Von Claus Stille
Kürzlich erschien Aladin El-Mafaalanis neues Buch „Mythos Bildung – Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft“. Grund genug für ein „Talk im DKH“, bei dem der Soziologe Aladin El-Mafaalani ausnahmsweise nicht als Moderator, sondern selbst als Referent auftrat. Es moderierte die künftige Intendantin des Dortmunder Schauspiels, Julia Wissert, die ihre Aufgabe glänzend meisterte.
Aladin El-Mafaalani geht es in Sachen Bildung um das Machbare und real Umsetzbare
In seinem neuen Buch analysiert Aladin El-Mafaalani aus unterschiedlichen Perspektiven die Probleme und paradoxen Effekte des Bildungssystems, seine Dynamik und seine Trägheit.
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Eine umfassende Diagnose, ein Plädoyer dafür, soziale Ungleichheit im Bildungswesen endlich in den Fokus der Bildungspolitik und Bildungspraxis zu rücken, und zugleich eine Absage an Visionen und Revolutionen.
Es gehe ihm darum zu tun, was jetzt wichtig und realistisch ist. Vor Reformen, bekannte El-Mafaalani, habe er Angst. Während seiner Arbeit im NRW-Integrationsministerium habe er die Erfahrung gemacht, wie zunächst gut ausgedachte Reformen letztlich zerredet und zusammengedampft würden. Um das wirklich durchzukämpfen – bis dahin „haben wir den Kommunismus in Reinform“, so El-Mafaalani. Man müsse sich hingegen vielmehr dem Machbarem und real Umsetzbarem widmen.
Zu Beginn wurde eine Schweigeminute für die Opfer des Anschlags von Hanau eingelegt
Bevor der Talk begann, nahm Levent Arslan (Leiter Dietrich-Keuning-Haus) Bezug zum schrecklichen Anschlag von Hanau. „Gerade jetzt ist der Austausch wichtig – nicht nur jetzt, sondern fortwährend“, postulierte Arslan.
Er wies u.a. auf den nächsten „Talk im DKH“ am 3. April dieses Jahres unter dem Titel „Was tun gegen Hass und Gewalt?“ zum Jahrestag des NSU-Mordanschlags in Dortmund auf Mehmet Kubaşık am 4. April 2006 hin.
Referent ist der Journalist Michel Friedman. Der „Talk im DKH“ leiste von jeher einen wichtigen Beitrag zum Austausch, so Levent Arsan. Man müsse jedoch gleichzeitig konstatieren, „dass die Gegenseite sehr stark ist“. Das zahlreich erschienene Publikum erhob sich zu einer Schweigeminute für die Opfer des Anschlags von Hanau.
Premiere für Moderatorin Julia Wissert – glänzend bestanden
Dann der der Auftritt von Moderatorin Julia Wissert – ihre Premiere beim „Talk im DKH“. Sie bekannte, sie habe eine „ganz, ganz schlimme Bühnenangst“ – ein Grund dafür, dass sie Regisseurin und nicht Schauspielerin geworden sei.
Es mache schon sehr nervös, ihre Wasserflasche auf der Bühne zu öffnen. Ganz Kavalier, sprang Referent Aladin El-Mafaalani auf, um die Flasche der Moderatorin zu öffnen. Was auch gelang, der Verschluss jedoch zu Boden fiel. Julia Wissert: „Spannungsbogen.“ Nun ja …Um es schon einmal vorwegzunehmen: Julia Wissert meisterte die Moderation dieses Talks ganz, ganz glänzend.
Julia Wisserts kleines Experiment mit dem Publikum als Einstimmung
Ihre Aufgabe als Regisseurin, so Julia Wissert, sei es, Geschichten zu erzählen. Ein Teil des Jobs sei auch erwachsene Menschen dazu zu bringen, sich Dinge vorzustellen, zu spielen und zu träumen. Dessen eingedenk bat Wissert die Zuhörer*innen, kurz ihre Augen zu schließen.
