Ein Gastbeitrag von Marc Philipp Hertel und Kristian Svane
Stipendiat:innen der Studienstiftung zu Besuch in der Dortmunder Nordstadt? Als wissenschaftlich wohl meistuntersuchter Stadtteil Deutschlands vermag diese Konstellation zunächst nicht zu überraschen. Und auch der Titel „einfach anders wild: Urban Ugliness in der BRD“ verspricht in Verbindung mit der Nordstadt noch nichts Neues. Wie also unterscheidet sich unsere Exkursion von dem üblichen Blick auf die Nordstadt? Und zu welchen Erkenntnissen sind wir gekommen?
„Uns interessiert, wie es vor Ort wirklich aussieht.“
Die Exkursion fand im Rahmen der Programmlinie „Stipendiat:innen machen Programm“ statt. Unser Ziel: Wir reisen in Städte, denen andere die Schönheit vielleicht absprechen mögen, um zu erkunden, wie die Situation vor Ort – im wahrsten Sinne – aussieht und wo die Zuschreibung herkommt.
Gefunden haben wir auf unserer Fahrt tatsächlich kaum etwas, was wir ohne Vorbehalt als hässlich bezeichnen könnten. Stattdessen sind uns die freundlichsten Menschen, ziemlich normal aussehende Gebäude und vor allem: städtebauliche Fehlplanungen und politische Vernachlässigung sozio-ökonomisch benachteiligter Stadtviertel begegnet.
„Die Nordstadt als vielschichtiges Ankunftsquartier“
Am Bahnhof wurden wir von Nordstadtbloggerin Daniela Berglehn herzlich empfangen. Sie gab ehrliche Einblicke über aktuelle Dynamiken im Stadtteil und präsentierte sich als stolze Nordstädter:in.
Dem folgte auch Didi Stahlschmidt, ehemaliger Quartiersmanager für die Innenstadt-Nord, der an der Kirche St. Joseph auf uns wartete.
Für die Stipendat:innengruppe ordnete er die Nordstadt historisch als vielschichtiges Ankunftsquartier ein, schwärmte von der Restaurant-Vielfalt in der Münsterstraße und fixte die Studierenden direkt mit seiner lockeren, authentischen Art an, was eine kaum mehr abzubrechende Reihe an Fragen Folge hatte.
Zwischen Mouhamed-Plakaten, Nordmarkt und Urban Gardening
Neben unseren informierten Nordstädter:innen begleiteten uns auf unserer Route auch Sticker und Plakate, die an den Tod des 16-jährigen Mouhamed durch Polizeigewalt erinnern. Sie verdeutlichen, dass im öffentlichen Raum für verschiedene Opfer unterschiedlich sichtbar getrauert wird und sich manche Gruppen ein öffentliches Erinnern über ‚provisorisch‘ angebrachte Sticker und Plakate erkämpfen müssen.
Die Führung fand ihren Höhepunkt am Nordmarkt, wo wir uns in der Mitte des Geschehens ein eigenes Bild von den verschiedenen Ordnungen im öffentlichen Raum machen konnten, die hier mit- und nebeneinander gelebt werden.
Der Besuch beim essbaren Waldgarten „7.000 Schmetterlinge“ rundete den Spaziergang ab. Gründerin Barbara Koch berichtete der Gruppe über Entstehung und Herausforderungen dieses Urban Gardening-Projektes am Hafen.
Beispiele für anders gelebte Ordnungen und neue Konstellationen
Die Stipendiat:innen tauschten sich nach dem Rundgang über ihre Erkenntnisse des Stadtteilrundgangs aus und fanden recht schnell Ähnlichkeiten zum Ludwigshafener Stadtviertel Hemshof, das bereits am dritten Exkursionstag mit dem dortigen Ortsvorsteher Osman Gürsoy besucht wurde.
Sowohl die Nordstadt als auch der Hemshof sind Ankunftsquartiere, in denen Aushandlungen zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer und kultureller Zugehörigkeit stattfinden.
Deutlich wird das zum Beispiel durch anders gelebte Ordnungen im öffentlichen Raum, die für die ‚deutschen‘ Ordnungshüter in uns dann ‚unordentlich‘ oder gar ‚hässlich‘ erscheinen mögen: auf die Straßen gestellter Sperrmüll ungeachtet deutscher Abfuhrprozeduren oder Trinker-Szenen mit ausschließlich Männern am helllichten Tag.
An anderen Orten – das wissen doch gerade die Dortmunder:innen – würde man um 15.30 Uhr nachmittags ähnliche Konstellationen finden, nur werden diese dann nicht ‚Trinker-Szenen‘ sondern ‚Fußballliebe‘ genannt.
Stigmatisierung und Raumfetischismus verschlimmern die Lage
Sowohl im Hemshof als auch in der Nordstadt werden neben Müll und Trinker-Szenen dann auch einzelne kriminelle Taten medial derart gestreckt, dass sie irgendwann das ganze Viertel mit einem pauschalen Ruf abdecken.
So geschieht Stigmatisierung. So geschieht „Raumfetischismus“, wie es der Frankfurter Stadtgeograph Bernd Belina fasst: Der Raum (bzw. das Viertel) wird zum ‚Problem‘ und als Erklärung für soziale Phänomene wie Vermüllung, Trunksucht oder Kriminalität verwendet.
Im „Raumfetischismus“ konzentrieren sich stadtpolitische Antworten dann auf die materielle Umgestaltung des Raumes: Es werden Sitzbänke abgebaut wie im Hemshof oder Videokameras installiert wie in den meisten ‚Problemvierteln‘.
„Viele Begegnungsorte und der rege Betrieb haben uns beeindruckt“
Für die Stipendiat:innen ist also klar, dass nicht die Nordstadt als Viertel das Problem ist, das Müll vor Haustüren, Trinker-Runden auf Plätzen und Kriminalität in der Nacht hervorbringt und pauschal ihre Bewohner:innen mit zum Problem macht, sondern es sind soziale Hintergründe wie Armut oder mangelnde Bildungsmöglichkeiten. Stadtpolitik sollte dann auch nicht mehr über die materielle Umgestaltung des Raumes antworten.
Da gerade durch die Tour mit den Nordstadtbloggern viele Begegnungsorte erkundet wurden und der rege Betrieb im öffentlichen Raum beeindruckte, können wir als Exkursionsleitung nur warnen: gar nicht erst über den Abbau von Sitzbänken nachdenken – es wäre zugleich ein Abbau der Stadt selbst mit ihrer zentralen Funktion der Begegnung.
Die Begegnung mit der Nordstadt, ihrer besonderen Stimmung und den herzlichen Menschen wird uns nachhaltig in Erinnerung bleiben.