Die russischen Soldaten kämen zu ihren Häuser, allerdings nicht als Freunde, sondern als Feinde.
Anm.d.Red.: Haben Sie bis zum Ende gelesen? Hat es Spaß gemacht oder war es Arbeit? Oder beides? Nur zur Info: Die Nordstadtblogger arbeiten ehrenamtlich. Wir machen das gern, aber wir freuen uns auch über Unterstützung!
Reaktionen
RIAS-Bericht zu antisemitischen Vorfällen in Deutschland veröffentlicht: Enormer Anstieg antisemitischer Vorfälle seit dem 7. Oktober (PM)
Im Zeitraum vom 7. Oktober bis 9. November dokumentiert der Bundesverband RIAS 994 antisemitische Vorfälle mit Bezug zu den Massakern der Hamas. Das sind 29 Vorfälle am Tag und somit ein Anstieg von 320% zum Jahresdurchschnitt von 7 Vorfällen am Tag im Jahr 2022. RIAS-Meldestellen berichten von einem anhaltend hohen Meldeaufkommen.
Neuer Alltag für Jüdinnen_Juden
Antisemitische Äußerungen wirken sich aufgrund der Massaker der Hamas besonders negativ auf das Lebens- und Sicherheitsgefühl von jüdischen Communities aus. Jüdinnen_Juden berichten vermehrt von antisemitischen Vorfällen an Orten ihres Alltags: In der Nachbarschaft, an ihrem Arbeitsplatz oder an Hochschulen. Besonders verunsichernd sind Vorfälle im Wohnumfeld: RIAS-Meldestellen wurden 59 solcher Vorfälle bekannt. Beispiel: In Gießen drangen zwei Männer gewaltsam in die Wohnung eines Israelis ein, um eine aus dem Fenster gehängte Israelflagge zu entfernt.
Antisemitismus an Hochschulen nimmt zu
Vermehrt wird an Hochschulen antiisraelische Propaganda verbreitet. Dabei kommt es zu antisemitischen Schmierereien und Versammlungen sowie dem Verteilen antisemitischer Flyer. Insgesamt wurden 37 antisemitische Vorfälle an Hochschulen dokumentiert. Jüdische Studierende berichten, dass sie von ihren Kommiliton_innen für das Verhalten Israels verantwortlich gemacht wurden und daher der Hochschule fernblieben. In Mittelfranken wurde auf dem Gelände einer Hochschule eine Person, die bekannt für ihr Engagement gegen Antisemitismus ist, auf öffentlichen Fotos antisemitisch markiert.
Zahl antisemitischer Versammlungen bleibt hoch
RIAS-Meldestellen haben im Auswertungszeitraum 177 antisemitische Versammlungen erfasst. Die Verbreitung von Desinformation trägt zur Mobilisierung bei: Nachdem eine ungeprüfte Meldung über einen angeblichen Angriff der israelischen Armee auf das Al-Ahli Krankenhaus am 17. Oktober verbreitet wurde, verdoppelte sich die Zahl antisemitischer Versammlungen zur Vorwoche auf 61. Desinformation wirkt sich so negativ auf das Sicherheitsempfinden von Jüdinnen_Juden in der Öffentlichkeit aus.
Benjamin Steinitz, Geschäftsführer vom Bundesverband RIAS e. V.:
„Wenn jüdische Studierende dem Campus aus Sorge vor antisemitischen Erfahrungen fernbleiben, sind ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen aber auch die Hochschulleitungen und organisierten Studierendenschaften in der Pflicht mit aller Konsequenz gegen Antisemitismus vorzugehen. Die Propagandaerfolge der Hamas haben auf den Zu- und Verlauf von Demonstrationen in Deutschland einen größeren Einfluss, als das Agieren des israelischen Militärs selbst. Journalist_innen und Medienunternehmen tragen die Verantwortung, Bilder und Angaben zu Opferzahlen bezüglich des Kriegsgeschehens in Gaza genau zu prüfen.“
Hanna Veiler, Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD):
„Es ist von sehr großer Bedeutung, dass wir uns im Kampf gegen Antisemitismus auf den Monitoringbericht von Rias beziehen können. Die darin dokumentierten Zahlen sind erschreckend, jedoch nicht verwunderlich. Junge Jüdinnen und Juden berichten seit dem 7. Oktober ununterbrochen, wie stark der Antisemitismus, den sie in ihrem alltäglichen Leben wahrnehmen, vor allem im universitären Kontext, zugenommen hat. Davon zeugen auch die im Bericht dargestellten Zahlen.“
Prof. Dr. Walther Rosenthal, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz
„Die drastische Zunahme antisemitischer Vorfälle muss die gesamte Gesellschaft alarmieren. Als HRK-Präsident macht es mich betroffen, dass es auch an deutschen Hochschulen zu antisemitischen Vorfällen gekommen ist und kommt. Die HRK und die in ihr zusammengeschlossenen Hochschulen haben schon 2019 öffentlich erklärt und in jüngster Zeit vielfach wiederholt: „An deutschen Hochschulen ist kein Platz für Antisemitismus. Hochschulen sind Zentren demokratischer Kultur, Orte des Dialogs und Stätten der Vielfalt.“ Sie müssen friedliche und rationale Diskursräume sein. Wir dulden keine Gewalt, weder verbal noch physisch, keinen Antisemitismus, keinerlei Ausgrenzung. Die Hochschulen haben relevante Handlungsfelder für ein entschiedenes Eintreten gegen Antisemitismus identifiziert und Maßnahmen ergriffen. Diese reichen von der konsequenten Anzeige und Sanktionierung antisemitischer Straftaten von Hochschulangehörigen, der Stärkung von Anlaufstellen für Antidiskriminierung bzw. Antisemitismus bis zur Ausweitung von Angeboten der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Antisemitismus, jüdischer Kultur und Geistesgeschichte in Lehre, Forschung sowie Wissenschaftskommunikation. Alle Hochschulangehörigen sind aufgefordert, sich entschieden und anhaltend gegen Antisemitismus in jeglicher Form zu wenden.“
Marina Chernivsky, Geschäftsführerin von OFEK e.V., Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung:
„Das Ausmaß des Antisemitismus wird durch die Anzahl, aber durch die Qualität der Vorfälle zunehmend deutlich. Einige Ratsuchende berichten, sie können antisemitische Grundstimmung mit Händen greifen. Andere geben zu, noch nie in ihrem Leben in Deutschland so viel Ablehnung und Verunsicherung erlebt zu haben. Antisemitische Ideologie wird sichtbarer; das Ressentiment hörbarer. Alle sozialen Sphären und Interaktion sind davon betroffen – Schulen, Universitäten, Spielplätze, Wohnumfeld. Antisemitismus wird nun direkt ausgesprochen und gezielt ausagiert. Der Stand der Beratungsanfragen bei OFEK in sieben Wochen ist so hoch wie in keinem Jahr seit der Gründung der Beratungsstelle. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs.“