Die Gäste sollten versuchen, sich an einen der ersten Momente, als sie etwas gelernt hatten, zu erinnern und ihn sich vorzustellen. Einen schönen Moment, wo sie Bildung erlebt hatten. In der Kita, im Kindergarten, in der Grundschule, im Heim, zuhause. Dann sollten die Leute darüber nachdenken, was das Schöne im Moment ausgemacht habe und wie die Rahmenbedingungen gewesen seien u.s.w.
Dann sollten die Menschen gedanklich auf einen Moment springen, wo sie sich gewünscht hätten, sie hätten eine Möglichkeit gehabt, zu lernen, sich weiter- oder fortzubilden. Oder sich einen Moment erinnern, wo sie sich vielleicht gegen etwas entschieden hätten. Sie sollten sich daran erinnern, was nötig gewesen wäre, diesen Schritt entweder zu gehen oder auch nicht. Dann sollten die Menschen sich noch an einen Moment erinnern, wo sie eine schlechte Erfahrung in einem Bildungskontext gemacht hätten. Anschließend sollten sie die Augen wieder öffnen.
Julia Wissert: „Ein liebevoller, kritischer Blick auf ein Bildungssystem, in dem auch ich sozialisiert wurde.“
Julia Wissert: „All das, was ich jetzt mit Ihnen gemacht habe, ist im Grunde bei mir passiert, als ich dieses Buch gelesen habe.“ Aladin El-Mafaalani habe ein Buch geschrieben, „das ein liebevoller, kritischer Blick auf ein Bildungssystem ist, in welchem auch ich sozialisiert wurde“.
Das Buch zu lesen, habe sie „wahnsinnig wütend und traurig gemacht und genervt und gestresst.“ Sie habe nach dessen Lektüre vieles für sich anders beleuchten müssen. Und sie habe sich an eine Situation erinnert, die sie in einer kleinen Ortschaft in Baden-Württemberg erlebt habe, wo sie herkomme. Es sei um die Empfehlungen für die weiterführenden Schulen gegangen.
Unverhofft habe es viele Gymnasialempfehlungen gegeben. Sie habe sich an einen Jungen aus ihrem Ort erinnert, der zu Fastnacht mit einem Gespensterkostüm (einem Bettlaken mit ausgeschnittenen Augen) in die Schule kam. Das simpelste Kostüm in der Schule.
Das neue Buch ergänzt gewissermaßen sein Buch „Das Integrationsparadox“.
Er hatte einen Armutshintergrund. Die Lehrer*innen empfahlen für ihn den Gang auf die Hauptschule. Sie wussten nichts von den Begabungen des Jungen: er baute fast jeden Tag Autos und Konstruktionen, die funktionierten. Was eigentlich, nach dem Julia Wissert El-Mafaalanis Buch gelesen haben, auf eine Hochbegabung hindeute.
An diesem Abend kennzeichnete Julia Wissert Aladin El-Mafaalani als einen liebevollen, konstruktiven Wissenschaftler. Er sei nämlich immer um Lösungen von Problemen bemüht. Nie sei er zynisch oder polemisch.
Beim Schreiben hat er sich seine Tochter als Leserin vorgestellt
Aladin El-Mafaalani selbst sieht sein neues Buch im Grunde als Fortsetzung bzw. Ergänzung seines vorhergehenden Buches „Das Integrationsparadox“. Er sei durch seine Herkunft sehr privilegiert gewesen. Zwei Mitschüler – ohne Migrationshintergrund – hätten ihm, der damals noch nicht gut Deutsch gesprochen habe, viel Unterstützung in der Schule gegeben.
Seines Erachtens seien sie talentierter als er gewesen. Auf dem Gymnasium seien sie aber nicht gelandet. El-Mafaalani: „Die haben beide heute schwierige Lebenssituationen.“ Beim Schreiben des neuen Buches habe El-Mafaalani sich seine Tochter als Leserin vorgestellt. Was die Herausforderung mit sich gebracht habe, „dass man sehr komplexe Dinge sehr einfach formulieren muss“.
El-Mafaalani: Heute ist Situation „dramatisch schlimmer“
Die Metapher vom Tisch (in „Das Integrationsparadox“), an welchem im Laufe der Jahrzehnte halt immer mehr Menschen Platz genommen haben, die zuvor am Boden gesessen hätten, schreibt das neue Buch fort. Jetzt sei die Situation „dramatisch schlimmer“. Zwar säßen weniger Menschen am Boden. Nur diese hätten zugesehen, wie immer mehr Menschen an den Tisch gegangen seien. Nur sie säßen nun noch immer am Boden.
„Es gibt nichts schlimmeres, was Menschen erleben können“, machte der Autor deutlich. Die Leute am Tisch erzählten die Geschichte: „Guck, sogar ’ne Julia Wissert schafft’s und so’n Aladin El-Maffaalani. Wer jetzt noch auf dem Boden sitzt, ist selber schuld.“
Man beobachte eine zunehmende Resignation. Dabei, meinte El-Mafaalani, habe sich das Lebensniveau der untersten Schichten der Gesellschaft „nicht wesentlich verschlechtert.“ Unten hätten die Menschen resigniert. Und die, die nicht resignieren wollen, entwickelten eine „parallelgesellschaftliche Solidarität“.
Am meisten benachteiligte Kinder wüchsen in „resigniertem Milieu“ auf. El-Mafaalani gab zu bedenken: „Wenn wir jetzt nichts tun, haben wir in 20 Jahren Erwachsene , wo wir im Bildungssystem nicht interveniert haben.“ Menschen, die in einem resignierten oder parallelgesellschaftlichen Milieu aufgewachsen sind. Weshalb jetzt gehandelt werden müsse.
Wenn der Bildungsaufstieg gleich unwahrscheinlich ist: „Es scheint also an der Klasse zu liegen – Unterschicht bzw. Unterklasse.“
Migranteneltern schützten ihr Kind, wollten, dass es erfolgreich wird. Sie zögen das Kind, es bleibe aber so. Nichtmigranteneltern hätten kaum diese Erwartungshaltungen. Sie schützen nicht und zögen nicht. Das Ergebnis in beiden Fällen sei gleich:
Man bleibt am gleichen Punkt stehen. Nur die eine Person werde durchgeschüttelt und bleibt stehen und die andere Person wird in Ruhe gelassen. El-Mafaalani befand stolz auf sich: „Dieses Bild ist ziemlich genial. Bin selbst drauf gekommen.“ Der Bildungsaufstieg sei gleich unwahrscheinlich: „Es scheint also an der Klasse zu liegen – Unterschicht bzw. Unterklasse.“
Interessante Publikumsfragerunde mit guten Vorschlägen und Anregungen
In der Publikumsfragerunde wurden sehr interessante Fragen, das Bildungssystem und die Lehrer*innen betreffend, gestellt. Und auch darüber hinaus wurden kluge Vorschläge gemacht oder Anregungen gegeben. Die Menschen sprachen über eigene Erfahrungen im Bildungssystem.
Aladin El-Mafaalani, einstmals sechs Jahr lang Grundschullehrer, befand: „Wir müssen Elternarbeit machen.“ Aber er hatte später aus eigener Ansicht als Wissenschaftler beim Hospitieren in Klassen mit Scham erkannt: „Die schlechteste Profession, um Elternarbeit zu machen, sind Lehrerinnen und Lehrer.“
Als gutes Beispiel nannte El-Mafaalani das Bildungssystem der Skandinavier. Das zu vervollkommnen habe aber 20 Jahre und mehr gebraucht. An den Schulen seien im Vergleich zu Deutschland zehnmal so viele Nichtlehrkräfte tätig. Die da wären: Ärzte, Krankenschwestern, Psychologen, Sonderpädagogen, „richtige Hausmeister, gut bezahlt“. Und die Schulen hätten Zugang zu KünstlerInnen u.v.a.m.
Die Bemühungen des Autors sind an die schwächsten in der Gesellschaft adressiert
Des Weiteren wurde über eine Verlängerung des gemeinsamen Lernens und die Vor- und Nachteile von Waldorf-Schulen diskutiert. El-Mafaalani fände es eine Überlegung Wert, das Gute aus beiden Schulformen zu verbinden.
El-Mafaalani: „Wenn wir in den heutigen Schulen – wie sie derzeit ausgestattet sind – die Noten und das Selektieren abschaffen, dann entsteht Chaos.“ Diese Äußerung zog einen kleinen Eklat nach sich: Aus den hinteren Reihen buhte ein Herr lautstark. Und pöbelte brüllend: „Das macht die Kinder kaputt!“ Er sei neun Jahre auf dem Gymnasium gewesen und krank geworden. „Und Du willst das abschaffen?! El-Mafaalani beteuerte daraufhin: „Ich will’s nicht abschaffen.“
Ein interessanter und erkenntnisreicher „Talk im DKH“ mit dem Soziologen Aladin El-Mafaalani war das. Er stellte fest: Er habe übrigens ab dem Alter von drei Jahren (im Kindergarten) bis heute – mit einem Ausflug in ein Ministerium – quasi sein ganzes bisheriges Leben im deutschen Bildungssystem verbracht. Sein Bemühen adressiere er an die Schwächsten in der Gesellschaft. Im Anschluss an die Buchvorstellung gab es die Möglichkeit zur Diskussion sowie einen Büchertisch und eine Signierstunde.
Zu seinem Buch hat Aladin El-Mafaalani Folgendes zu sagen:
„Mit Bildung löst man kein einziges der großen gesellschaftlichen Probleme, etwa die vielen offenen Fragen der Digitalisierung, den fortschreitenden Klimawandel oder den Umgang mit globaler Migration. Selbst die aufgeheizte gesellschaftliche Stimmung oder die Konzentration von Problemlagen in bestimmten Stadtteilen wird sich durch eine Ausweitung und Aufwertung von Bildungsinstitutionen nicht abschwächen.
Es geht um eine Verringerung von Chancenungleichheit, um die Erweiterung von Erfahrungshorizonten und Zukunftsperspektiven für alle Kinder und um die Vorbereitung der nächsten Generationen auf die unbekannten Herausforderungen einer zunehmend komplexer werdenden Gesellschaft. Nur darum geht es. Nicht mehr und nicht weniger.“
Weitere Informationen:
Die nächsten Termine vom „Talk im DKH“
- 03. April 2020: Michel Friedman (Journalist, Publizist, Jurist, Politiker)
„Was tun gegen Hass und Gewalt? Zum Jahrestag des NSU-Anschlags in Dortmund. - 19. Juni 2020: Kübra Gümüşay (Bloggerin, Journalistin) mit ihrem neuen Buch „Sprache und Sein“
- Hinweis auf eine wichtige Ausstellung, die derzeit im DKH zu sehen ist: „Im Rechten Licht“: Fotoausstellung im DKH dokumentiert die rechte Szene in NRW. Die Kölner Künstlerin und Fotografin Karin Richert hat zehn Jahre lang, von 2005 bis 2015, die rechtsgerichtete Szene in NRW mit ihrer Kamera beobachtet und dokumentiert. Vom 7. bis 27. Februar sind ihre Bilder in der Galerie im Dietrich-Keuning-Haus (Leopoldstr. 50-58) ausgestellt.
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Reader Comments
Ursula Maria Wartmann
Sehr informative und detaillierte Zusammenfassung – danke dafür. Der „Talk im DKH“ ist ein absolut wichtiges und bereicherndes Format in einer Stadt, der immer wieder reichlich Wind aus der rechten Ecke entgegen bläst. Wie sehr so etwas hier und heute gebraucht und angenommen wird, zeigt die Zahl der Gäste. Gut so. Weiter so!